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Kapitel 2 – Ernste Gespräche
ОглавлениеEs war eine harte Woche, aber auch eine Gute.
Jenny meisterte ihre Nachtdienste mit Bravour und schon war ihr letzter Arbeitstag vor dem Urlaub geschafft und sie stand vor ihrem Kleiderschrank, um ihre Tasche zu packen.
Als sie ein kurzes Strandkleid aus dem Schrank zog, musste sie daran denken, wie sie vor einem Jahr für die Juni-Reise gepackt hatte. Florian hatte auf ihrem Bett gesessen und auf seinem Tablet irgendeine Wissenschaftsdoku gesehen. Sie sah ihn förmlich vor sich. Seine schwarzen, kurzen Locken in die Hand gestützt, seine Augen konzentriert hinter der schwarzen Brille. Die Haare waren ein Erbe seiner Großmutter mütterlicherseits. Einer Brasilianerin, die ihrer großen Liebe nach Deutschland gefolgt war. Auch Florians Schwester Sophie und ihrer Tochter Emilia hatten die dunklen Locken geerbt.
Jenny hatte Florian leicht rütteln müssen, um seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dann hatte sie ihm das Minikleidchen hingehalten und gefragt, ob sie es mitnehmen solle. Er hatte gelacht und gesagt, wenn sie nicht irgendwelche Typen aufreißen wolle, würde sie es nicht brauchen.
Florian war nie ein eifersüchtiger Freund gewesen. Schon vor ihrer Trennung hatten er und Jenny nicht allzu viel Zeit miteinander verbracht. Sie waren keines dieser Pärchen gewesen, die fortwährend zusammen sein mussten. Seit sie die Uni verlassen hatten, hatten sie sich nur noch an den Wochenenden gesehen. Ihre Berufe ließen es kaum zu, sich abends zu verabreden. Jenny war mit ihrem Job als Assistenzärztin eigentlich ständig überlastet und Florian musste für seine Pharmafirma neben seiner normalen Arbeit eine Fortbildung nach der anderen besuchen.
Aber Anouk hatte Recht, sobald die Rede auf Chris gekommen war, hatte Florian immer ungewöhnlich heftig reagiert. Dabei hatten sich die beiden Männer nur zweimal getroffen.
Auf einer Silvesterparty und bei einer Galerieeröffnung, die Anouk organisiert hatte. Florian hatte kein gutes Haar an Chris gelassen und sich furchtbar über seine schlechten Manieren aufgeregt. Jenny hatte Chris verteidigt und sie hatten einen Riesen-Krach deshalb gehabt.
Jenny legte seufzend das Kleid in den Schrank zurück und suchte ihr Schwimmzeug heraus. In der Nähe des Bauernhauses lag ein wunderschöner Badesee. Eigentlich war es noch zu kalt zum Schwimmen, aber zum Sonnen war es sicher schon warm genug. Dann steckte sie noch die üblichen Jeans und Shirts ein und zog den Reißverschluss der Tasche zu.
Jenny hatte die Hoffnung in den letzten Tagen fast aufgegeben, dass Chris tatsächlich auftauchen würde. Anouk hatte ihn nicht mehr erwähnt. Die Freundinnen hatten sich seit dem Abend in der Spreebar nicht mehr gesehen. Immerhin hatte Anouk schon Urlaub und war für ein paar Tage zu ihrer Familie nach Hamburg gefahren. Durch Jennys Nachtdienste hatten die beiden kaum Gelegenheit gehabt, miteinander zu telefonieren.
Da Anouk kein Auto hatte, wollte Jenny ihre Freundin auf dem Weg zum Bauernhaus am Schweriner Bahnhof abholen. Der Rest der Gang würde erst einen Tag später kommen - ihr Ex Florian und seiner Freundin Kessy ebenfalls mit dem Auto, die anderen mit dem Zug.
Jenny fühlte sich seltsam, als sie wenig später mit ihrer Tasche in ihr Auto stieg. Einerseits konnte das natürlich daran liegen, dass sie in der Woche so unregelmäßig geschlafen hatte. Aber wenn Jenny ehrlich war, gab es dafür nur einen Grund: die minimale Möglichkeit, dass Chris gleich mit Anouk am Bahnhof stehen würde.
Deshalb hatte Jenny ihren ganzen Kleiderschrank auf den Kopf gestellt, um die passenden Klamotten für die Autofahrt zu finden. Am liebsten hätte sie einfach ihren weißen Ärztekittel angezogen. Sie liebte diese weißen Baumwollmäntelchen, die einem jede modische Entscheidung komplett abnahmen. Da der Kittel als Freizeit-Outfit aber nicht in Frage kam, hatte sich Jenny für ein schwarzes Tanktop und eine lindgrüne Cargohose und Sandalen entschieden. Ihre glatten Haare hatte sie so lange mit dem Lockenstab bearbeitet, bis sie sich über ihre Schultern wellten, als hätte die Natur es so vorgesehen. In der Sonne schimmerten sie goldbraun. Ihre Augen waren dezent schwarz umrandet, die Augenlider glänzten in mattiertem Silber.
