Читать книгу Freiheit statt Scham - Mirjam Fischer - Страница 5
Kapitel 1: Was ist Scham?
ОглавлениеWenn ich dich fragen würde, ob du dich gelegentlich schämst, was würdest du darauf antworten?
Was ich oft höre, lautet in etwa so: „Mich schämen? Tue ich nicht mehr! Früher vielleicht einmal, ja. Aber mittlerweile habe ich alles ans Kreuz Jesu genagelt. Scham kommt in meinem Leben nicht mehr vor. Außerdem würde ich sie sofort erkennen, wenn sie auftaucht …“
Wirklich?
In meinem eigenen Alltag taucht Scham immer wieder auf. Irgendwann begann ich, meinen Tagesablauf ein wenig unter die Lupe zu nehmen und mich selbst zu beobachten, wie oft ich mich eigentlich für etwas schäme und was das genau für Auswirkungen auf mich und meine Freiheit hat. Nach ein paar Tagen war ich wirklich beeindruckt, wie oft ich trotz meines vermeintlich freien Lebens noch Scham empfand und wegen dieses Gefühls zeitweise meine Freiheit aufgab und mich davon beherrschen ließ.
Jedes Mal, wenn ich mich von meinen Schamgefühlen leiten lasse und ihnen nicht widerstehen kann – weil sie mich förmlich antreiben oder ich Angst verspüre, ihnen zuwider zu handeln – bedeutet das für mich Gebundenheit. Das ist genau das Gegenteil von Freiheit.
Freiheit verspüre ich, wenn ich mich in jeder Lage meines Lebens und auch trotz meiner Gefühle immer frei entscheiden kann, was meine nächsten Schritte sind.
Es ist erschreckend, welche Tiefe dieses Gefühl der Scham in sich birgt und was es uns rauben kann, wenn wir uns davon manipulieren lassen. Scham kann jeden Teil unseres Lebens betreffen und sogar so weit gehen, dass sie Lebensbereiche völlig lahmlegt. Besonders in Bezug auf unsere Gottesbeziehung ist Scham ein effizientes Mittel des Teufels, um uns auszubremsen oder gar zu blockieren.
Nachdem ich mein eigenes Leben unter die Lupe genommen hatte, begann ich in Gesprächen mit anderen Menschen immer mehr die Spuren der Scham zu entdecken. Ich fing an, mich damit auseinanderzusetzen, was Scham genau ist und wo sie in der Geschichte der Menschheit begann und Einfluss gewann. Es ist schön zu sehen, wie Gott einem Dinge aufzeigt und sogar die Möglichkeit schafft, diese Erkenntnisse auch in andere Menschenleben hineinzusäen, sodass sie ebenso davon profitieren können.
Ich habe bei so vielen Menschen Scham in den verschiedensten Bereichen gefunden. Manchmal sprang sie mich förmlich an. Sie zeigt sich oft sehr versteckt und ist nicht gleich als solche zu entlarven, und doch ist sie da und hindert uns am Handeln, weil wir uns im Innersten für etwas schämen.
Scham hindert uns daran, so zu leben, wie es Gottes ursprünglichem Plan entspricht. Sie trennt uns von Gott und macht uns abhängig davon, so zu sein und zu handeln, wie es dem Normal unserer Welt entspricht.
Ich wurde von klein auf gelehrt: Du darfst du selbst sein. Alle Menschen sind verschieden. Jeder ist anders als der andere und hat seine eigene Persönlichkeit. Keiner gleicht vollkommen einem anderen. Aber alle sind gleich viel wert. Deshalb darfst du so sein, wie du bist.
Wenn du so sprichst, werden dir die meisten Menschen in deinem Umfeld zustimmen. Du bist nicht wie dein Ehepartner, deine Mutter/dein Vater, deine Geschwister oder Freunde. Ich habe gewisse Ähnlichkeiten mit meinen beiden Schwestern. Manche sind mit bloßem Auge sichtbar, andere erkennt man an unseren Begabungen oder Charakterzügen. Doch jede hat ihre Besonderheiten. Wenn ich allerdings die heutige Gesellschaft betrachte, kann ich nicht feststellen, dass die Besonderheit jedes einzelnen geschätzt und anerkannt wird. Vielmehr werden wir auf Norm getrimmt, und wenn eine Frau nicht den Maßen 90-60-90 entspricht, findet sie in manchen Läden nicht einmal passende Kleider – um es einmal überspitzt zu sagen.
