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I Regen, wenn er in die Bäume rauscht

Aus der Zeit, als er noch ein Junge gewesen war, kannte er ein Licht, das fand er später für sehr lange Zeit nur in der Bahnsteighalle seiner Stadt wieder, und auch nur an bestimmten Tagen. Er dachte oft darüber nach, woran es lag, dass etwa ein Tag Ende April dieses Leuchten hatte, aber einer Anfang Mai nicht. Doch er wartete auch einfach gern, und wenn er in der Mittagspause mit der U-Bahn vom Hafen zum Hauptbahnhof fuhr, dann war er umso froher, wenn das Licht überraschend da war.

Einmal hatte er als Gymnasiast ein ähnliches Leuchten auf einem alten Gemälde gesehen, vor dem in einer Ausstellung über Landschaftsmalerei seine Kunstlehrerin stehen geblieben war, um der Klasse etwas über den Impressionismus und seine Vorläufer zu erzählen. Das Bild, nicht sehr groß und eher unscheinbar, stammte von Camille Corot, spätsommerliche Bäume stellte es dar, Pappeln, Robinien, in der Ferne eine Hügelkette und im Vordergrund den Rand eines Feldes, an dem ein Landarbeiter Getreide schnitt und eine Frau mit Kleid, Schürze und einer Haube auf dem Kopf dem Mann zusah. Weizenfeld im Morvan – was das bedeutete, wusste niemand, bis Moritz, sein bester Freund, ihnen erklärte, der Morvan sei ein Landstrich im Burgund, ein mittelfranzösisches Granitmassiv. Auf Corots Gemälde schien alles in ein Licht getaucht, als würde man durch ein Fenster auf einen Sommertag blicken, der längst vergangen war und zugleich bis heute anhielt.

Der Himmel über der Stadt erschien Raimund Merz nie riesig oder gar endlos, selbst dann nicht, wenn er so hellblau war wie das Kleid der Frau am Rand des Weizenfeldes auf dem Bild. Am Horizont, Richtung Hafen und Elbe, war allerdings des Öfteren ein rosiger Schimmer zu sehen, und schon als Junge, wenn er mit den anderen Kindern über die Redder der Feldmark gelaufen war, hatte er sich an der Pracht des Hamburger Himmels gar nicht sattsehen können. Raimund Merz hatte nur wenig vermisst, als er nach dem Abi und dem Zivildienst für ein paar verschenkte Semester nach England ging, angeblich um Biologie zu studieren; aber dieses Heimweh, eigentlich ein Lichtweh, war nicht besser geworden, als er mit Mitte zwanzig zurückkam und für ein knappes Jahrzehnt nach Berlin zog, weil seine Frau es für ihren Werdegang und auch seinen vorteilhaft fand, wenn sie eine Zeit lang dort lebten, wo jeder lebte, der etwas aus sich und seinem Leben machen wollte. Merz hatte diesen um sich selbst kreisenden Ehrgeiz nicht.

Floriane hatte ihn nach England begleitet. Während er das Studium hinwarf und anfing, lustlos bei Zeitschriften zu jobben, studierte sie in Birmingham Zahnmedizin und auf Anraten ihrer Mutter dazu auch gleich Medizin. Von Anfang an sollte Flori Kieferchirurgin werden. Er blickte stattdessen in den Himmel und die Wolken an. Ab und zu wurde er gefeuert. Im Feuern waren die Briten Vorreiter.

Zum Leben brauchten Flori und er, die sich so lange schon kannten, nicht viel. Einer wie er untersagte sich jedes Vorwärtskommenwollen. Bloß das Licht vermisste er immer unbändiger, aber weder in den Midlands noch in Berlin gab es einen Fleck, an dem ein Strahlen am Himmel stand wie früher auf der Feldmark, nicht mal draußen am Müggelsee, wohin sie in ihren Berliner Jahren zum Wandern, Paddeln und Schwimmen fuhren und wo sie später, als Flori schon gut verdiente, ein Sommerhaus mieteten.

Unter dem Stahl-und-Glas-Dach des Hamburger Hauptbahnhofs stand das ersehnte Licht vielleicht an acht oder zehn Tagen im Monat, dann aber so, als hätte es sich des notorischen Schmuddelwetters wegen in die Halle zurückgezogen und würde nun dort aufbewahrt werden. Es schien zu warten, nicht bloß auf Reisende, die aus dem Zug stiegen und verblüfft waren von der Helligkeit, der Herrlichkeit, mit der die Hansestadt sie willkommen hieß; das Licht war eine Wohltat gerade für Einheimische wie ihn, die morgens vor dem Büro oder nach Feierabend über die Bahnsteige schlenderten, als wären sie Bahnangestellte in Zivil.

Merz spürte in dem Licht, dass es für einen wie ihn anscheinend nur weniges gab, für das sich zu leben wirklich lohnte. Kinder, ja. Freundschaft, ja. Und vielleicht Liebe, und vielleicht Erinnerungen. In dem Leuchten lag eine rätselhafte, warme Zuneigung, und vieles, was er erlebt hatte, war ihm nur verständlich, weil es in diesem Licht geschehen war.

Ein paar Tage, nachdem seine jüngere Tochter elf geworden war, fuhr er am Morgen mit ihr in die Innenstadt und brachte sie zum Zug. Lindas Klasse ging auf Klassenfahrt in den Schwarzwald, in ein Schullandheim im Kinzigtal. 23 Kinder und drei Lehrerinnen, dazu jede Menge aufgeregte Eltern, zumeist Mütter, warteten auf dem überfüllten Bahnsteig auf die Einfahrt des ICE, in dem für die Kids und ihre Aufpasser ein halber Waggon reserviert war. Es war ein Montagmorgen Anfang September, aber noch immer war das Ende des Hochsommers nicht in Sicht. Auf eine weitere drückend schwüle Woche sollten erneut lange Tage mit fast unerträglich heißen Temperaturen folgen.

Als der Zug schließlich kam, musste alles sehr schnell gehen. Merz hatte Mühe, Linda in dem bunten Gewimmel noch einmal kurz festhalten und umarmen zu können. Doch als sie dann im Einstieg stand, verloren wirkte und die Tränen ihr in die Augen stiegen, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und küsste ihn, auch wenn das auf der Stelle von drinnen mit höhnischem Johlen quittiert wurde. Lindy hatte es nicht leicht in der Schule. Sie wurde von Mitschülern und deren Eltern angefeindet, weil sie einige Diebstähle begangen und man sie dabei erwischt hatte. Keiner konnte sich den kleptomanischen Zug an der kleinen und zarten Linda Annabella Merz erklären, sogar die Schulpsychologin schien hilflos und riet vorläufig zu Gelassenheit und Abwarten.

Merz winkte Lindy zu und lief, weil sie das liebte, Grimassen schneidend neben dem anfahrenden Zug her. Sofort brach ihm der Schweiß aus, aber er lief weiter, und obwohl das traurige Mädchen hinter den verdunkelten Scheiben längst nicht mehr zu sehen war, lief er und lief und lief und lief und lief neben dem Zug her hinaus ins Freie.

Außer Atem blieb er stehen. Er sah dem Zug nach, bis der letzte Wagen am Berliner Tor verschwunden war, dann zog er sein Telefon aus der Tasche und schrieb Floriane, dass alles in Ordnung war und die Kleine unterwegs.

Eine ganze Weile stand er noch in der Morgensonne auf dem Bahnsteig, blickte zu den reglos in der Windstille hängenden Plakaten an der Museumsfassade hinauf und wartete auf Floris Rückmeldung. Aber es kam keine Antwort. Er spürte Lindys kleinen Kuss auf den Lippen und vermisste sie mit einem Mal sehr. Er stellte sich vor, wie Floriane in der vormittäglichen Hektik der Praxis seine Nachricht las und die drei Sätze Sekunden später über dem aufgesperrten Rachen des nächsten Patienten schon vergessen hatte. Linda tat ihm leid. Irgendetwas musste es in ihrem Gemüt geben, das sie peinigte und immer öfter dazu nötigte, Dinge an sich zu bringen, die ihr nicht gehörten. Die Jungs und Mädchen, denen sie ein Stickeralbum, einen Füller oder zuletzt den Chip für eine Spielekonsole gestohlen hatte, taten ihm nicht leid. Das Elsternkind nannten sie Lindy in der Klasse. So wie das Kind tat er sich auch selbst leid. Er spürte, wie der alte Kummer, von dem keiner wusste, ihm in der Kehle aufstieg. Und im Grunde bloß deshalb setzte er sich in Bewegung, und nur um sich von dem Traurigsein abzulenken, ging er an diesem Vormittag noch einmal in die Bahnsteighalle und das Licht.

Ein Autoreisezug voller großer Wohnmobile mit skandinavischem Kennzeichen donnerte durch den Bahnhof und weiter Richtung Altona, um dort entladen zu werden. Der Lärm des Monstrums war unfassbar, er setzte Merz so zu, dass er sich abwandte und die Ohren zuhielt.

So stand er eine Zeit lang am Fuß einer Rolltreppe, die zur Wandelhalle hinaufführte. Unaufhörlich strömten Menschen an ihm vorüber; hunderte fuhren hinauf, hunderte kamen herab, als wären es dieselben. Keiner von ihnen schien das Licht wahrzunehmen, und auch er schloss irgendwann die Augen, tauchte in das Schwarz und öffnete sie erst wieder, als der Zementboden nicht länger bebte.