Bei ihrem Aufbruch war Jenny noch zufrieden mit ihrem Aussehen gewesen, aber je näher Schwerin rückte, desto mehr verfluchte sie ihren Look. Sah sie nicht eher aus, als würde sie einen Wandertrip durch die Berge machen? Sie wollte sich gar nicht ausmalen, was Anouk für die Reise anziehen würde.
Aber egal. Chris würde ja doch nicht da sein, beruhigte sie sich.
Als Jenny an der Ausfahrt Schwerin-Zentrum den Blinker ihres lila Fiat Pandas setzte, hätte sie sich am liebsten an der nächsten Tankstelle umgezogen. Nur der Umstand, dass sie ohnehin nichts Besseres in ihrer Tasche hatte, hielt sie ab. Als sie den Bahnhof am Ende der Straße auftauchen sah, spielte ihr Herz komplett verrückt. Sie brauchte Chris nicht erst zu sehen.
Sie wusste plötzlich, dass sie gleich ihrer Jugendliebe gegenüberstehen würde.
***
Jennys Herz hatte sich nicht getäuscht. Anouk und Chris standen auf dem Bahnhofsvorplatz in der Sonne. Sie hatten ihre Taschen abgestellt, hielten jeder einen Kaffeebecher in der Hand und lachten über irgendetwas, als Jenny auf den Haltestreifen fuhr. Sie war zwanzig Meter von ihnen entfernt und die beiden hatten noch keine Notiz von ihrem Auto genommen. Das gab Jenny einen Moment Zeit, sich von ihrem Gefühlscocktail aus Schock und überschäumender Freude zu erholen.
Sie griff mit zitternden Fingern nach ihrer Sonnenbrille – die würde ihr wenigstens einen gewissen Schutz geben. Dann betrachtete sie die beiden Stiefgeschwister, bevor sie ausstieg. Anouk trug ein kurzes Sixties-Kleid mit schwarz-weißen Karos und dazu wie so oft hochhackige Riemchensandalen. Ihr Gesicht wurde von einer großen, schwarzen Sonnenbrille verdeckt, die ihren platinblonden Kurzhaarschnitt nur noch mehr betonte. Ihre Lippen waren das einzig farbige an ihr: glutrot leuchteten sie in der Sonne. Erst dann wanderte Jennys Blick verstohlen zu Chris. Er sah genauso aus, wie auf dem Cover der CD. Ausgeblichene Jeans, dazu ein schwarzes T-Shirt mit buntem Aufdruck - wahrscheinlich von irgendeiner coolen Band, von der Jenny noch nie gehört hatte. Seine von der Sonne gebleichten Haare fielen ihm in die Stirn. Die beiden sahen aus, als hätten sie gerade einen Calvin-Klein-Werbespot abgedreht. Jennys Selbstbewusstsein schnurrte zusammen wie ein Ballon, dem die Luft entweicht. Innerhalb von Minuten war sie wieder die unsichere Dreizehnjährige, die alles dafür gegeben hätte, einmal so cool zu sein wie diese beiden.
Sie sah wie in Zeitlupe, dass Anouks Kopf sich drehte. Die Schonzeit war vorbei. Anouk hatte ihr Auto entdeckt und die beiden griffen nach ihren Taschen und kamen auf sie zugeschlendert. Mit weichen Knien stieg Jenny aus ihrem Auto.
„Na, da bist du ja endlich“, begrüßte Anouk ihre Freundin und umarmte sie, als sie bei ihr angekommen war. „Sonst bist du doch immer oberpünktlich. Wir dachten schon, du lässt uns sitzen.“
Jetzt hatte auch Chris den Haltestreifen erreicht und blieb vor Jenny stehen, unschlüssig, ob er sie ebenfalls umarmen sollte. „Hi.“
„Hey, trauriger Cowboy“, sagte sie mit einem kleinen Lächeln.
Er gab sich einen Ruck und zog Jenny kurz an sich. „Hallo, Frau Doktor Bergmann.“
Ein absurdes Glücksgefühl breitete sich in Jenny aus, weil er ihren Nachnamen noch wusste. Außerdem hatte er mitbekommen, dass sie ihr Studium erfolgreich abgeschlossen hatte. Jenny war einen knappen Kopf kleiner als Chris und sie konnte kurz sein raues Kinn an ihrer Stirn spüren, als sie sich voneinander lösten. Er roch nach Duschgel und Kaffee.
Es war schon fünf Uhr nachmittags. Wenn sie vor Anbruch der Dunkelheit bei ihrem Häuschen sein wollten, mussten sie sich beeilen. Jenny öffnete den Kofferraum und Anouk und Chris warfen ihre Taschen und Jacken hinein.
„Ist richtig warm in Deutschland“, stellte Chris fest.
„Ja“, antwortete Jenny und zerbrach sich den Kopf, was sie als nächstes sagen konnte. Sie konnte es immer noch nicht fassen, dass sie wirklich neben ihm stand. „Und du willst also wirklich mit uns ins Bauernhaus fahren?“, fragte sie schließlich, um überhaupt etwas zu sagen.
