Читать книгу Das Unsichtbare sichtbar machen - Mirjam Eiswirth - Страница 6
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Ich erinnere mich noch genau an einen sonnigen Herbsttag 1996. Meine Eltern haben mich aus dem Kindergarten abgeholt, mitten in einer Geburtstagsfeier, nicht einmal mein Lieblingsteilchen durfte ich essen! Ich sitze mit wütend geballten Fäusten auf dem Stuhl beim Arzt und will auf jeden Fall verhindern, dass diese Frau mir wieder eine Nadel in den Finger pikst. Aber es hilft nichts, irgendwie sind die großen Menschen alle stärker als ich und bevor ich überhaupt verstanden habe, was hier los ist, bin ich schon im Krankenhaus. Die haben noch größere Nadeln, die sie in mich piksen. Den Schwestern, die sich so etwas erlauben, fliegen sämtliche Schimpfwörter um die Ohren, die ich im Kindergarten jemals gehört habe – und von denen meine Eltern keine Ahnung hatten, dass ich sie kenne.
Der Rest der Zeit im Krankenhaus verläuft für mich, abgesehen vom Spritzen, entspannter. Ich finde eine Krankenhausfreundin, mit der ich im Flur Rennen veranstalte, darf ab und an mit meinen Eltern in die Stadt und einmal kommt sogar ein Clown. Dass gerade wichtige Weichen für den Rest meines Lebens gestellt werden, ist mir mit meinen fünf Jahren nicht klar. Die Verantwortung dafür liegt noch bei meinen Eltern, vor allem meiner Mutter.
Crashkurs, Vernetzung und ein neuer Alltag
Meine Eltern machen einen Diabetes-Crashkurs, vernetzen sich in der Selbsthilfe, sorgen dafür, dass ich immer wieder andere junge und auch ältere Menschen mit Diabetes treffe. Sie helfen mir über die Jahre, zunehmend die Verantwortung für mein Zuckermanagement zu übernehmen und Entscheidungen selbst zu treffen. Diabetes gehört einfach dazu. Klar ist es manchmal nervig, klar fühlt es sich nicht toll an, zu tief oder zu hoch zu sein. Aber das kann man ja häufig vermeiden, und wenn es doch passiert, auch wenn mal ein Tag im Eimer ist: einfach morgen neu anfangen.
Eine Unterzuckerung als Anstoß
So läuft Diabetes viele Jahre ohne große Probleme nebenher. Doch als ich zur Promotion nach Schottland gehe, verändern sich meine Routinen stark – vor allem mache ich mehr Sport und erledige alles zu Fuß. Das führt in der Umstellung immer wieder zu Situationen, die mir Angst machen. Auf dem Rückweg von der Uni, keinen Kilometer von meiner Wohnung entfernt, werden mir eines Abends die Beine zittrig. Ich denke: „Ach, ich bin mit 180 mg/dl (10 mmol/l) losgelaufen und gleich da, das geht.“ Aber zur Sicherheit esse ich doch die erste kleine Tüte Gummibärchen. Gefühlte zehn Schritte weiter will ich mich am liebsten hinsetzen. Ich schaffe es bis zu einer Gruppe Fahrradständer und esse die nächsten zwei Päckchen Gummibärchen. So langsam muss ich einsehen, dass ich hier erst einmal gestrandet bin, und messe nach. 60 mg/dl (3,3 mmol/l) – keine halbe Stunde nachdem ich los bin. Selbst meinem unterzuckerten Gehirn wird klar, dass das nicht gut ist, also esse ich weiter. Nicht, dass mein Körper mir da gerade viel Wahlfreiheit lassen würde. Nach drei Päckchen Gummibärchen, zwei Traubenzucker und einer kleinen Packung Kekse zwinge ich mich, zu warten. Irgendwann, vielleicht 45 Minuten später, tragen mich meine Beine wieder und ich gehe langsam nach Hause. Für die Strecke, die ich sonst in fünf Minuten leichten Schrittes gehe, brauche ich heute 15. Im Obergeschoss angekommen, lasse ich mich in Jacke und Schuhen aufs Sofa fallen und bleibe eine Stunde liegen, dann ziehe ich die Jacke aus, setze ich mich auf und bleibe noch eine Stunde sitzen. Erst dann komme ich wirklich so richtig an – und merke, wie knapp das eigentlich war. Hätte ich fünf Minuten später reagiert, hätte diese Hypo böse ausgehen können, das war so schon sehr unangenehm, aber immerhin konnte ich mir noch selbst helfen.