Er holte tief Luft. Und das war der Augenblick … gerade als das Dröhnen und Rattern des nur wenige Schritte entfernt vorbeirollenden Zuges nachließ und er das Licht wiedersah und den alten Abschiedsschmerz spürte und den Kummer darüber, dass sich das Verlassenheitsgefühl durch nichts lindern ließ als Ablenkung, Weitergehen, Weitermachen … in diesem Augenblick kam Inger die Rolltreppe herunter. Er sah sie, aber sie blickte nicht in seine Richtung, sondern zur Seite, über die Gleise, in die Halle. Er erkannte sie sofort, war jedoch so geistesgegenwärtig, sich wegzudrehen, weiterzugehen, an der Rolltreppe vorbei und in den Tunnelbereich unter der Wandelhalle. Er eilte in eine Richtung, die eine Sackgasse war, ohne Ausgang, ohne Eingang. Ihm wurde klar, dass er sich auffällig verhielt, keiner hatte etwas verloren in dieser finsteren Unterführung; darum blieb er stehen, als würde ein Film angehalten.

Sie folgte ihm nicht. Er stand im Halbdunkel und blickte ihr nach. Sie war es ohne Zweifel. Sie ging weiter zur Bahnsteigmitte, wandte sich nicht nach ihm um, schien sich nicht zu fragen, ob sie sich geirrt haben könnte. Inger hatte ihn nicht erkannt, anscheinend nicht mal bemerkt.

Kein Koffer, kein Rucksack, sie war ohne Gepäck. Nur eine schmale rote Handtasche in genau der Farbe ihres Nagellacks trug sie über der Schulter. Und ein helles Sommerkleid hatte sie an, übergroße, seltsam blasse Mohnblumenblüten sah man darauf. Ihr Haar war noch wie in Berlin, lang und offen, nur etwas weniger blond kam es ihm vor, nicht mehr ganz so vollkommen blond. Sie war älter geworden, Ingers Angst vor dem Altern hatte es nicht verhindern können.

In sicherer Entfernung folgte er ihr. Da war ein Funkeln auf ihren Haaren, an das er sich gut zu erinnern meinte – bis er sah, sie hatte sich eine Sonnenbrille auf den Scheitel geschoben, die das Licht reflektierte. Er schüttelte den Kopf über sich selbst, lächelte, und er fühlte sich dadurch sicher, als wäre das Lächeln das Visier eines Helms.

Allmählich ließ seine Nervosität nach, die Anspannung wich einer Neugier, die er so heftig lange nicht verspürt hatte. Er genoss es, nicht von ihr gesehen zu werden, sie aber genau im Blick zu haben. Und zum ersten Mal fragte er sich, auf welchen Zug sie wartete, wohin sie reisen wollte. Inger verschwand in einen Bahnsteigkiosk.

Merz blieb stehen und zog, es kam ihm selber vor wie einstudiert, ohne zu zögern, das Handy aus der Tasche. Von Flori keine Antwort. Er brachte sich hinter einer Fahrplantafel in Sicherheit, und dort tat er so, als würde er nachlesen, wann montagmorgens der ICE nach Stuttgart fuhr, den Bruno und er nächste Woche würden nehmen müssen. Warteminuten, in denen er nichts weiter als die abenteuerliche Absurdität seines Verhaltens wahrnahm.

Sein Blick fiel auf die Anzeigetafel. Von dem Bahnsteig fuhr überhaupt kein Zug ab, hier kam demnächst einer an, der verspätete Nachtzug aus Budapest.

Budapest – Wien – Prag – Berlin – Hamburg.

Erst da ließ er es zu. Zum ersten Mal seit Wochen, seit Monaten, dachte er an Moritz, ohne den Gedanken sogleich zu verscheuchen. Er wusste nicht, ob sie noch verheiratet waren; aber falls ja, war davon auszugehen, dass Inger ihren Mann vom Zug abholte. Merz kam der Gedanke, auf der Stelle Reißaus zu nehmen … nur nicht mitansehen müssen, wie sie Moritz begrüßte, so wie damals im Dorf, wenn sie getrennt zum Garten kamen, oder später in Weißensee und draußen in Köpenick, wenn Inger im Atelier gemalt hatte und nachkam zum Baden.

Im Schutz der Fahrplantafel warf er den Kopf in den Nacken, starrte in das Licht, das durch das verglaste Dach auf die Züge, die Gleise, die Reisenden auf den Bahnsteigen fiel. Er fühlte, wie ihn Panik ergriff, und so floh er vor dem, was er nicht sehen wollte, und der Angst davor. Er hastete davon, zurück zu der Rolltreppe und unter die Leute, wo er sich sicher fühlte. Ein Trugschluss.

Durch eine Schaufenstergasse, deren silberner und goldener Flitter ihn blendete, kam er in die Wandelhalle und merkte sofort, etwas stimmte nicht. Die Lautsprechermusik, die dort seit Jahren gespielt wurde, immer dieselbe, immer dieselbe, war an diesem Morgen eine völlig andere.

Wie es hieß, diente die Wandelhallenmusik dazu, die Aggressionen der Drogensüchtigen zu lindern und die Junkies dadurch von Geschäften und Bahnsteigen fernzuhalten. Aber das hatte ihm nie eingeleuchtet. Immer empfand er die stumpfsinnige Berieselung als an ihn gerichtet, unzufriedene, aufmüpfige, reizbare Existenzen sollten durch die Musik, die eine Nichtmusik war, beruhigt werden, und nicht selten gelang das sogar und fühlte sich einer wie er seiner Aufgebrachtheit beraubt und ruhiggestellt. An diesem Vormittag nicht. Die Musik war eine andere, war wirklich Musik, auch lauter, fast unangenehm laut; beruhigen oder besänftigen konnte sie keinen, und noch etwas anderes war nicht wie sonst, doch was, darauf kam er nicht, während ihn sein Weg zwischen Kiosken, Essensständen, einem Tabakladen und Blumengeschäften hindurch zum Ausgang führte. In der Mönckebergstraße fuhr der Bus zur Hafencity. Wenn er den nächsten erwischte, würde er pünktlich zur Vormittagskonferenz in der Redaktion sein, alles würde seinen gewohnten Gang gehen, und am Abend konnte er den Schock, Inger begegnet zu sein, vor Floriane herunterspielen oder am besten gar nicht erwähnen und dann insgeheim bei einer Flasche Weißwein dabei zusehen, wie er sich in Luft auflöste und schließlich auch von ihm selber vergessen wurde.

Allerdings bemerkte er jetzt, wie viele junge Leute, nicht nur Jugendliche, sogar Kinder sich in der Wandelhalle aufhielten, obwohl die Sommerferien lange vorbei waren. Ein lautes Raunen, fast ein Lärmen erfüllte den großen und hohen Raum unter dem Walmdach. Ein Gewimmel ist das hier!, dachte er. Und gerade fragte er sich, ob dieses Durcheinander wohl auf mehrere Schulklassen zurückzuführen war, die die Kunsthalle oder eine Ausstellung in der Galerie der Gegenwart besuchen sollten und eben aus der S-Bahn gestiegen sein mussten, da änderte sich schlagartig alles.

Denn die Musik verstummte mitten in einem Takt, und unmittelbar vor ihm, sodass er nur mit Mühe nicht in sie hineinrannte, blieb eine Schülergruppe einfach stehen, so als hätte jemand die Zeit und mit ihr auch alles andere angehalten. Er wich den schlaksigen Jungs und Mädchen aus, die fast alle schwarze Klamotten trugen, wunderte sich zwar, aber schritt weiter durch die Menge, bis rechts, links, vor ihm und hinter ihm, überall schwarzgekleidete Jugendliche, wie mitten in ihren Bewegungen eingefroren, in dem Augenblick stehen geblieben sein mussten, als die Musik aussetzte.

In Wirklichkeit, das erkannte er jetzt, war er einer der wenigen, die sich überhaupt noch bewegten. Und alle diese zehn, zwölf Staunenden und noch ein paar Schritte Weiterstolpernden, zu denen er sich dazurechnete, waren älter als diejenigen, die auf einmal stocksteif dastanden mit Gesichtern ohne Ausdruck und erstarrten Gliedern.

Wer sich noch bewegte, war alt, wer nicht, war jung. So sah es aus. Doch wurde schnell klar, dass das Spiel anders ging. Nur wer nicht mitspielte, bewegte sich noch. Wer die Regeln kannte, stand still.

Da waren auch Erwachsene, die sich nicht rührten. Sie verharrten am Rand, vor den Läden, und anders als die Kinder wirkten sie wie Statuen, weiße und bunte Aus-Stein-Gehauene, die aber ebenso genau zu wissen schienen, was hier vor sich ging. Eine dieser offenkundig Eingeweihten war die Frau seines früher engsten Freundes Moritz und ehemalige Freundin seiner eigenen Frau. Inger.

Im Sommerkleid mit großen, blassen Mohnblumenblüten stand sie vor einem Blumenladen: Es hatte noch keinen Hintergrund gegeben, aus dem sie nicht herausstach. Etwas an ihr regte sich – die Augen. Ihre Blicke folgen mir, meinte Merz, während er sich durch die stillstehende Menge schlängelte, bis mit einem Mal die Musik weiterging und alles sich wieder bewegte, als wäre nie etwas gewesen.

Über dem Ausgang zum Glockengießerwall entrollten im selben Moment mehrere Jungs und Mädchen ein schwarzes Transparent; in großen weißen Lettern war darauf zu lesen: Schatten, Staub und Wind. Was sollte das bedeuten? Ein hoch aufgeschossenes, auffallend dünnes Mädchen mit einem langen blonden Pferdeschwanz löste sich aus der kleinen Gruppe und stürzte Inger in die Arme.