Eine schweizerische Familie hat im Durchschnitt 1,52 Kinder.1 Wenn man keine „Norm-Familie“ hat und mehr als „1,52 Kinder“ plant, kann das Leben teuer werden. Alles ist auf weniger Kinder ausgelegt. In manche Kombi-Fahrzeuge gehen noch nicht einmal drei Kindersitze nebeneinander auf die Rückbank, obwohl die Sitze vom Staat bis zu einer Körpergröße von 1,50 Metern oder einem Alter von 12 Jahren vorgeschrieben sind. Eine befreundete Familie mit vier Kindern musste sich einen kleinen Bus kaufen.
In der Schweiz fällst du also schon aus der Norm, wenn du mehr als zwei Kinder hast. Alles darüber hinaus muss gut abgewogen und geplant werden. Einer solchen Herausforderung wollen sich verständlicherweise nicht mehr alle Menschen stellen.
„Norm“ bedeutet eine „allgemein anerkannte, als verbindlich geltende Regel für das Zusammenleben der Menschen“ und „eine übliche, den Erwartungen entsprechende Beschaffenheit, Größe, Qualität o. Ä.; Durchschnitt“2.
Die Norm soll uns zeigen, was als normal betrachtet wird. Sie soll uns eine Richtlinie bezüglich dessen sein, was üblich ist und was gut für uns ist. Aber oft ist es eine Einschränkung, die den Einzelnen und seine Begabungen nicht berücksichtigt.
Wenn wir alle gleich sein sollten, dann hätte Gott uns so geschaffen. Das war jedoch nicht Gottes Absicht. Er erschuf den Menschen nach seinem Abbild.
Als Gott den Menschen schuf, machte er ihn nach dem Bilde Gottes und schuf sie als Mann und Frau und segnete sie und gab ihnen den Namen „Mensch“ zur Zeit, da sie geschaffen wurden (1 Mose 5,1-2 LUT).
Gott selber hat so viele Facetten, dass er den Menschen in all seiner Pracht erschaffen konnte. Weil wir alle nach seinem Bilde erschaffen wurden, sehen wir so unterschiedlich aus. Manche sind blond, andere braun oder schwarzhaarig, wieder andere haben rote, graue oder weiße Haare. Welche der Haarfarben ist also „die Richtige“? Wenn du zehn Leute in deinem Umfeld nach der „richtigen“ Haarfarbe fragen würdest, bekämst du wahrscheinlich zehn verschiedene Antworten. Manche mögen das eine und manche das andere. Warum also sollten wir dem Ideal glauben, dass nur blonde Frauen attraktiv seien?
Jedes Jahr im Herbst wählt das amerikanische ‚People‘-Magazin seinen ‚Sexiest Man Alive‘. 2014 war es der Schauspieler Chris Hemsworth (32), der mit seinem blendenden Aussehen überzeugen konnte. In diesem Jahr heißt der glückliche Gewinner: David Beckham (40)!3
Die Menschen wollen schöne Menschen sehen. Deshalb küren sie jedes Jahr einen „Sexiest Man Alive“. Ein Mann soll der Schönste von allen sein. Doch wer beurteilt, wer der Schönste ist? Es wurden ja nicht alle Menschen dieser Erde angesehen, und trotzdem wurde der schönste und „sexieste“ Mann gekürt. Es wird einfach ein beliebter, bekannter Mann präsentiert, der den Kriterien entspricht, die sich die Jury gesetzt hat.
In diesem Moment fällt mir ein, wie oft ich schon gehört habe, dass Schönheit von innen kommt und nicht von außen. Doch in der Welt sehe ich selten, dass wirklich auf die Einzigartigkeit eines jeden eingegangen wird.
Es wird eine „Form“ vorgegeben. In jedem Teil, in dem du nicht mit dieser Form übereinstimmst, wird ein Nährboden für Scham gelegt.
Wir sind Kinder des höchsten Gottes. Wir wurden als die Krönung der Schöpfung erschaffen und haben, so denke ich, einen natürlichen Antrieb, dass wir etwas wert sein wollen. Doch die Welt setzt uns lauter Grenzen und Ideale, die wir als normale Menschen nicht erreichen können bzw. nur dann, wenn wir Teile unseres Selbst abschneiden, weglassen oder uns verbiegen.