Mit anderen sprechen und merken: „Ich bin nicht allein“
Es war Zeit für mich, mit anderen Diabetiker:innen über solche Erfahrungen zu reden und von ihnen zu lernen, denn in der Diabetesambulanz vor Ort fühlte ich mich nicht gut betreut. Es gab ohnehin nur alle 9 – 12 Monate einen Termin, der etwa zehn Minuten dauerte. So lernte ich über die Online-Community auf Twitter und Facebook und über Veranstaltungen vor Ort Menschen mit Diabetes kennen und hörte ihre Geschichten. Dabei wurde mir klar: Diabetes hat viele Gesichter, genauso wie der Umgang damit. Doch die grundlegenden Schwierigkeiten sind für uns alle ähnlich. Und es ist extrem wichtig, zu merken: „Ich bin nicht allein.“
Gespräche mit 16 Menschen mit Typ-1-Diabetes gesammelt
Dass ich für meine sprachwissenschaftliche Promotion Aufnahmen von Gesprächen und Interviews brauchte, passte da perfekt. Zwischen Weihnachten 2016 und Ostern 2017 lud ich Menschen mit Typ-1-Diabetes ein, über die Höhen und Tiefen in ihrem Leben mit Diabetes zu sprechen. 16 Personen unterschiedlichsten Alters erzählten ihre Geschichten und unterhielten sich miteinander über Gesundheitsversorgung, Technologie, ihren Alltag und wie sich Diabetes anfühlt.
Beeindruckende Erzählungen: Stärke, Widerstandsfähigkeit und Offenheit
Mich hat besonders ihre Stärke beeindruckt, ihre Widerstandsfähigkeit, ihre Offenheit. Es gibt für alle immer wieder schwierige Momente, und immer stehen sie wieder auf, fangen immer wieder neu an. Außerdem sind sich alle einig, wie wichtig der Austausch mit anderen in der gleichen Situation ist, um zu merken, dass alle vor ähnlichen Herausforderungen stehen. Aufklärung ist ein weiteres großes Thema: um einerseits den Unterschied zwischen Typ 1 und Typ 2 klarzumachen und mit Stigma und Vorurteilen aufzuräumen. Wie eine Teilnehmerin sagt: „Menschen mit Typ-1-Diabetes dürfen alles essen, abgesehen von Gift und giftigen Keksen.“ Andererseits aber auch, um zu zeigen, was es wirklich bedeutet, mit Diabetes zu leben, wie viel Aufmerksamkeit, Arbeit und Energie in das Management des Alltags fließt – und dass die Frage „Warum bist du gerade zu tief?“ wirklich nicht hilfreich ist.
Von Gesprächen zu Kunst – eine Wanderausstellung und dieses Buch entstehen
Deswegen habe ich gemeinsam mit zwei Künstler:innen, Dr. Alpo Honkapohja und Alex Lorson, eine Wanderausstellung entwickelt, welche die Geschichten und Erfahrungen der Teilnehmer:innen vor allem bildlich aufgreift. Dieses Buch zeigt die Porträtserie, die der Linguist und Künstler Dr. Alpo Honkapohja gezeichnet hat. Jedes Bild steht für eine Person, greift aber nur eine einzelne Szene oder einen Aspekt ihrer Gefühlslage auf. In den jeweiligen Kapiteln werden die Einzelnen dann ausführlicher porträtiert, erfährt man mehr aus ihrer Geschichte. Die Kapitel sind alphabetisch nach den Vornamen sortiert (die Namen sind Pseudonyme). Nach den Porträts gibt es noch zwei Kapitel, die Themen aufgreifen, die immer wieder auftauchen – Hypos und Freundschaften zwischen Menschen mit Diabetes. Jedes Porträt, jede Geschichte, steht für sich, man kann das Buch also von vorne nach hinten oder von hinten nach vorne oder kreuz und quer lesen. Manche Geschichten sind fröhlich, andere traurig, manche hoffnungsvoll, andere resigniert. Gerade als Mensch, der auch mit Typ-1-Diabetes lebt, brauche ich immer Zeit, um die Geschichten zu verarbeiten, und bin froh, wenn ich mit anderen darüber und über meine eigenen Erfahrungen und Erinnerungen sprechen kann, welche die Lektüre anstößt. Deswegen eine herzliche Einladung: Lest gemeinsam, diskutiert, spürt in euch hinein, was die Bilder und Geschichten mit euch machen. Und seid gut zu euch!