Alles war vorbei. Der Flashmob war zu Ende, und dieser Teenager, der mit dutzenden Klassenkameradinnen und Mitschülern daran teilgenommen hatte, konnte nur Pippa sein. Am Müggelsee, in Köpenick, war Inger bereits schwanger gewesen, über vierzehn Jahre war es her, dass sie alle sich zuletzt gesehen hatten.

»Du siehst aus, als wärst du mit einem Gespenst Fahrstuhl gefahren«, sagte Bruno zu ihm im Treppenhaus, als sie nach der Konferenz zusammen in die Mittagspause gingen. »Du solltest an die frische Luft.«

Eigentlich hatte Merz in den klimatisierten Redaktionsräumen bleiben und das am Vormittag Versäumte nachholen wollen. Doch er merkte, wie sehr ihm die Begegnung mit Inger zusetzte, und so erschöpft er sich fühlte, war er froh, mit dem Kollegen und Freund über Dinge zu reden, die ihn auf andere Gedanken brachten.

»Wieso bist du so finster, hast du den HSV-Vereinsbus gesehen? Ich hoffe, du weißt, dass wir nächste Woche zusammen runter zu diesen Menschen fahren, die nur Schwäbisch sprechen. Bitte, lass mich nicht allein!«

Bruno brachte ihn zum Lachen, wann immer er konnte, am liebsten mit Witzen über den Fußball des chronisch dem Abstieg entgegentrudelnden Hamburger SV.

»Außerdem weht unten am Hafen eine Brise, im Ernst! Bei der Hitze tut ein kleiner Wind gut. Also los!«

Sie schlenderten den Baumwall entlang und weiter ins Portugiesenviertel. Die Leute lagen im ausgeblichenen Gras auf den Michelwiesen oder saßen im gleißenden Septemberlicht an den Straßentischen. Fast alle waren sie sonnengebräunt vom zurückliegenden Urlaub, hatten dunkle Brillen auf, waren nur mit dem Nötigsten bekleidet und unterhielten sich. Viele lachten. Merz schien der Einzige zu sein, der düsteren Gedanken nachhing, so kam es ihm vor, während sie auf zwei Sandwiches und die bestellten Getränke warteten. Ja, zum Teufel, er hatte ein Gespenst gesehen!

»Schatten, Staub und Wind«, sagte er tonlos, ohne etwas damit zu bezwecken, und blickte über die Straße zu den vollbesetzten Tischreihen dort auf dem Bürgersteig, die wie ein Spiegelbild wirkten, in dem er zwar vorkam, aber genauso hätte fehlen können. Es war auch ohne ihn vollständig.

Er fragte Bruno: »Kommt dir das bekannt vor: ›Schatten, Staub und Wind‹?«

Der portugiesische Kellner stellte zwei Gläser und eine amphorenförmige Flasche Wasser auf den Tisch. Lauter Bläschen standen perlend außen an dem hellblauen Glas, und wo einige der Tropfen auf die Tischdecke hinuntergeronnen waren und sich ein kleiner Mineralwassersee sammelte, saß ein geflügeltes Tier, das man leicht für eine Wespe halten konnte. Es war aber keine, auch wenn so eine Schwirrfliege zu ihrem eigenen Schutz vorgab, eine Wespe zu sein.

Der Freund überlegte. »Wusste gar nicht, dass du dich für Barockdichter interessierst.«

»Klingt das nach Barockdichtung für dich, du elendig belesener Schlaumeier?« Ein Teller mit zwei Toastsandwiches stand auf dem Tisch. »Hat der Kellner die gebracht?«, fragte Merz und blickte sich um: Ein Kellner war nirgends zu sehen. Er schenkte ihnen ein, und die Schwirrfliege, eine Zweiband-Wespenschwebfliege, schwirrte davon, er spürte den Handteller kühl und nass werden.

»Deswegen will ich immer in dieses Lokal, hier passieren kuriose Dinge«, sagte Bruno mit einem Sommerlachen. »›Schatten, Staub und‹ … Ich hab’s! Das ist das Vereinsmotto dieses Hamburger Rasenschachklubs, wie hieß er gleich?«

»Haha SV.«

»Richtig!«

Eine Frau ging vorbei und grüßte Bruno. Sie trug kaum etwas am Körper, hatte dafür aber goldene Sandalen an.

»Hallo Elfi«, sagte er. »Also, ich glaube, das ist aus einem Gedicht von … Fleming, vielleicht auch Gryphius. Jedenfalls – lass es dir schmecken, mein Lieber – klingt es ziemlich alt. Paar hundert Jahre. Wie kommst du darauf?«

»Elfi?«, fragte Merz und schüttelte lächelnd den Kopf.

Bruno drehte sich um und sah der brünetten Frau nach, und Merz sah, dass auch sie sich umdrehte und Bruno lächelnd und mit einer vertrauten Geste kurz zuwinkte.

»Sie ist einsam, reizend und sehr klug,« sagte Bruno ernst. »Geld hat sie auch. Ich werde nicht schlau aus ihr.«

»Vielleicht möchte sie geheiratet werden«, sagte Merz. »Möchte Familie haben und ein Haus im Grünen und eins am Meer.«

»Meinst du?« Bruno drehte sich um. Aber die Frau war schon verschwunden.

Als Bruno vor einigen Jahren eingestellt und zu ihm ins Zimmer gesetzt worden war, hatte Raimund Merz in Gesprächen mit seinem neuen Kollegen noch lange das Blaue vom Himmel gelogen, sobald Bruno nach seinen Wochenendplänen, seiner Frau, seinen Kindern, seiner Freizeit fragte. Lange Zeit hatte er das Gefühl gehabt, diesem DeWitt ebenso wenig etwas anvertrauen zu können wie dem Rest der Redaktion des Tag. Und dem Rest der Welt.

Aber das war ganz anders geworden.

Irgendwann hatte er begriffen, dass entgegen aller Erwartung Bruno tatsächlich sein Freund geworden war, ein kritischer zwar – kritisch zu sein war Brunos Beruf –, aber ein aufrichtiger. Und als sie dann schließlich offen miteinander zu reden anfingen, hatte er nur unter Mühen die ganzen alten Lügen so zurechtzubiegen vermocht, dass sie sich einigermaßen mit den Fakten vereinen ließen. Floriane, die er vor Bruno in Marianne umgetauft und zur Osteopathin gemacht hatte, war auf diese Weise eine Zeit lang Orthopädin gewesen, ehe Merz sich sicher war, sie ungefährdet als Kieferchirurgin bezeichnen zu können.

»Wie kommst du auf Marianne? Meine Frau heißt Floriane. So heißt sie schon immer, glaub mir, ich kenne sie lange.«

Es war nicht wirklich schlimm, Kieferchirurgin zu sein. Auf einem Erdball, der anscheinend nicht um die Sonne rotieren konnte, ohne dass unzählige seiner Bewohner unter grässlichen Schmerzen litten, hatten Kieferchirurgen eine sicherlich wichtige, mitunter sogar tröstliche Funktion. Doch eine solche banale Feststellung oder überhaupt das, was gemeinhin unter Wahrheit verstanden wurde, erschien einem wie ihm oft seltsam anfechtbar, sobald man es offen aussprach. Immer wieder gab er deshalb dem Bedürfnis nach, eine Tatsache entweder ganz zu verheimlichen oder sie immerhin leicht abzuändern und damit zu schützen.

Schützen wovor? Darüber dachte er täglich nach.

Das ganze Lügen hing ihm furchtbar zum Hals heraus. Es machte das Leben so anstrengend. Merz war heilfroh, als Bruno ihm eines Tages riet, ihm endlich reinen Wein einzuschenken. Hatte er zwei Frauen, hatte er eine, zwei, drei oder mehr Töchter? Merz wusste selbst nicht, was er Bruno alles erzählt hatte. Damals nutzte er die Gelegenheit und bat den Kollegen, der Übergewicht, kurze Beine und dünnes Haar hatte, der die Frauen aber wie magnetisch anzog und auch ihm auf unerklärliche Weise ans Herz gewachsen war, um Verzeihung.

»Vertrauen, schon mal davon gehört? Könnte auch dir gefallen, Herr Merz!« Bruno boxte ihn mitten im Konferenzraum lachend auf den Oberarm. Es tat lange weh.

Seither machte er dem Freund nichts mehr oder kaum noch etwas vor. Bruno erfuhr entweder alles oder nichts von ihm. Sie redeten viel miteinander, am meisten über Fußball und Musik. Merz erzählte ihm von dem Licht und davon, was es ihm bedeutete. Er erzählte von der Feldmark und dem wilden Garten. Sogar von Moritz und Inger erzählte er. Bruno schilderte dafür ihm, was er an dieser oder jener Frau mochte und wie er sie erobert hatte oder von ihr erobert worden war – was gar nicht selten passierte. Nie äußerte er sich abfällig über eine Liebschaft.

Sie flachsten, sie schwiegen, sie lachten und betranken sich miteinander, aber sie konnten auch ernst sein, über Filme reden, alte oder neue, den unüberwindbaren Graben, der die späten von den frühen Genesis trennte, den Irrsinn der Sportler, den Irrsinn der Politik, den Irrsinn der Leute, und manchmal wusste Merz: Gab es einen Mann, mit dem er zusammen weinen könnte, weinen über den Irrsinn der Welt oder den Irrsinn des eigenen Lebens, dann war es dieser so lebendige Bruno, der unverheiratet war und keine Kinder hatte, der in einem klimatisierten Dreizimmerappartement in einem Hochhaus mit Portier am Elbufer wohnte und dort von einer Liaison zur nächsten schlitterte.