Er nickte. „Ich war schon ewig da. Endlich mal wieder schwimmen.“
„Du bist doch in England ständig von der Nordsee umgeben“, erwiderte Jenny mit einem leichten Kopfschütteln.
„Ich war dieses Jahr trotzdem noch nicht ein einziges Mal am Strand.“
Das war ja schon fast ein Gespräch! Jenny entspannte sich etwas. „Kein Wunder. Ihr seid ja im Moment auch total erfolgreich.“
Er nickte. „Ja, irgendwie schon.“
Komisch. Irrte sie sich oder sah er ein bisschen traurig aus? Jenny konnte nicht weiter nachbohren, denn Anouk drängte sich zwischen die beiden. „Kann ich vielleicht fahren?“, wandte sie sich mit einem Augenaufschlag an Jenny. „Du weißt doch, dass ich in so kleinen Autos nicht hinten sitzen kann. Mir wird da immer total übel.“
Nach Jennys Beobachtung hatte Anouk eine sehr angenehme Form der Reisekrankheit: sie schien immer dann aufzutauchen, wenn es gerade passte. Jenny überlegte kurz, wie sie reagieren sollte. Aber sie hatte keine Lust, in ihrem eigenen Auto hinten zu sitzen.
„Ich fahre“, sagte sie deshalb und schob die Freundin sanft zur Seite. „Ihr könnt euch einigen, wo ihr sitzt.“
Chris lachte. „Na, bevor unserer Prinzessin schlecht wird“, sagte er gutmütig und öffnete die hintere Tür. „Hauptsache, wir hören nicht die Spicegirls.“
Wie auf Kommando fingen Jenny und Anouk an, den Song 'Wannabe' zu singen und setzten sich lachend auf die Vordersitze. Chris hielt sich die Ohren zu und Jenny ließ immer noch singend den Wagen an. Es fühlte sich an wie vor ewigen Zeiten, als Chris von seinem Vater den alten Mercedes bekommen hatte und sie am Wochenende zu dritt kleine Spritztouren unternommen hatten.
Auf der Autobahn legten Anouk eine CD ein und Chris lehnte sich zurück, ohne sich am Gespräch zu beteiligen. Im Rückspiegel sah Jenny irgendwann, dass er den Kopf nach hinten gelehnt hatte. Sie konnte seine Augen hinter der Sonnenbrille nicht sehen, aber alles an seiner Körperhaltung sprach dafür, dass er sie geschlossen hatte.
Jenny wandte sich an Anouk, die aus den Sandalen geschlüpft war und ihre zierlichen Füße mit den dunkelroten Nägeln am Handschuhfach abstützte. „Und? Was hast du letzte Woche so gemacht?“
„Ach, das Übliche“, antwortete Anouk. „Ich war mit meiner Mutter auf einer Filmpremiere, wir haben kurz bei einer Vernissage reingeschaut - ein grauenhafter Künstler! - und ansonsten habe ich an meiner Mappe gearbeitet.“
Jenny warf ihr einen überraschten Blick zu. Das Thema Mappe und eigene Kunst war eigentlich ein Tabuthema zwischen ihnen.
Anouk war mit großen Plänen an die Kunsthochschule in Berlin gekommen. Aber sie hatte sich dort nicht ausreichend gefördert gefühlt und das Studium abgebrochen. Sie hatte es nicht wirklich verwunden, dass sie sich trotz der Unterstützung ihrer Eltern mit ihren Bildern nicht hatte durchsetzten können. Sie machte schräge Kohlezeichnungen mit geometrischen Formen, die einen gewissen, morbiden Charme hatten. Als sich abzeichnete, dass sie in der Berliner Kunstszene nicht Fuß fassen konnte, hatte ihr Vater ihr den Job in einer Galerie besorgt. Anouk machte ihren Job hervorragend und war inzwischen zur Geschäftsführerin aufgestiegen. Doch selbst das schien sie nicht wirklich zufrieden zu stellen.
„Ich wusste gar nicht, dass du wieder etwas planst“, erwiderte Jenny vorsichtig, aber offenbar war Anouk nicht bereit, das Thema zu vertiefen.
Stattdessen streckte sie sich wie eine Katze. „Du weißt ja, wie meine Mutter ist. Wir haben ein bisschen zu viel Gras geraucht und ich bin mit ihr den neuen Text für einen Film durchgegangen.“
„Und wie lange warst du in Hamburg?“, fragte Jenny nach hinten.
„Meinst du mich?“, kam es vom Rücksitz, dann tauchte Chris Kopf zwischen den Lehnen der Vordersitze auf.
Jenny warf ihm einen kurzen Seitenblick zu und lächelte. „Ja, ich hab dich gefragt, wie lange du schon in Hamburg bist.“
„Ich bin gestern Abend erst angekommen. Wir haben vorgestern in Holland auf einem Festival gespielt. Die anderen Jungs sind schon wieder zurück nach London geflogen.“
Er blieb vorgerückt in der Mitte der Rückbank sitzen. „Und du hast im Krankenhaus noch ein paar Leben gerettet?“, fragte er dann und zog Jenny leicht an einer leicht gelockten Strähne.