Der Künstler hinter den Bildern
Ein kurzes Wort zum und vom Künstler: Alpo Honkapohja zeichnet und malt schon sein Leben lang. Er hat im Nebenfach Kunst an der University of Art and Design in Helsinki studiert und Kurse am Orivesi College of Arts und der Leith School of Art belegt. Seinen Stil bezeichnet er als malerisch, und Farben sind ihm wichtig, um Emotionen auszudrücken. Meist malt er einfach nur für sich, weil es ihm Spaß macht und einen guten Ausgleich zum stressigen Arbeitsalltag bietet. Denn statt professioneller Künstler zu werden, hat Alpo sich für eine Karriere an der Universität entschieden – und manchmal, so wie in diesem Projekt, lassen sich Sprache und Kunst hervorragend verbinden.
Die künstlerische Perspektive eines Nicht-Diabetikers
Er hat sich als Nicht-Diabetiker, der vorher nicht viel über Typ 1 wusste, mit den Geschichten beschäftigt und sagt: „Für mich war es spannend, wie anders das Leben für Menschen mit Typ-1-Diabetes ist. Sie müssen ständig ihren Blutzucker im Blick behalten und den Tag über zahllose Entscheidungen treffen. Das kann ganz alltägliche Dinge wie einen Kinobesuch oder die Sicherheitskontrolle am Flughafen zu einer Herausforderung machen. Mit Diabetes zu leben und sich irgendwie zu arrangieren ist eine Frage des Überlebens, nicht etwas, was man mal machen kann und mal nicht. Es gibt keine Pausen. Unterschiedliche Persönlichkeiten reagieren sehr unterschiedlich darauf. Ich habe versucht, Farben und stilistische Mittel zu nutzen, um einerseits darzustellen, wie die 16 Teilnehmer:innen mit dem Leben mit Typ-1-Diabetes auch emotional umgehen, und andererseits einige der Geschichten zu illustrieren, die sie erzählt haben.“ Für diese Porträtserie hat er farbiges Papier als Hintergrund benutzt und die Zeichnungen selbst mit verschiedenen Arten von Farben gemacht, vor allem Pastell, Kreide und Posca Marker. So konnte er künstlerisch die Gefühle aufgreifen und verarbeiten, die er in den Tonaufnahmen der Gespräche und Interviews wahrgenommen hat.
Die vielen Gesichter des Typ-1-Diabetes zeigen
Jedes Bild steht für einen einzelnen Aspekt der Geschichte, Persönlichkeit und Gefühlslage des Menschen, der im Text porträtiert wird. Die Gemälde zeigen damit die vielen Gesichter von Typ-1-Diabetes, die Texte stellen die Menschen dahinter und die Höhen und Tiefen in ihrem Leben mit Diabetes vor – denn „den Diabetiker“ gibt es nicht.
Wir sind viele, wir sind stark, und wir können fast alles machen – außer unser eigenes Insulin.
In diesem Sinne wünsche ich eine inspirierende, verbindende, unterhaltsame Lektüre und vielleicht den ein oder anderen neuen Einblick in das Leben mit Typ-1-Diabetes!
Dr. Mirjam Eiswirth