An den Landungsbrücken lag die Kruzenshtern. Merz traute zunächst seinen Augen nicht, aber dann erkannte er am Heck den Namen des russischen Viermasters, schwarzweiß hob sich der Rumpf der alten Padua vom Blau der Elbe ab. Als Junge hatte er ein großes Plastikmodell des Segelschulschiffs zusammengebaut und bemalt, viele Monate lang hatte der Windjammer seine Fantasie beschäftigt, aber das wirkliche Schiff gesehen hatte er nie. Mit einem Mal, vierzig Jahre später, lag es vor ihm.

Als sie durch die Speicherstadt zum Tag zurückgingen, jeder sein Sakko überm Arm und im gleißenden Licht die Augen zusammengekniffen, erzählte er von dem vormittäglichen Flashmob und sagte, wenn er sich nicht täusche, habe er eine früher mal ziemlich enge Freundin im Hauptbahnhof gesehen.

»Hm. Wie eng?«, fragte Bruno.

»Sehr eng«, sagte Merz.

»So eng?« Bruno presste Daumen- und Zeigefingerkuppe fest aufeinander.

»Enger«, sagte Merz.

Ingers Namen gab er lieber nicht preis, und das Mädchen verschwieg er ganz.

Die vier Wörter auf dem Transparent stammten tatsächlich aus einem 375 Jahre alten Sonett aus dem Barock. »Es ist alles eitel« hieß das Gedicht von Andreas Gryphius, und auf der Kopie, die ihm Bruno auf den Schreibtisch legte, las Merz noch am selben Nachmittag den ganzen Vers: »Ach! was ist alles dies, was wir für köstlich achten, / Als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind.«

Am Abend nahm er seinen Mut zusammen und erzählte Floriane gleich beim Nachhausekommen von der morgendlichen Begegnung. Ihre ältere Tochter Priska deckte im Esszimmer den Tisch, Flori verschloss ihm mit dem Zeigefinger die Lippen, aber kaum waren sie in der Küche allein, forderte sie ihn auf zu erzählen, und er beschrieb ihr sogar die Blicke, mit denen Inger ihn, wie er meinte, in der Hauptbahnhofwandelhalle verfolgt hatte.

Floriane fragte: »Du bist aber nicht zu ihr hin und hast mit ihr geredet, oder doch?«

Merz tat und war ja auch entrüstet: »Natürlich nicht!«

Dann kam Priska in die Küche zurück, und sie unterhielten sich über Lindas Klassenreise, über seine berufliche Fahrt mit Bruno DeWitt in der folgenden Woche und darüber, dass es von Stuttgart ins Kinzigtal gar nicht weit war. Er könne, sagte Merz, die kleine Maus glatt besuchen fahren.

Die Johannisbeerbüsche litten furchtbar unter der Hitze, meinte Floriane. Sie hielt es für besser, wenn der Rasensprenger über Nacht anblieb. Merz fragte, wann mit einer Nachricht von Lindys Klassenlehrerin zu rechnen sei, bekam aber keine Antwort.

»Wie groß Pippa geworden ist«, sagte er, sobald Priska wieder im Flur verschwunden war.

Von Floriane kam bloß ein Atemgeräusch.

»Ich hab sie zuerst gar nicht erkannt.«

Von Flori kam nichts mehr.

Erst nach einer ganzen Weile sagte sie, und er hörte an ihrer dunklen Stimme, dass sie aufgebracht war: »Bitte Themenwechsel. Ich kann, ich will, ich werde mich damit nicht abgeben. Gott! Du glaubst ja nicht, wie ich juble, sollte es jemals wieder kühler werden.«

Sie aßen. Während Priska von ihrem aufregenden Tag erzählte – ihre und die Parallelklasse hatten offenbar den Flughafen besichtigt –, sah Merz in den Garten hinaus, wo Hecken, Sträucher und die Pergola in ein fast goldenes Licht getaucht waren. Noch abends lag das hochsommerliche Flirren der Hitzenachmittage in der Luft, und auch heute wieder sah man nirgends einen Vogel, ganz als wären sie alle längst verdurstet, die Tauben, die Meisen, die Amseln. Wo waren die Johannisbeeren? Rot wie roter Nagellack, dachte Merz. Und die Blätter alle welk, ausnahmslos. Es wird nichts mehr jemals wieder gut. Man kann es aushalten, ich kann es aushalten. Aber gut, gut wird es nie wieder, alles kaputt, alles vor langer Zeit kaputtgegangen, und das Einzige, was ich machen kann, ist, es zu vergessen und so zu tun, als wäre es anders.

Die Traurigkeit hatte seit dem Morgen auf der Lauer gelegen, jetzt witterte sie ihre Gelegenheit und kam heran; er schenkte sich Wein nach.

Seine Frau und seine Tochter unterhielten sich. Er war in Gedanken, hörte nicht zu, verstand daher nicht, wovon sie redeten.

»… und dann habt ihr alle angefangen zu tanzen, einfach so?«, fragte Floriane. »Auch die Jungs?«

Prissy strahlte. Sie spießte eine Nudel auf, drehte die Gabel in der Luft und ließ die Nudel ein paar Mal hin und her tanzen und Kreise beschreiben.

»Ja! Alle!«, sagte sie begeistert. »Erst standen wir nur so im Terminal rum und taten, als würden wir einchecken oder jemanden abholen. Ein paar von uns hatten sogar Rollkoffer oder Rucksäcke mit. Und die Lehrer einen CD-Player. Pünktlich um zehn stellten sie ihn an. Sehr laut! Mitten im Terminal. Dazu hatten wir die Erlaubnis. Und alle haben wir losgetanzt, wild durcheinander, einige das, was sie in der Tanzschule lernen, die meisten so wie ich einfach nur so. Und alle Fluggäste an den Schaltern und die Stewardessen, die vorbeikamen, alle kriegten sie solche Augen!«

»Was ihr euch ausdenkt«, sagte Floriane. »So was wäre uns nie eingefallen. Oder?« Sie sah ihn an; sie lächelte, aber nur mit dem Mund, nicht mit den Augen. Es war kein wirkliches Lächeln, sondern die Maske, die Frau Dr. Lepsius täglich acht Stunden lang in ihrer Praxis trug, damit niemand ihr Gesicht sah, ihre Müdigkeit und ihr Befremden.

Stumm schüttelte er den Kopf. Was Flori gesagt hatte, ergab keinen Sinn. Doch er war zu erschöpft für ein Wortgefecht. So manches war ihnen eingefallen, gerade Flori, die sich von Lehrern oder Profs nie hatte etwas vorschreiben lassen, und so lange her war das alles noch gar nicht. Allerdings hatten auch sie zum Glück nicht in die Zukunft sehen können.

Priska sprach aus, was ihr Vater dachte: »Früher gab es nun mal keine Flashmobs. Da gab es andere Aktionen in der Öffentlichkeit. Demos, klar. Aber auch von Künstlern organisierte Happenings zum Beispiel. Oder politische Sit-ins.«

»Und jede Menge anderen Kram«, sagte Floriane.

Selbst schuld, wenn du eine Zahnärztintochter heiratest, dachte Merz und trank. Engagement und menschliches Miteinander hatten für Flori einherzugehen mit ordentlichen Einkünften, deshalb war es für sie ausgemacht, dass beide Mädchen, Priska Marie und Linda Annabella, nach dem Abi Medizin, Zahnmedizin studieren würden, wie ihre Mutter, wie ihre Großmutter. Etwas anderes kam gar nicht infrage.

»Ich wäre ja gern mal bei so einem Die-in dabei«, sagte Merz trotzig und stellte sich vor, Bruno und er ließen sich in der Mittagspause an den Magellan-Terrassen mitten unter den ganzen Büromenschen aufs Pflaster fallen, als hätte sie der Schlag getroffen.

»Tot! Zwei Mitarbeiter des Tag in der Hafencity zusammengebrochen«, würde die Schlagzeile lauten.

»Nice«, sagte Priska. »Bei einem Die-in hätte ich am Flughafen auch gern mitgemacht, aber das haben die Lehrer natürlich abgeblockt. Gähn! Zu makaber. Abstürze und so. Nine-Eleven. Nicht mal einen Freeze haben die Sicherheitsmenschen vom Flughafen erlaubt. Gähn. Awkward.«

»Einen Fries?« Flori kniff die Augen zusammen, verständnislos schüttelte sie den Kopf.

Hilfesuchend sah Prissy ihn an und verdrehte die Augen.

Merz sagte: »Bei einem Freeze bleiben alle wie eingefroren stehen und bewegen sich nicht mehr. Der Freeze ist das Gegenteil vom Tanz-Flashmob. Stimmt doch, oder?«

Priska nickte. Sie hatte einen stark ausgeprägten Gerechtigkeitssinn, deshalb beugte sie sich zu ihrer Mutter und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

»Love you«, sagte sie.

»Danke, wieder was gelernt«, sagte Floriane.

Merz beobachtete seine Frau: ihre Zerknirschung, weil sie sich ausgeschlossen fühlte. So war sie schon als junges Mädchen gewesen. In Floris Augen waren Kinder eine eigene Spezies, auch ihre: »Neandertalernachwuchs«. Sie verstand Kinder nicht, und aus kindlichem Trotz wollte sie sie auch gar nicht verstehen, schließlich hatte sie früher auch keiner verstehen wollen. Kinder waren die Zukunft, aber sonst? Sie machten ihr Angst; über Linda, ihr Elsternkind, sagte Floriane oft, sie sei verrückt.