Das Ziehen ging ihr durch den ganzen Körper und ein albernes Lachen stieg in ihrer Kehle hoch. Sie hatte sich schon ewig nicht mehr so lebendig gefühlt. Sie konnte es kaum glauben. Sie saßen hier im Auto, fuhren in den Urlaub und führten normale Gespräche, als würde Chris immer noch zu ihrem Leben gehören. Was für ein Paralleluniversum.
„Na ja, Gott sei Dank geht es auf unserer Kinderstation nicht oft um Leben und Tod. Blinddarm, Mandeln und diverse Infektionen – das ist das Tagesgeschäft.“
„Wahnsinn, dass die kleine Jenny wirklich Ärztin geworden ist, was?“ wandte sich Chris an seine Stiefschwester.
Anouk gab ein unverständliches Brummeln von sich, dann setzte sie ihre Sonnenbrille ab und drehte sich halb zu Chris um. „Ich hab dir noch gar nicht von Jennys großem Urlaubsplan erzählt“, begann sie, ohne seine Frage zu beantworten. „Du erinnerst dich doch noch an ihren Freund?“
„Florian?“, fragte er.
Wieder hüpfte Jennys Herz auf und ab, weil sich Chris den Namen ihres Freundes gemerkt hatte. Das würde er doch nicht wissen, wenn sie ihm total gleichgültig wäre, oder? Jetzt nicht ausflippen, ermahnte Jenny sich. Sie konzentrierte sich wieder auf Anouk. Warum fragte sie Chris, ob er sich an Florian erinnerte?
„Genau“, bestätigte Anouk jetzt und ihr Grinsen verhieß nichts Gutes.
„Ex-Freund“, mischte sich Jenny in das Gespräch ein. „Florian und ich haben uns vor einer Weile getrennt.“ Es war, als hinge ihr Leben davon ab, dass Chris diese Information wirklich verstand.
„Vielleicht ja nicht mehr lange.“ Anouk drehte sich jetzt ganz nach hinten. „Jenny hat Florian abserviert, weil er ihr keinen Heiratsantrag gemacht hat. Seit Florian sich eine Neue gesucht hat, ist er auf einmal wieder hochinteressant.“
„So ein Schwachsinn“, entfuhr es Jenny heftig. „Das habe ich nie gesagt.“
„Das hörte sich aber vor einer Woche noch ganz anders an.“ Anouk schüttelte den Kopf. „Wir sind doch unter uns, Jenny. Chris ist Familie, der kann das doch ruhig wissen. Dann weiß er wenigstens, was Sache ist, wenn du mit ihm flirtest, um deinen Flori-Schatzi eifersüchtig zu machen.“
Hitze schoss Jenny ins Gesicht. „Was soll das, Anni?“, fragte sie wütend. „Ich will Florian nicht zurück.“ Verdammt, warum musste Anouk nur immer so sein wie sie war. Jetzt konnte Jenny machen, was sie wollte: Chris würde denken, sie wollte nur ihren Ex-Freund zurückgewinnen.
„Na gut, du musst es ja wissen.“ Anouk hob abwehrend die Hände, sah sie aber gleichzeitig an wie eine arme Irre. „Ich habe nichts gesagt.“
„Warum habt ihr euch denn getrennt?“, fragte Chris und wieder war Jenny erstaunt, dass er mit ihr ein ganz normales Gespräch führte. Vielleicht hatte sie ihn in der Vergangenheit zu selten nüchtern gesehen, aber er wirkte so anders als früher. Bodenständig, geerdet. Erwachsen? Er war ja auch über dreißig.
„Wir sind immer noch gute Freunde“, erklärte Jenny ihm. „Aber … wir haben uns auseinandergelebt.“
„Mein Theorie dazu?“, fragte Anouk.
„Nein“, antwortete Jenny scharf, aber ihr war klar, dass sich Anouk nicht aufhalten lassen würde.
„Sie wollte Kinder, er noch nicht“, erklärte Anouk an Chris gewandt.
Jetzt war Jenny wirklich sauer. Natürlich, die kleine, spießige Jennifer will heiraten. Das passte ja auch so gut ins Bild. „Und wenn es so wäre?“, fragte sie bissig. „Normale Menschen tun so etwas. Sich verlieben, heiraten, Kinder kriegen. Auch wenn ihr beide natürlich zu cool für so was seid.“
Jetzt waren die Fronten wieder geklärt. Die coolen Kids auf der einen Seite, die Spießer auf der anderen. Jenny umklammerte das Lenkrad so fest, dass ihre Knöchel weiß wurden.
Die Stimmung im Auto hatte sich verändert. Anouk verschränkte die Beine zum Schneidersitz. „Siehst du? Du willst diesen ganzen bürgerlichen Quatsch, also hatte ich doch Recht“, sagte sie spitz. „Dann solltest du dir deinen Florian zurückholen. Einen besseren Kandidaten für dein Familienprojekt wirst du nicht auftreiben können.“
Chris lachte leise und das zerriss Jenny das Herz. Wieder war er auf Anouks Seite. Schon immer. Bitteschön. Sollte er doch denken, dass sie hinter ihrem Ex-Freund her war. Immer noch besser, als wenn er herausfinden würde, dass er der verdammte Mann ihrer Träume war.