Wer kennt nicht das Märchen von Aschenputtel, in dem die Stiefschwestern den Prinzen so gerne heiraten möchten, dass sich eine von ihnen gar einen Zeh abschneidet, um in den Schuh zu passen? Aber es flog auf und sie wurde nicht Prinzessin. Auch die zweite Stiefschwester passte nicht in den Schuh und schnitt sich einen Teil der Ferse ab, was genauso entlarvt wurde, und auch sie wurde nicht Prinzessin. Am Ende wurde Aschenputtel die Frau des Prinzen, weil nur ihr Fuß genau in den Schuh passte.
Die Norm möchte uns eine Richtlinie geben und engt uns dadurch ein. Jeder von uns versucht, den vorgegebenen Standards gerecht zu werden, egal, was es uns kostet oder was wir von uns selbst hingeben müssen, um in die Form zu passen, in die die Welt uns pressen will. Doch was ist unser Antrieb, dass wir dem entsprechen wollen, was andere Menschen als schön und wichtig erachten?
Wir möchten dazugehören! Gott hat uns als Wesen erschaffen, die gerne in Beziehung mit anderen leben. Als Gott den Menschen erschuf, sah er, dass sein Alleinsein nicht gut war. Also schuf er Eva, damit Adam ein Gegenüber hatte, das ihm glich.
Und Gott, der HERR, sprach: Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei; ich will ihm eine Hilfe machen, die ihm entspricht (1 Mose 1,18).
Wenn wir uns nur auf natürlichem Wege fortpflanzen können, indem wir körperlich zusammen sind, dann vielleicht deswegen, weil Gott uns immer wieder zeigen möchte, dass wir einander in unserer Andersartigkeit brauchen und ergänzen. Nur durch die Andersartigkeit von Mann und Frau entsteht ein Kind. Es braucht von jedem einen Teil, damit ein Mensch daraus hervorgeht.
Wenn wir nicht verstehen, dass wir alle unterschiedlich sind und dass das von Gott genau so geplant war, dann werden wir fortlaufend der Scham einen Nährboden bieten.
Scham entsteht „durch das Bewusstsein, (besonders in moralischer Hinsicht) versagt zu haben, durch das Gefühl, sich eine Blöße gegeben zu haben, ausgelöste quälende Empfindung“4.
Scham ist ein Gefühl der Verlegenheit oder der Bloßstellung, das durch Verletzung der Intimsphäre auftreten kann oder auf dem Bewusstsein beruhen kann, durch unehrenhafte, unanständige oder erfolglose Handlungen sozialen Erwartungen oder Normen nicht entsprochen zu haben.5
Scham ist also ein Gefühl, das uns unser Bewusstsein vermittelt, wenn wir nicht dem entsprechen, was wir gerne sein möchten.
Viele Frauen leiden unter Selbsthass, weil sie ihren Körper nicht so annehmen können, wie er ist. Die Medien präsentieren ein Bild der Frau, das erstrebenswert sein soll, dem jedoch nicht jede Frau dieser Erde entspricht. Darum haben besonders Teenager Probleme, wenn sie dieser Norm nicht gerecht werden. In diesem Alter der Selbstfindung ist es von großem Nachteil, wenn man mit solchen Normen bombardiert wird, anstatt zu wissen, wie gut es ist, dass jeder Mensch einzigartig ist. Viele Frauen eifern dem Idealbild nach und beginnen mehr und mehr jemand anderes zu werden; oder sie kapitulieren und gehen rebellisch gegen dieses Ideal vor. Beide Richtungen sind nicht der Weg zur Selbstfindung und führen nur weiter in die Scham hinein, die uns antreibt, etwas zu tun und zu sein, was wir nicht sind.
Scham ist ein Gefühl, das uns antreibt. Ein Gefühl, das uns sagt, dass wir nicht genügen. Scham verschleiert deine wahre Schönheit und lässt dich diese verbergen.
In meiner Schulzeit schämte ich mich oft, dass ich am Sonntag in eine Kirche und an den Samstagen in die Jungschar ging. Ich habe mich geschämt zu sagen, dass meine Freunde, mit denen ich mein Leben, meine Trauer und anderen Dinge im Leben teile, aus der Kirche stammen. Ich dachte, ich könne nur dazugehören, wenn ich so sei wie die anderen Kinder um mich herum. Anders zu sein, war gar nicht willkommen. Ich habe es oft erlebt, dass Kinder, die anders waren, nicht akzeptiert, sondern ausgelacht oder gar gemobbt wurden.