»Ich finde ja tanzen besser als sterben«, lachte sie. »Wie lang hat das Ganze denn gedauert? So ein Flashmob ist doch meistens eher kurz, dachte ich.«

»Na ja, halbe Minute. Dann kam das Transparent. Und dann war Schluss, und alle haben so getan, als wäre nichts gewesen. Das war noch mal echt krass.«

»Und dieses Transparent«, fragte Merz, »was stand da drauf?«

»Ein kurzer Satz von Wolfgang Borchert«, sagte Priska. Sie zuckte mit den Achseln und stand vom Tisch auf. »Das war nun mal – huhu! – die Vorgabe für den Flashmob-Tag. Heinrich-Heine-Gymnasium: zwei, drei berühmte Worte von Heini Heine. Wolfgang-Borchert-Schule: zwei, drei berühmte Worte von Wolfgang Amadeus Borchert. Gezeichnet: die Schubladenbehörde. Gähn. Awkward.«

»Ordnung ist das halbe Leben«, sagte er überflüssigerweise.

Priskas unerbittlicher Kommentar lautete: »… und die andere Hälfte Arbeit, klar, Papa.«

»Was stand denn nun drauf?«, fragte Floriane.

Ihre Tochter war schon im Flur, als sie noch rief: »Was wohl? ›Sag nein!‹ Gähn. Say no.« Prissy lachte spöttisch, und kurz darauf flog oben ihre Tür zu.

Am Tisch fragte Floriane, als wären sie im Fernsehen: »Noch Salat?« Dabei sah sie ihn an, hob die Hände und flüsterte: »Was ist los mit dir? Muss ich mir Sorgen machen?«

Es lag vielleicht an der Monotonie einer täglich vierundzwanzig Stunden lang abgesicherten Existenz, eher aber an der festgefahrenen Lage, ja der einzementierten Schieflage der späten mittleren Jahre, wenn ein Ehemann und Vater, ein erfahrener Mann wie Raimund Merz praktisch stündlich damit rechnete, dass alles in sich zusammenstürzte und die Trümmer wie Schaumstoff den Bach runtergingen.

Nie beglichene, uralte Rechnungen mussten dafür verantwortlich sein, wenn er drei Tage nach dem ersten Wiedersehen alle Vorsicht über den Haufen warf und auf die Suche nach Inger ging. Bei vollem Bewusstsein und doch wie von Sinnen stürzte er sich kopfüber in ein Wagnis, das ihn von Anfang an zugleich berauschte und verzweifeln ließ.

Hatten sie sich wirklich in Berlin zuletzt getroffen?

An ihrem letzten Abend am Müggelsee war es gewesen, im Garten ihres gemeinsam gemieteten Ferienhauses ein paar Kilometer südlich von Köpenick. Seither hatte es keinerlei Kontakt mehr zwischen Moritz und Inger und Flori und ihm gegeben, und er war all die Jahre standhaft geblieben und hatte nie auch nur den leisesten Versuch unternommen, etwas über Rauchs in Erfahrung zu bringen.

Es gab von früher keine Freunde mehr, die einmal Moritz’ und auch seine gewesen waren, und so war der einzige Mensch in seinem Umfeld, der sich an Rauchs noch erinnerte, Floriane, der aber noch weniger als ihm daran lag, über den Verbleib der einstigen Freunde und des Kindes informiert zu sein. Flori war nie gut auf Pippa zu sprechen gewesen, und in ihren Augen hatte sie mehr als triftige Gründe dafür. Wie sollte die Tochter anders sein als die Mutter?

Als Merz an diesem Donnerstag zum allerersten Mal ihre Namen in die Maske der Suchmaschine eingab, war er verblüfft; denn nichts kam dabei heraus. Sie hatten keine Firma, kein Büro oder Atelier. Der große Architekt, der Moritz immer hatte sein wollen, war nicht mal ein kleiner, wie es schien. Und auch Inger war anscheinend weder als Künstlerin oder sonstwie freiberuflich tätig noch irgendwo angestellt. Beide waren sie in fast fünfzehn Jahren nie in Erscheinung getreten, sie waren weder Mitglieder eines Vereins noch bei einem sozialen Netzwerk registriert.

Als Niemand aufzutauchen und als Niemand wieder zu verschwinden war respektabel. Nur konnte man dazwischen wenigstens versuchen, auch für andere da zu sein, jemandem zu helfen oder zuzuhören. Aber wer tat das schon, er selber so wenig wie seine Frau, Flori so wenig wie Inger, die sich genauso stets nur um ihre eigenen Angelegenheiten gekümmert hatte.

Ihre Malerei, ihre Adoptivtante, ihren Mann und später das Kind.

Und Moritz? Was gab er nicht immer an mit der Erfolgsgeschichte seines Vaters, erst recht, als der Tanke-Rauch längst alles verloren hatte! Moritz sah darin die Gelegenheit, jede ihm angeblich aufgepfropfte Unternehmerambition abzuschütteln, und brüstete sich fortan mit erfolgreichem Aufbegehren. Im Internet aber fand Merz kein einziges Foto von ihm und von den einstigen Tankstellen nichts als ein paar grobkörnige Aufnahmen verblasster, halb zerborstener Leuchtstofftafelsammlerstücke, auf denen der lange vergessene Firmenname zu lesen war: Rauch & Kossleck.

Wo wohnte man, wenn man niemand war?

Allem Anschein nach waren zumindest Inger und Pippa irgendwann aus Berlin zurückgekehrt und in den Hamburger Nordosten gezogen, denn weshalb sollte das Mädchen sonst auf eine Schule am Alsterlauf gehen?

Pippa war die Einzige, über die sich etwas herausfinden ließ. Offenbar war sie eine Zeit lang Kunstrad gefahren. Sie hatte ihre Plüschhundesammlung fotografiert und alle Bilder sorgfältig untertitelt und nach Größe und Farbe sortiert auf die Webseite einer Stofftierbörse geladen. Hatte Moritz ihr dabei geholfen? Es war wirklich rührend. Zumal man auf mehreren der süßen Fotos im Hintergrund die Mutter der kleinen Hundenärrin sah. Die Frau mit den lachenden Augen, über denen noch immer der alte schöne Schatten lag, war eindeutig Inger.

Aufgewühlt und reizbar, seit er am Morgen die Fotos im Netz gefunden hatte, aß Merz an diesem quälend heißen Donnerstag mit Bruno DeWitt in der Hafencity zu Mittag. Er ärgerte sich, ohne das Bruno zu sagen, über einen Aschenbecher vor ihnen, der unter seinem Deckel offenbar vor sich hin kokelte und einen üblen Geruch verbreitete. Es war dieser stinkende Ascher, mit dem kurz darauf ein abenteuerlicher Nachmittag begann.

Bruno berichtete von der Reportage, an der er schon seit Wochen schrieb. Die Landschaftsmalerei der Schule von Barbizon, zum Verzweifeln. Viel zu lange hatte er die notwendigen Recherchen vor sich hergeschoben.

»Ich lebe eigentlich Mitte des 19. Jahrhunderts«, sagte er. »Und um mich rum«, er breitete die Arme aus, »das kann nur der Wald von Fontainebleau sein.« Bruno stand auf. »Ich sehe ständig Felder vor mir, einen Hohlweg oder eine Baumgruppe, und zugleich weiß ich, die gibt es bloß auf alten Gemälden, bei Daubigny und Rousseau. Wie Gott sie schuf, liegt nachts die entzückendste Frau neben mir, und was mache ich? Ich denke nach über Antoine Chintreuils Wolken.«

»Du findest Fritzi Feddersen entzückend?« Merz war fassungslos. »Das meinst du nicht im Ernst. Sie ist keine Frau, sondern unsere Justiziarin.«

»Sie ist beides, Raimund Merz.«

Nur selten war Bruno derart humorlos. Seufzend verschwand er nach drinnen zur Toilette, und sofort schraubte Merz den Aschenbecher auf, um nachzusehen, was darin qualmte, »pöserte«, wie man in Hamburg sagte. Die Namen der Maler, die Bruno erwähnt hatte, schwirrten ihm wie Möwen durch den Sinn, für ein paar Augenblicke bedauerte er, dass er weder von Daubigny oder Rousseau noch von diesem André oder Antoine Chintreuil irgendein Gemälde kannte. Der Wald von Fontainebleau. Wo lag der?

Aus dem Ascher kam der Gestank nicht. Er war mit Chromlack überzogen, Merz sah sein Gesicht darin gespiegelt, das Himmelsblau und tatsächlich Wolken. Er tauchte eine Fingerspitze in den grauen Puder zwischen den Kippen; und wie früher, als wäre er wieder sechzehn, bestrich er sich einem plötzlichen Impuls folgend mit der Asche links und rechts die unteren Lider, so wie manchmal mit Moritz in der Pause auf dem Schulhof, wenn sie einen ihrer Lehrer hatten verunsichern wollen. Bruno kam zurück, er setzte sich. Merz nahm die Hand von den Augen und betrachtete den Freund, mit möglichst mattem Blick, wie ein Gespenst im hellblauen Hemd.

»Na und, sie ist Justiziarin, Himmel. Und lass du dir gesagt sein, es ist nur gerecht, dass ein so wundervolles Wesen wie Fritzi Feddersen auf dieser gegen die Wand gefahrenen Welt lebt. Denn ohne Menschen wie sie wäre das Leben … – meine Güte, du siehst ja aus wie der Tod!«

Kein Wunder. Wenn er je gelebt hatte, war das lange her. Wäre er aufrichtig gewesen, hätte er das zu Bruno sagen müssen. Stattdessen blickte er ihn aus vorgetäuscht tiefen Augenhöhlen nur an. Merz lächelte erschöpft. Er litt.