„Vielleicht hast du Recht“, sagte Jenny und zwang sich zu einem Lächeln.
„Und bei diesem Vorhaben könnte Chris dir doch ein bisschen helfen“, setzte Anouk hinzu, jetzt wieder ganz die fürsorgliche Freundin.
„Im Gegensatz zu dem Ruf, der mir offenbar vorauseilt, bin ich kein wirklich guter Hochzeitsplaner“, scherzte Chris von hinten.
„Ihr könnt so tun, als hättet ihr was miteinander“, erklärte Anouk ihren Plan. „Wie ich Florian kenne, hat er seine Candy in die Wüste geschickt, bevor du auch nur in die Nähe von Jennys Bett kommst.“ Sie grinste zufrieden.
„Kessy. Sie heißt Kessy und nicht Candy“, war das Einzige, was Jenny spontan zu diesem bescheuerten Plan einfiel.
„Tja, dafür bin ich dann natürlich bestens geeignet“, sagte Chris trocken. „Im Leute nerven bin ich ganz große Klasse.“
„Dann ist es beschlossene Sache.“ Anouk kramte im Handschuhfach nach einer neuen CD. Offenbar war das Gespräch für sie beendet. „Operation Hochzeit kann beginnen“, setzte sie dann noch hinzu. Daraufhin brachen sie und Chris in Gelächter aus.
Jenny musste schwer schlucken. Es war wie früher. Die beiden waren eine Front und sie war der Trottel, über den sie lachten. Doch zumindest heute gefiel ihr der Plan gar nicht mal schlecht. Oder zumindest die Aussicht mit Chris hemmungslos zu flirten.
„Ihr spinnt doch“, sagte sie kopfschüttelnd und drehte die Musik ein bisschen lauter. „Was für eine bescheuerte Idee.“
***
Für den Rest der Fahrt ließen sie das Thema Florian fallen, hörten Musik und redeten über die kommende Woche. Chris war vor Jahren zuletzt in dem Ferienhaus gewesen und schien sich wirklich auf ein paar ruhige Tage zu freuen. Jenny hätte ihm gerne tausend Fragen gestellt:
Wie es dazu gekommen war, dass eine so bekannte Band wie die 'Sad Cowboys' ihn als Gitarristen engagiert hatte?
Was aus seiner eigenen Band und seinen eigenen Songs geworden war?
Wie er mit den anderen Jungs klarkam?
Wie er in London so lebte und ob er eine Freundin hatte?
Aber sie hatte Angst, schon wieder ausgelacht zu werden. Deshalb redete sie nur noch das Nötigste und schließlich lehnte sich Chris wieder auf seinem Sitz zurück und schloss die Augen.
Als Jenny von der Landstraße in den kleinen Waldweg einbog, der zum Haus führte, hatte sich entspanntes Schweigen ausgebreitet. Trotz der vielen ungeklärten Fragen und der ungewohnten Gegenwart von Chris war Jenny glücklich, dass sie endlich wieder hier waren.
Das alte Bauernhaus mit dem großen Grundstück lag malerisch zwischen einem Wäldchen und ein paar Wiesen und Feldern. Anouks Mutter hatte zwar die Grundstubstanz des alten Gebäudes erhalten, aber alles komplett renovieren lassen. Im Erdgeschoss befand sich ein riesiges, offenes Wohnzimmer, das in eine große Küche überging. Die Schlafzimmer befanden sich im oberen Stockwerk. Hinter dem Haus lag eine gemütliche Terrasse, umgeben von einem traumhaften Garten.
Mit ihren Taschen gingen sie ins Haus und ließen sich auf die Sofas fallen. Die erste Nacht würden sie nur zu dritt hier verbringen.
„Was meint ihr? Fahren wir gleich zum Supermarkt?“, fragte Jenny.
„Klar“, meinte Anouk und sprang wieder auf. Seit sie angekommen waren, war sie wieder ganz die Alte. Jenny fragte sich schon fast, ob sie sich die Spannungen im Auto nur eingebildet hatte. Oder ging am Ende die Missstimmung doch von ihr selbst aus?
Auch Chris stand bereitwillig wieder auf. „Von mir aus gerne.“
Also machten sie sich wieder auf den Weg. Im Supermarkt war die alte Vertrautheit wieder da. Sie diskutierten über die Geschmacksrichtungen von Chips- und Biersorten und besorgten alles, um am Abend Pizza und Salat zu machen. Als sie wieder beim Häuschen ankamen, dämmerte es schon.
„Ich muss noch einmal zum See rübergehen“, sagte Jenny, als sie die Einkäufe verstaut hatten. Der Frage nach der Zimmerverteilung waren sie bislang aus dem Weg gegangen. „Kommt ihr mit?“
Anouk sah von einem zum anderen. „Jetzt noch durch den Wald?“, fragte sie mit wenig Begeisterung.