In ständiger Angst, meine Tarnung könne auffliegen, erzählte ich lange nichts von dem, was an meinen Wochenenden los war. Darauf angesprochen war ich sehr wortkarg, und man brachte nicht viel aus mir heraus. In diesen Momenten fühlte ich mich ausgeliefert. Ich wollte um jeden Preis dazugehören und bloß nicht ausgelacht oder gar ausgeschlossen werden. So habe ich mich jahrelang hinter einer Fassade versteckt.
In meinen Teenager-Jahren wurde immer klarer, dass meine wahren Freunde nicht mit mir zur Schule, sondern mit mir in dieselbe Kirche gingen. Mit ihnen verbrachte ich auch meine freie Zeit. Allmählich begann es mir nicht mehr so viel auszumachen. Seit dem Moment, in dem ich mit der Liebe Gottes spürbar in Berührung kam, konnte ich langsam anfangen zu erzählen. Ich hatte in dieser Zeit ein paar tolle Gespräche mit Leuten aus meiner Schulklasse.
Doch der Anfang eines solchen Gespräches war jedes Mal schwer für mich. Es war immer das gleiche Gefühl der Bloßstellung und der Machtlosigkeit, das ich überwinden musste, um in ein wirklich tiefes Gespräch zu kommen. Die Scham, nicht dazuzugehören, paarte sich mit der Angst, abgelehnt und ausgestoßen zu werden und wurde für mich zu einer beinahe unüberwindbaren Blockade, die mich allmählich einzumauern begann. Wenn du erst einmal drin bist, dann fühlst du dich vermeintlich sicher, aber es ist schwer, wieder herauszukommen. So war es jedenfalls für mich.
Auch in der christlichen Gemeinde gibt es Dinge, die ein Nährboden für Scham sein können.
Als in unserer Gemeinde der Heilige Geist sichtbar zu wirken begann, wurden Menschen so berührt, dass sie lachten, weinten oder gar zu Boden fielen, da sie derart von Gottes Gegenwart überwältigt wurden. Ich war am Anfang skeptisch, dann aber willig, es auch einmal auszuprobieren. Nach mehreren Versuchen bemerkte ich aber, dass das nicht zu klappen schien. Viele Menschen in der Gemeinde wurden mächtig vom Geist berührt und dadurch gestärkt. Ich jedoch erlebte das nicht. Ich begann, mich unter Druck zu setzen und aus mir selbst heraus zu lachen, was ehrlich gesagt wirklich anstrengend war. Doch ich wollte dazugehören und nicht danebenstehen.
Ich hielt es eine Zeit lang für „geistlich“, wenn man vom Heiligen Geist erfüllt zu lachen begann. Doch ich konnte es nicht. Nach einer Phase des Drucks und der vielen Versuche, es selbst herbeizuführen, zeigte mir der Heilige Geist auf, dass ich es nicht aus mir heraus bewirken konnte, sondern dass er es tat.
Ich gehe den Dingen gerne auf den Grund, und so stellte ich ihm die Frage, was mich antrieb, so zu handeln und nicht auf sein Wirken zu warten. Er zeigte mir auf, dass ich mich dafür schämte, dass etwas an mir vorbeigehen könnte. Ich machte mich davon abhängig, wie andere sein zu wollen. Doch ich erkannte, dass ich eben nicht wie die anderen war. Ich bin kein Mensch, der viele Emotionen zeigt. In gewissen Situationen kann ich Gefühle zeigen, jedoch gehöre ich nicht zu den Menschen, die viel weinen oder die Stimmung stets nach außen tragen. Ich bin so, dass ich mir immer viele Gedanken mache, die alles bis ins Kleinste zerlegen und allem auf den Grund gehen. Dies lässt meinen Emotionen nur begrenzt Raum, und so kommt meine emotionale Seite selten, aber immer dann zum Ausdruck, wenn es für mich richtig ist.
Immer mehr habe ich verstanden, dass ich so bin und dass das voll in Ordnung ist. Es gibt Momente, in denen der Heilige Geist in mir ein Lachen bewirkt. Doch oft verspüre ich in den Augenblicken der Herrlichkeit Gottes eher eine Schwere in meinem Herzen und genieße den leichten Wind, der mein Herz umgibt.
So wirkt der Heilige Geist auch in diesen Dingen genau so, wie es für jeden einzelnen richtig und gut ist. Wir müssen nichts anstreben, was wir nicht sind. Wenn wir z. B. nicht so emotionale Menschen sind, dann ist das gut so. So können wir eine andere Facette des Heiligen Geistes erfahren, die genau so genial ist wie all das, was wir bei anderen Menschen beobachten können.