Wenig später war er für den Rest der Bürowoche entschuldigt. Melly, der Sekretärin, musste er versprechen, sofort zu seinem Hausarzt zu gehen. Er spürte die mitleidlose Neugier seiner Kollegen, die ihm alles Gute wünschten, ohne zu wissen, was das war. Bruno legte ihm den Arm um die Schultern. Das zum Beispiel! Er brachte ihn nach unten vor die Tür, wirkte nachdenklich und war einsilbig, und Merz wusste – oder ahnte –, warum. In vier Tagen sollten sie zusammen nach Stuttgart fahren, damit Bruno in der Staatsgalerie den Kurator einer Ausstellung interviewte und sich für die Reportage ein paar Gemälde ansah. Impressionisten. Der Kurator, Kullmann, war angeblich eine Ausnahmeerscheinung, jung, omnipräsent, dabei alles andere als ein Karrierist. An ihrem letzten Abend würden sie sich außerdem das Pokalspiel des HSV bei den Stuttgarter Kickers ansehen. Die Kickers waren zwar nur ein Viertligist, doch dort einen hohen Sieg einzufahren würde den Hamburgern nach einem verhunzten Saisonauftakt vielleicht Auftrieb geben. Nach Brunos Ansicht wäre alles andere lachhaft, rein zum Weinen.

Außer zu einem Spiel zu gehen, das ihn nicht sonderlich interessierte, hatte Merz in Stuttgart eigentlich nichts zu tun. Er machte keine Fotos, kannte sich mit Aufnahmegeräten nicht aus, hatte für Museen noch nie besonders viel übriggehabt, und auch Schwaben oder Baden, der Neckar und die Kinzig waren ihm schnuppe. Er würde auf dieser Reise überflüssig sein, obwohl kaum überflüssiger als sonst. Weder hatte er eine Aufgabe noch irgendeine Funktion, außer Herrn DeWitt zu begleiten. Der hatte darauf bestanden, dass Merz mitkam, und selbst die Stadionkarten hatte er Melly als Spesen untergejubelt.

»Also Montag?«, fragte Bruno und sah dem Freund tief in die aschgrauen Augen.

»Tue mein Bestes«, sagte Merz schwach. »Fritzi Feddersen und unsere gegen die Wand gefahrene Welt, das muss ich erst verkraften.« Damit ging er. Aber er hob noch kurz die Hand und rief Bruno zu: »Wir sehen uns Montagmorgen am Bahnhof. Gespenster halten Wort.«

Floriane schrieb er, dass er sich den Nachmittag frei genommen hatte und spazieren ging, in Planten un Blomen oder auf dem Friedhof Ohlsdorf. Vielleicht sah er in der Staatsbibliothek vorbei.

In den vergangenen Jahren hatte er für den Tag einige Artikel über neueste Erkenntnisse der Insektenforschung geschrieben, die von der Verlagsleitung und von Chefredakteurin Mareike Kennedy gut aufgenommen worden waren. Ein renommierter Hamburger Wissenschaftsverlag hatte daraufhin den Kontakt zu ihm gesucht und erwog offenbar ernsthaft, seine entomologischen Elaborate in Buchform herauszubringen. Niemand außer Flori und Bruno wusste davon.

»Bin am Abend zur üblichen Zeit zu Hause«, schrieb er, aber wie in letzter Zeit üblich antwortete Floriane nicht.

Er nahm die U-Bahn zu der Station, an der sein Wagen stand. Mit dem Phoebus fuhr er dann aber nicht nach Westen, wo sie wohnten, sondern quer durch die Stadt in die entgegengesetzte Richtung, über die Uhlenhorst, durch Winterhude, Alsterdorf und Ohlsdorf hinauf ins Alstertal.

Nördlich des Parkfriedhofs war die Alster ein schmales Flüsschen und schlängelte sich durch schattige, am Nachmittag menschenleere Auenwälder hinunter zur Innenstadt. Unter Sommereichen unweit des Ufers parkte er so, dass er jede Schülerin, die aus dem Haupteingang ins Freie kam, genau sah, dabei aber selbst unbemerkt blieb. Er tat, worin er Fachmann war, er verhielt sich vollkommen unauffällig. Ein Mann, um die fünfzig, an sein Auto gelehnt. Er tat, als würde er telefonieren, er, der seit Jahren nicht mehr telefonierte. Auf dem Display rief er eine Landkarte von Frankreich auf und zoomte sie groß. Von Besançon ging es nach Nordwesten, vorbei an Dijon, Auxerre und Montargis Richtung Versailles. Zwischen Nemours und Évry lag der Wald von Fontainebleau.

Er hatte Zeit. Fünfzehn Jahre lang hatte er auf diesen Tag hingelebt, still und so heimlich, dass er es beinahe selber nicht wusste, und deshalb wartete er gleichmütig, jedenfalls ohne nervös zu werden, ja im Grunde kaltblütig zweieinhalb Stunden lang vor der Andreas-Gryphius-Schule, bis Pippa herauskam.

Allem Anschein nach hatte sie Sport gehabt: Ihre Haare waren noch nass vom Duschen. Sie war nicht allein, zusammen mit sechs oder sieben Mitschülerinnen, die alle eine Sporttasche abstellten oder fallen ließen und die alle ähnlich dürr, ähnlich langhaarig und ähnlich hübsch waren, stand Pippa im goldengrünen Licht unter den Bäumen vor dem Schulpavillon und wartete, bis sie an der Reihe war, den anderen irgendein Bildchen auf ihrem Smartphone-Display zu zeigen. Alle kicherten. Sie klangen wie Vögel.

Alle hatten sie ganz ähnliche Stimmen. Sie waren alle gleich! Aber das schien nur so. In Wirklichkeit waren sie es nicht, und in Wahrheit unterschied sich jedes der Mädchen in beinahe allem von den anderen. Alle hatten sie ihre eigene Geschichte, ihre Ängste, ihre Sehnsüchte. Und alle ihr Leben vor sich. Keins würde dem anderen gleichen, auch wenn man ihnen das Gegenteil wieder und wieder weismachte. Kurz stellten sich ein paar Jungs zu ihnen. Deren Frisuren waren das einzig Auffällige an ihnen, als hätten sie blonde Helme oder Mützen auf. Schon trotteten sie weiter, linkisch und schlaksig, und Merz blickte ihnen nach, als sie auf dem Parkplatz durch die Sonne und an ihm vorbeistapften. Fast genauso alt waren Moritz, Flori und er gewesen, als damals ein dänisches Mädchen in ihr Dorf und dort zu seiner Tante zog. Ingers Eltern waren wenige Wochen zuvor beim Segeln auf der Ostsee ertrunken. Er erinnerte sich, wie sie ihm in ihrem so klaren Englisch davon erzählt hatte. Solsort hieß das Boot, auf Dänisch bedeutete das Amsel, und Inger sagte, bei jeder Amsel, die sie sah, denke sie an ihre Eltern. Sie saßen vor der Turnhalle im Schneidersitz auf dem von der Sonne aufgewärmten Asphalt und warteten auf die anderen. Inger Rasmussens Gesicht war voller Sommersprossen gewesen.

Er hielt sich hinter einem Forsythiengebüsch verborgen. Pippa und ihre Freundinnen griffen sich ihre Taschen, dann gingen sie zu einem Fahrradunterstand ganz aus Wellblech, wo sie ihre Räder aufschlossen. Schon gondelte ihr kleiner Pulk los, und Merz musste sich entscheiden, wie es weiterging.

Sollte er ihr nachfahren?

Deswegen bist du doch hergekommen.

Also los! Er stieg in den Phoebus. Er fuhr, den Mädchen hinterher. Herausfinden, wo und wie sie lebte. Wissen, was aus Inger und Moritz geworden war. Nein. Nein, das war nicht der wahre Grund. So wäre es vielleicht gewesen, hätten sie sich in Berlin getrennt, wie Leute sich trennten, weil sich die Dinge nun mal änderten und das Leben trotzdem weiterging. Aber so war es nicht. Die Dinge hatten sich geändert, und das Leben war nicht weitergegangen. Es hatte nur den Anschein gehabt.

Eins der Mädchen führte am Lenker ein leeres Fahrrad neben sich her, schon lange hatte er das nicht mehr gesehen. Und wie früher schon, als er selbst noch so jung gewesen war, freute ihn, das zu sehen, es erinnerte ihn an ein paar Reiter, die er irgendwann mal – in der Nähe des wilden Gartens – dabei beobachtet hatte, wie sie zwischen ihren Pferden ein Fohlen mitführten, auf dem aber natürlich niemand ritt.

Der Heimweg der Mädchen verlief entlang einer nicht enden wollenden Kastanienallee, die dem Alsterlauf folgte und auf der abendlicher Pendlerverkehr eingesetzt hatte. So wie am westlichen Stadtrand, wo Floriane, Pippa, Linda und er lebten, wälzten sich auch im Nordosten die Blechkolonnen tagtäglich unter den teilnahmslos vor sich hin rauschenden Bäumen hindurch, morgens stadteinwärts, abends wieder hinaus, dreihundert Tage und öfter im Jahr immer dasselbe. Die Jugendlichen schien es nicht zu kümmern. Sie hatten es nicht eilig und gondelten so dahin. Auf einmal aber bogen die Fahrräder ab, die Mädchen verschwanden zwischen lauter abgestellten Autos, die eine ganze, sacht eine Anhöhe hinaufführende Straße in eine einzige Blechhalde verwandelten. Unvermittelt fand sich Merz in einer Siedlung mit hunderten englisch anmutenden, weißgetünchten und beinahe vollkommen identischen Doppelhäusern wieder.