„Ich komme mit“, erwiderte Chris entschlossen. „Ich will unbedingt noch das Wasser sehen.“
Bei der Vorstellung, mit Chris allein einen abendlichen Spaziergang auf dem einsamen Waldweg zu machen, lief ein leichtes Kribbeln durch Jennys Körper. Aber zu ihrer Enttäuschung erhob sich Anouk jetzt doch von dem Barhocker vor dem Küchentresen. „Was soll's. Bringen wir es hinter uns.“
***
Der Weg führte durch den Wald und dann querfeldein über ein paar Wiesen. Zu Fuß dauerte es gut zwanzig Minuten bis zu einer einsamen Bucht an dem Badesee. Obwohl die Tage frühsommerlich warm waren, wurde es kalt, sobald die Sonne sank.
Jenny zog ihre Kapuzenjacke enger um sich und ärgerte sich fast, die anderen zu dem Spaziergang überredet zu haben. Aber als sie am See ankamen, war ihre Erschöpfung vergessen.
Die Sonne stand tief über dem grünlichen Wasser und färbte die Wölkchen am Himmel rosarot. Das Schilf bewegte sich sanft im Abendwind und ein paar Frösche quakten. Die drei setzten sich in eine kleine Sandbucht und betrachteten schweigend das Naturschauspiel.
Schließlich erhob sich Jenny, atmete tief durch und ging dann mit forschen Schritten auf das Wasser zu. Sie schlüpfte aus ihren Sandalen und trat ins Wasser. Es war so kalt, dass sie ein Quieken unterdrücken musste. Trotzdem krempelte sie ihre Hose hoch und ging noch ein paar Schritte weiter hinein. Kurz darauf waren auch die Stiefgeschwister neben ihr und die drei tobten ausgelassen im flachen Wasser, spritzten sich nass und rannten über den Sand. Die Sonne stand plötzlich nur noch als schmaler Streifen am Horizont und es wurde immer dunkler.
„Wir sollten uns jetzt wirklich auf den Weg machen“, mahnte Anouk. „Ich friere mir hier gleich den Arsch ab.“ Kein Wunder, ihr dünnes Nichts von einem Kleidchen war nicht gerade ein Schutz gegen die einbrechende Kälte der Nacht.
Der Rückweg kam ihnen lang vor und Anouk jammerte über die Kälte. Schließlich zog sich Chris genervt sein T-Shirt über den Kopf und reichte es ihr. Jenny stockte der Atem, als sie seinen nackten Oberkörper im Halbdunkeln musterte. Seine Schultern waren breit und wirkten stark und auch wenn er schlank war, hatte er viel mehr Muskeln, als sie erwartet hatte.
Anouk zog sich zufrieden das Shirt über den Kopf und Chris verzog keine Miene, während er halbnackt neben ihnen durch den kühlen und nun fast dunklen Wald trabte. Sie waren alle froh, als sie endlich wieder am Haus angekommen waren.
Während sie ein Bier tranken, bereiteten sie die Pizza vor und deckten den Tisch. Als es an der Tür klopfte, sahen sie sich verwirrt an.
„Wer kann denn das sein?“, fragte Jenny, während sie sich erhob.
„Vielleicht ein Nachbar ohne Dosenöffner?“, witzelte Anouk. Das nächste Haus war mehrere Kilometer entfernt.
Schon hatte Jenny die Tür erreicht und öffnete sie. „Oh, ihr seid es“, entfuhr es ihr, als sie sah, wer vor der Tür stand. „Wir dachten, ihr kommt erst morgen.“
Vor ihr stand ihr Ex-Freund Florian, den Arm um eine zarte Rothaarige gelegt. Kessy sah überhaupt nicht so aus, wie Jenny sie in Erinnerung hatte. Sie hatte Florians Kollegin auf der Weihnachtsfeier des Pharma-Konzerns kennengelernt, für den Florian seit einem knappen Jahr arbeitete. Vielleicht hatte es an der schiefen Weihnachtsmütze und dem kleinen Schwarzen gelegen, dass Jenny Kessy für eine Art Vamp gehalten hatte. Vor ihr stand aber eine junge, fast schüchtern wirkende Frau in modisch zerrissenen Jeans und einem gelben Blüschen. Sie sah verfroren und ein wenig ängstlich aus.
Florian grinste verlegen und fuhr sich durch die schwarzen Locken. Dann nahm er seine schwarz umrandete Brille ab, zog ein Tuch aus der Jeanstasche und putzte sie mechanisch, wie immer, wenn er nicht weiterwusste.
Schnell trat Jenny zur Seite. „Entschuldigung. Kommt rein.“
Die beiden betraten zögernd das Wohnzimmer. Sie wirkten ungefähr so entspannt wie bei einem Vorstellungsgespräch. Warum hatte Kessy sich bloß überreden lassen, mit Florian hierher zu kommen? Sie musste schließlich gewusst haben, dass sie hier auf Jenny treffen würde. Auch wenn das Haus schön war - es war nur ein Bauernhaus in der Einöde und kein Luxushotel auf den Malediven.