Langsam, in sicherem Abstand, folgte er dem Pulk. Ein erstes Mädchen verabschiedete sich, und alle übrigen winkten und riefen der Schulfreundin noch etwas nach. Es war ein ruhiger, fast dörflicher Stadtteil, den er nicht kannte. Eine Katze überquerte ohne Eile die Straße. Berberitzenhecken umgaben Vorgärten mit symmetrisch gestutzten Weidenbäumen, aus deren Kronen hier und da eine Schaukel herabhing. In den Carports und Auffahrten parkten Familienkutschen, nicht selten ein neuer Phoebus. Sie lebt in einer Siedlung für Phoebusfahrer wie mich, dachte Merz, in einer Phoebussiedlung! Es gab Fahnenmaste. Es gab Gartenhäuser. Es gab Baumhäuser. Es gab Kanus und Kajaks unter Kanu- und Kajakabdeckungen. Es gab mit bunter Kreide auf den Asphalt gemalte Kopffüßer. Floriane hätte es als Neandertalersiedlung bezeichnet und sich darüber mokiert, zumal wenn sie gewusst hätte, dass auch Inger und Ingers Kind und vielleicht ihr Mann hier wohnten. Aber Merz hatte von den Neandertalern ohnehin eine abweichende Ansicht, seit im Radio berichtet worden war, dass sie sich vermutlich über Gesänge miteinander verständigt hatten, über ihre schönen Neandertalermelodien.

Das leere Fahrrad, das eins der Mädchen neben ihrem herschob, im Grunde, dachte Merz, könnte darauf genauso Prissy sitzen. Er war froh, als das Mädchen abstieg und sich verabschiedete und die anderen weiterfuhren.

Von da an waren sie nur noch zu dritt, und Pippa fuhr in der Mitte, auf einem blauen Hollandrad mit überall darauf lackierten weißen Wolken und je einem Korb am Lenker und auf dem Gepäckträger. An einem Kreisel, von dem mehrere völlig gleich aussehende Straßen abzweigten, blieb das Trio stehen. Die beiden anderen Mädchen umarmten Pippa, dann trennten sie sich, um in unterschiedliche Richtungen davonzufahren. Und auch er fuhr wieder an und weiter Ingers Tochter hinterher. Jetzt war sie allein, und als gäbe es einen Zusammenhang zwischen dem Kind und dem Licht, fiel Merz auf, dass es schon fast Abend war. Die Septembersonne stand tief jenseits hoher alter Bäume, die ein Wäldchen bildeten, um das erst Pippa und dann auch er herumfuhren. Er folgte dem Wolkenfahrrad durch immer schmalere Wohnstraßen und achtete mit jeder Minute vorsichtiger darauf, einen Abstand einzuhalten, der das Mädchen gar nicht erst Verdacht schöpfen ließe.

Dann war es auf einmal so weit. Innerhalb eines einzigen Augenblicks endeten die ganzen Jahre. Am Rand des Wäldchens standen Einfamilienhäuser im Schatten großer, schwer belaubter Kastanien, dort lenkte Merz den Phoebus um eine Kurve, musste kurz stoppen, fuhr weiter und stellte fest, dass Pippa verschwunden war.

Es gab nur vier Häuser, die infrage kamen, und alle sahen sie fast identisch aus. Doch er brauchte gar nicht lange zu suchen. In der Garagenauffahrt des zweiten stand das weiß getüpfelte Fahrrad, und auch wenn von dem Mädchen selbst nichts mehr zu sehen war, konnte er sich sicher sein, Pippas Zuhause gefunden zu haben. Fünf gusseiserne Buchstaben prangten an einem um das Haus laufenden weißen Mäuerchen: Rauch.

Er wendete am Ende der Sackgasse, beobachtet von einem Jungen, der dort auf dem Bürgersteig stand und ihm vorkam wie ein Abbild von Moritz im Jahr 1973. Während der Phoebus lautlos an dem glotzenden Knirps vorüberglitt, blickte ihm Merz in sein Mondgesicht: Das Kind verzog keine Miene. Es war ein dicklicher kleiner Kerl, sommersprossig, stupsnasig, bebrillt und mit einer Zahnspange ausgerüstet, über die ab und zu seine Zungenspitze leckte. Wie oft hatte der Junge sie gesehen? Für ihn war Inger einfach die Nachbarin, Frau Rauch, und ihr Mann Moritz vielleicht ein Freund seines Vaters, jedenfalls kein Fremder, und Pippa passte womöglich auf ihn auf, wenn seine Eltern abends essen gingen, ab und zu bestimmt zusammen mit den Rauchs. Mit dieser Vorstellung fuhr Merz langsam, ohne dem Haus und seinem Mäuerchen weiter Beachtung zu schenken, zurück in die Siedlung, und als würde es aus ihrer Mitte aufragen in den Himmel, stand ihm noch lange das Kastanienwäldchen vor Augen.

Bis er zu Hause in Sülldorf sein musste, weil sich Floriane sonst Sorgen machte oder ihr etwas spanisch vorkam, blieb noch Zeit. Beim Tag begann Bruno jeden Abend gegen halb sechs, den täglichen Kaffeebecher- und Pappschachtelmüll vom Schreibtisch zu räumen. Donnerstag. Linda ging seit Kurzem donnerstagabends zu einem Therapeuten, der, wie sie sagte, mit ihr über das redete, was in ihrem Leben nicht ihr gehörte. Prissy machte sich währenddessen um halb sechs auf den Weg zum ihr verhassten Hockeytraining. Ebenfalls donnerstagabends erledigte Floriane in der Ferdinandstraße die Praxiskorrespondenz, für die unter der Woche keine Zeit war, weil ihr die Leute mit Parodontitis und lockerem Zahnhalteapparat die Bude einrannten. An einem gewöhnlichen frühen Donnerstagabend lief Raimund Merz über die Fleetufer vom Büro zum Hauptbahnhof, stellte sich für eine Viertelstunde auf einen stilleren Fernzugbahnsteig und überließ sich für eine Viertelstunde seinen Gedanken. Hierin lag sein Glück. In diesen Minuten hatte er kein Alter, keine Pflichten, keine Fehler, keine Pläne, keinen Kummer. Von April bis Oktober konnte man sich fast sicher sein, dass ein leicht rosiges Licht die Bahnsteighalle erfüllte, und im Winter, wenn es meist zu trüb dafür war, reichten ihm die Erinnerungen an die Feldmark und die Vorfreude auf das kommende Frühjahr.

Dieser Donnerstag aber war kein gewöhnlicher. War es überhaupt ein Tag? Er kam ihm wie aus der Zeit gefallen vor, und deshalb verdiente er auch eine andere Bezeichnung als ein x-beliebiger Tag, der nach dem Donnergott hieß. Es war ein Phoebustag. An diesem Abend nämlich war er weit entfernt von Hauptbahnhof und Tag-Redaktion unterwegs mit dem Phoebus. Je später er auf den Ring fuhr, umso weniger dicht wäre dort der Verkehr.

Er musste was essen, ein Unterzuckerungsgefühl stieg in ihm auf, er wurde ungehalten, schön, endlich! War das nicht in Wirklichkeit ein Hochgefühl? In eine Birne, einen Apfel hätte er auf der Stelle die Zähne geschlagen und alles hinuntergeschlungen, Stiel und Kerne, Vorsicht, ein Obstvernichter am Steuer! Und zu einem, der darüber den Kopf geschüttelt hätte in einem popeligen Lexus oder Prius Plus an der Ampel neben seinem Sonnenwagen, hätte er rübergerufen: »Na, Grubengaul, wieder krummgeschleppt heute?«

Das glotzäugige dicke Kind in Ingers Straße hätte er nicht einfach so davonkommen lassen sollen.

»He, willst du Raumschiffkapitän werden?«

Der Junge hätte vielleicht genickt, bestimmt aber gestaunt, von einem Dahergelaufenen durchschaut zu werden.

»Daraus wird nichts! Du wirst Bankangestellter, leider kann ich hellsehen«, hätte Merz gesagt oder sagen sollen.

Erfüllt von Heißhunger auf etwas Süßes, trieb es ihn durch den ehemaligen Dorfkern, der nun »Einkaufsdorf« hieß und das Zentrum des Stadtviertels an der noch immer grünen Peripherie bildete. Dort stand eine Backsteinkirche, an deren rotem Türmchen ein schlaffes Refugees welcome-Banner hing. Es gab eine Sparkasse, in der der dicke Junge seine Ausbildung würde machen können, eine Post, einen Italiener, eine Bäckerei mit Namen »Bäckerei«, ein paar Läden und ein Eiscafé, vor dem wie vom Himmel gestürzt lauter Kinderfahrräder und Roller auf dem Bürgersteig lagen.

Es gab kein Entrinnen. Zorn und Aufgewühltheit machten höchstens die Schranken deutlicher, gegen die einer wie er mit dem Kopf voran anrannte. Existierte denn eine Mauer, die sein Leben umgab, sein Haus, die Stadt, das Land? Nein. Oder ein freies, offenes Feld, auf das man jubelnd hätte hinausgelangen können? Nein. Wo war alles besser, lichter, freier und anders? Nirgends? Ja. Und das hieß?

»Druckertankstelle«, sagte Merz laut. Das stand über einem der Geschäfte.

Druckertankstelle. Im Grunde war alles zum Weinen.

Zum ersten Mal kam ihm der Gedanke, dass Linda die Sachen ihrer Mitschüler vielleicht deshalb an sich nahm, weil sie die Dinge in ihrer Unglückseligkeit durchschaute und verschwinden lassen wollte. War das möglich?