Aber dann sah Jenny, wie die beiden Neuankömmlinge einen Blick wechselten und da verstand sie es. Kessy wollte Florian vermutlich einfach wirklich näherkommen und wenn man es mit jemandem ernst meinte, nahm man eben auch unangenehme Situationen auf sich. Vermutlich wollte sie auch gerne seine Schwester und seine Nichte kennenlernen. Vielleicht sogar seine Ex-Freundin.
Das alles hatte ihr noch gefehlt.
Jenny fühlte sich von der Situation überfordert und blieb stumm und wie festgewachsen in der Nähe der Haustür stehen. Gott sei Dank schlüpfte Anouk in die Rolle der perfekten Gastgeberin, versorgte alle mit Getränken und verfrachtete Florian und Kessy unter leichtem Geplauder auf die Couch. Anouk hatte schon immer ein ganz eigenes Verhältnis zu Florian gehabt. Obwohl sie sich immer über ihn lustig machte, hatten sich die beiden über die Jahre kennen- und schätzengelernt.
Anouk zog sich einen Sessel an den Couchtisch heran und Jenny ließ sich auf das gegenüberliegende Sofa fallen. Vielleicht war das Schwerste ja schon geschafft, dachte sie hoffnungsvoll. Vielleicht war es doch ganz einfach, die Uhr zurückzudrehen und in Florian nur noch einen guten Freund zu sehen. Sie sah, wie er Augenkontakt zu ihr suchte und rang sich ein Lächeln ab. Dann hörte sie hinter sich ein Geräusch, als würde jemand Anlauf nehmen. Noch bevor sie den Kopf drehen konnte, war Chris über die Lehne des Sofas gesprungen und landete elegant neben ihr auf der Couch. Er legte Jenny lässig den Arm um die Schulter und wandte sich dann an Kessy.
„Und? Wie ist es so, mit dem Ex von meiner Süßen zusammen zu sein?“ Chris redete so überzogen wie in einer schlechten Soap-Opera.
Jenny zuckte zusammen. Okay, sie hatte sich vielleicht insgeheim gewünscht, dass Chris wirklich mit ihr flirten würde. Aber er hatte offenbar vor, diese blöde Idee von Anouk durchzuziehen und sich gleichzeitig über Jenny lustig zu machen. Jenny rückte leicht von ihm ab, sah Anouks Grinsen und verstand. Die beiden machten sich einen gemeinsamen Scherz aus der Situation.
„Chris macht nur Witze“, sagte Jenny entschuldigend zu Florian und Kessy. „Er hat einen schrägen Sinn für Humor.“
Chris rückte wieder ein bisschen näher an Jenny heran und legte ihr eine Hand auf das Bein. Sie hatte das Gefühl, seine Hand wäre elektrisch geladen. Außerdem hatte sie den unwiderstehlichen Drang, ihren Kopf an seine Schulter zu legen – egal, ob das ein Witz war oder nicht. Aber sie widerstand ihrem Drang und blieb steif auf ihrem Platz sitzen. Chris warf ihr einen Seitenblick zu. Für einen Moment hatte sie das Gefühl, er würde sie wirklich ansehen. Dann grinste er wieder frech, hob die Hand und fuhr ihr leicht über die Haare. „Wir haben uns darauf geeinigt, dass wir uns nicht einigen können, wie wir mit der Situation umgehen sollen“, erklärte er dann. „Jenny will deine Gefühle nicht verletzen, Florian.“
Was? Jenny war sprachlos. Auch Florian sah verwirrt von einem zum anderen. „Wieso sollte mich das verletzen?“, fragte er dann zögernd.
„Na ja, wie es scheint, war Jenny schon immer ein bisschen in mich verliebt“, sagte Chris und ließ sich ins Polster zurücksinken. „Auch, als ihr noch zusammen wart.“
Jenny schnaubte. „Und wovon träumst du nachts, du arroganter Angeber?“, fuhr sie Chris an.
Kessy verfolgte das Geschehen mit wachsender Hilflosigkeit. „Florian, was soll denn das alles?“, fragte sie ihn leise.
Er zog sie an sich. „Ehrlich, ich hab auch keine Ahnung, was hier vorgeht“, raunte er ihr zu. „Die sind sonst alle völlig normal.“
Als Jenny erneut die Vertrautheit zwischen den beiden bemerkte, spürte sie einen leichten Stich. Nein, sie wollte Florian nicht zurück. Aber die beiden benahmen sich nach so kurzer Zeit wie gute Freunde und das tat weh.
Einen Moment lang sagte niemand etwas, dann rettete Anouk die Situation. Sie erzählte eine lustige Geschichte aus ihrer Galerie und alle ließen sich erleichtert auf den Themenwechsel ein. Der Abend plätscherte von da an ruhig vor sich hin. Nach seinem Sofasprung ließ es Chris ruhiger angehen. Er blieb zwar neben Jenny sitzen, hielt jetzt aber einen gewissen Sicherheitsabstand.
Sie redeten über ihre Jobs, tranken Bier, hörten Musik und selbst Kessy schien sich zu entspannen. Wie sich herausstellte kannte sie die 'Sad Cowboys' und stellte Chris eine Menge Fragen zu seiner Band. Es war offensichtlich, dass Florian sich über ihre Begeisterung nicht gerade freute.
„Es ist schon fast Mitternacht“, stellte Florian irgendwann fest. „Ich bin völlig zerschossen. Was haltet ihr davon, wenn wir schlafen gehen?“
Anouk nickte. „Klar, sucht euch einfach einen Raum aus. Wir haben die Zimmer noch nicht aufgeteilt.“
„Okay“. Florian und Kessy erhoben sich und nahmen ihre Sachen. Sie gingen in den ersten Stock hinauf, eine Tür klappte.
„Da waren's nur noch drei“, sagte Anouk munter. Sie stand auf, ging zum Kühlschrank und holte noch einmal drei Flaschen Bier heraus.
„Morgen brauchen wir mal was Stärkeres“, sagte sie dann und drängelte sich zwischen Jenny und Chris auf das Sofa. „Na, was meint ihr?“, flüsterte sie verschwörerisch. „Das lief doch ganz gut.“ Sie veränderte die Stimme. „And the oscar goes to: Christoph Emanuel Safier.“
Chris verbeugte sich leicht und Jennys Herz sank. Aber sie wollte sich jetzt nicht selbst ausschließen. Also lächelte sie. „Okay, ich geb es zu. Das war lustig.“
Chris beugte sich halb über Anouk und legte eine Hand an Jennys Wange. „Und? Welches Zimmer nehmen wir beide, mein Schatz?“, fragte er mit herausforderndem Unterton.
Jenny schluckte schwer und suchte nach einer schlagfertigen Antwort, aber bevor ihr etwas einfiel, brach Anouk in schallendes Gelächter aus. „Ich wünschte, ich hätte dein Gesicht fotografieren können.“ Sie boxte Jenny leicht auf die Schulter. „Das war ein Witz, beruhig dich.“
Chris sah Jenny einen Moment in die Augen, sagte aber nichts. Jenny wandte den Blick ab. „Das wird mir jetzt doch ein bisschen zu schräg“, sagte sie kopfschüttelnd und stand auf. „Ich gehe jetzt auch schlafen.“ Sie warf den Kopf in den Nacken und sagte in extra gekünsteltem Ton. „Allein!“ Immerhin hatte sie dadurch das Gefühl, dass die beiden mit ihr und nicht über sie lachten.
„Gute Nacht“, wünschte Chris ohne irgendwelche Anstalten zu machen, das Thema Schlafzimmer zu vertiefen. Anouk ließ ihren Kopf an die Lehne des Sofas sinken und legte ihre Beine auf Chris Schoß. „Ich habe noch einen abgefahrenen Film dabei“, sagte sie zu ihm, so als wäre Jenny schon nicht mehr im Raum. Sie deutete auf den Flachbildschirm auf dem Ecktisch vor der Couch. „Schlafen wir hier und sehen ihn uns an?“
Eifersucht durchflutete Jenny, als sie sah, dass Chris nickte. „Gute Nacht“, wünschte sie den beiden knapp, aber sie waren schon damit beschäftigt, die Klappcouch auszuziehen.
Jenny ging in den ersten Stock und warf ihre Tasche auf das Doppelbett im letzten Eckzimmer. Sie zog die Vorhänge zu und zündete die kleine Nachttischlampe an. Dann ließ sie sich erschöpft auf das Bett fallen.
Es war kurz nach zwölf und sie hatte in der vergangenen Woche in keiner Nacht mehr als fünf Stunden geschlafen. Am letzten Tag im Krankenhaus hatte sie sich die Zeit genommen, sich von ihren kleinen Patienten zu verabschieden. Sie dachte an die Kinder, die jetzt in den Krankenhauszimmern schliefen – manche behütet von ihren Eltern, manche verstört und allein.
Dann wanderten ihre Gedanken zu dem Abend zurück. Sie hatte das Gefühl, Chris Arm an ihrer Schulter immer noch zu spüren. Warum hatte er immer noch diese Wirkung auf sie? Es war verrückt. Sie kannte ihn schon ihr halbes Leben lang, aber er war ihr so fremd. Sie wusste eigentlich gar nichts über ihn. Er hatte es perfektioniert, sich von anderen nicht in die Karten sehen zu lassen. Sie hatte keine Ahnung, warum er sich auf dieses dumme Spielchen eingelassen hatte. War er überhaupt in der Lage, tiefere Gefühle für jemanden zu entwickeln? Soweit sie wusste, hatte er noch nie eine längere Beziehung gehabt.
Für einen Moment gab Jenny sich dem Gedanken hin, sie hätte sein ironisches Angebot vom gemeinsamen Zimmer einfach angenommen. Würde er dann jetzt wirklich hier neben ihr liegen? Sie betrachtete das Bett. Es war schmal für ein Doppelbett. Hätte sie sich in der Nacht in die Mitte gerollt und ihren Kopf an seine Schulter gelegt? Sie schloss die Augen und stellte sich vor, Chris wäre hier neben ihr. Fast glaubte sie, ihn spüren zu können. Darüber schlief sie ein.