Hab keine Angst, sagte er sich, als er parkte, und seltsam, dieser Gedanke erleichterte ihn.

In der »Bäckerei« waren die beiden Bäckereifachverkäuferinnen, eine junge und eine ältere, am Zusammenräumen und Ausfegen. Nur noch wenige Brote lagen in den Regalen, darunter die Schüttfächer für Schrippen und andere Brötchen waren schon leer.

Durch die Tresenscheiben betrachtete er das restliche Gebäck, übrig gebliebene Florentiner, Nussecken, Plundertaschen, Makronen und Amerikaner, schillernd in gelbgoldenem Licht. Fast alles sah klebrig aus und unappetitlich, und die paar Kuchen- und Tortenstücke, die noch auslagen, wirkten wie in der Hitze immer wieder zerflossen und von den beiden wortlos vor sich hinarbeitenden Verkäuferinnen mühsam ein ums andere Mal zusammengeschoben.

»Was darf es sein?«

Dutzende Wespen krabbelten über die glasierten Kekse, Striezel und Schnecken. Man sah die Schleifspuren ihrer Hinterleiber im Zuckerguss, die Abdrücke ihrer Hakenbeine und die Löcher und Lücken, die ihre Zangen in den Mürbeteig rissen.

»Sie wünschen bitte?«

Es waren große, kleinere, ältere und junge Tiere. Auf Anhieb erkannte Merz mindestens drei verschiedene Arten.

Er blickte der Verkäuferin ins Gesicht, konnte darin aber keinerlei Regung erkennen. Ausdruckslos sah ihn die junge Frau an, und Merz fragte sich, ob er auf sie wohl den gleichen Eindruck machte. Er stellte sich vor, wie diese Auszubildende mit langem Hals und dürren Armen Stammkunden bediente, etwa Inger, die ein Graubrot verlangte. Oder wie am Sonntagvormittag Herr Rauch mit den letzten zehn quer über den Schädel gekämmten Haaren die wie üblich am Vortag bestellten Frühstücksschrippen abholen kam, mit dem Trekking-Rad, in Begleitung Pippas. Sie nannte ihn Moritz. Und er das Kind seinen Spatz. »Mauerritze« hatte Pippas Mutter früher zu ihm gesagt, sobald der gemeine Moritz aus dem allseits beliebten Moritz hervorkroch.

»Moritz … Maurids … Mauerritze!«, hatte sie gesungen.

Die meisten waren Deutsche Wespen. Aber auch einige Sächsische und ein paar Feldwespen hatte der süßliche Geruch in die Bäckerei gelockt. Sie mussten unten am Fluss oder drüben auf dem Friedhof ihre Nester haben. Auch ein paar Schwirrfliegen gab es, aber die waren allesamt tot, geköpft, zerschnitten, avocadogleich halb ausgehöhlt und verspeist von den Wespen. Wäre sie so groß wie ein Bussard, hatte Merz in einem seiner Hautflügler-Artikel geschrieben, die Sächsische Wespe könnte mit ihren Zangen ein Fahrrad in Stücke reißen. Die sich hierher verirrt hatten, wirkten abgekämpft und entkräftet. Schon seit Stunden suchten sie nach dem Ausweg aus der Zuckerhölle.

»Keinen klaren Gedanken kann man fassen bei so einer Gluthitze«, sagte er in der Hoffnung, damit sein Zaudern zu entschuldigen. »Oder kommen viele Leute zu Ihnen und kaufen frisch und munter ein Graubrot?«

Der erleichterten Verkäuferin huschte der Anflug eines Lächelns übers Gesicht. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn, als wäre das eine Antwort.

Entweder sie wusste keine oder wollte keine geben.

»Geben Sie mir … eine Rosinenschnecke bitte.«

Die Feldwespe ernährte ihre Larven nicht mit Fliegenfleisch wie die Hornissen und die meisten anderen Wespenarten, sie verfütterte ausschließlich Bienenhonig.

Er zahlte und bedankte sich. Doch anstatt zu gehen, blieb er vor dem Tresen stehen und blickte die Verkäuferin teilnahmslos an.

Sie hatte eingefallene Wangen. Was dachte sie? Hau ab, weg, mach, dass du wegkommst?

Nichts fürchteten Honigbienen mehr als Honig witternde Wespen.

Er fragte die junge Frau, wie weit es zu Fuß bis zum Alsterufer sei.

Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn entgeistert an.

Aus dem Hinterzimmer, wo früher vielleicht die Backstube gewesen war und ein Bäcker ab drei Uhr in der Früh backte, Brötchen und Brot, rief ihre ältere Kollegin, die dort unvermindert mit dem Besen herumrumorte: »Am Kreisel rechts runter, dann sieht man schon das Wasser – wenn noch welches da ist!«

Sie lachte.

Und die Auszubildende kicherte.

»Heuschrecke«, sagte Merz zwar leise, aber vernehmlich, und riss dabei die Augen so weit auf, dass sie ihn fassungslos anstarrte. Wieder draußen in der Hitze, sah er sie durch das Schaufenster, in dem der Zucker zerfloss; nach Feierabend schaufelte sie ihn mit einer angewiderten Grimasse in den Müll. Arme, verängstigte Gebäckheuschrecke.

Im Schatten unter den Uferbäumen war es merklich kühler. Dennoch führten nur vereinzelte Leute ihren Hund aus oder gingen spazieren, und es joggte auch kaum jemand.

Über die Wege flimmerten die Muster des Lichts, das durch die dichten Baumwipfel bis auf den Erdboden fiel. Die unten in der Stadt zu zwei Seen aufgestaute Alster war hier oben im Hamburger Nordosten an ihren schmalsten Stellen nicht breiter als ein Feldweg. Steinerne kleine Brücken überspannten das Flüsschen. Erstaunlich schnell floss es dahin, morastig braun in der Sonne, unterm Blätterdach der Birken und Eschen hingegen dunkelgrün und golden leuchtend.

Im Gehen griff Merz immer hastiger in die Papiertüte und riss sich süße Happen von der klebrigen Schnecke, und er genoss es, sich dann jedes Mal neu den Zuckerguss von den Fingern zu lecken. Stundenlang hätte er so weiterlaufen können, allein mit sich, in diesem schönen Licht, in diesem angenehm kühlen Schatten am Ufer der ihren Blumenvasengeruch verströmenden Alster, mit dem Ausblick – gleich, ob er ein trügerischer war –, sein Leben endlich in die eigene Hand nehmen und die Dinge wohin auch immer biegen zu können. Als er aufgegessen hatte, zerknüllte er die Tüte in der Faust und bewarf mit dem Knäuel ein paar vorüberschwimmende Enten, die sich auf der Stelle über das Papier hermachten und es wie von Sinnen zerfetzten. War das zu fassen? Erschüttert, weil er merkte, wie ihm die Tränen kamen, blieb er stehen.

Die Enten schwammen weiter, und was von der Tüte übrig war, das ging unter und löste sich im Wasser auf, während er am Ufer stand, die zerstörerische Gier auf sich bezog und dem Kummer und Unmut, die er seit Tagen zurückdrängte und totschwieg, nichts mehr entgegenzusetzen wusste. Er war maßlos wütend. Aber zugleich verspürte er eine abgrundtiefe Traurigkeit. Wäre er in diesem austrocknenden Auenwäldchen tatsächlich allein gewesen und nicht noch immer übervorsichtig, um ja kein unnötiges Aufsehen zu erregen, er hätte laut losgeheult.

In diesem Zustand, der ihn außer sich sein ließ und doch ganz bei sich, ging ihm Floriane durch den Sinn. Was war der Grund dafür, sein schlechtes Gewissen, weil er Inger so unverfroren nachstieg? Er hatte kein schlechtes Gewissen. Er hatte fast ein Drittel seines Lebens auf diese Gelegenheit gewartet. Dennoch fühlte er sich seiner Frau mit einem Mal so verbunden wie seit Jahren nicht mehr. Wäre nur eine Übereinkunft mit ihr möglich! Aber nicht mal aussprechen konnte er sich mit Flori. Dabei war er sich sicher, dass sie beide noch immer der zornige Kummer verband, der sie vor so langer Zeit ein Paar hatte werden lassen.

Merz erinnerte sich an die heftigen Tumulte, nachdem Inger schwanger geworden war und ihre Viererfreundschaft am Müggelsee auseinanderbrach. Er dachte an die Zeit zurück, als Jahre später ihre Jüngste ein Baby war und abgesehen von ein paar Stunden am Nachmittag, wenn die Kleine erschöpft schlief, von morgens bis abends und fast jede Nacht aus Leibeskräften schrie. Linda brüllte, schien ihnen, wie kein Kind je gebrüllt hatte. Um zu schreien, schien sie auf der Welt zu sein. Es gab kein Gegenmittel, nichts und niemand konnte ihnen helfen. Durch nichts ließ sich das kleine Mädchen davon abbringen, seinen Schmerz, seine Verzweiflung oder was immer es war, der Welt entgegenzubrüllen. Sie verbrachten diese Monate in dumpfem Schweigen nebeneinander, zermürbt von einem Lärm, der nicht furchtbarer gewesen wäre, hätten sie in einer Wellblechhütte unmittelbar neben der Autobahn gelebt. Flori entdeckte schließlich wenigstens für sich eine stille Nische, indem sie sich täglich für ein paar Stunden hinter zwei Feuerschutztüren in einem lärmdichten Kellerraum verbarrikadierte. Während sie unten döste, ein kieferchirurgisches Fachjournal las oder einfach nur die weiße Wand anstarrte, ging er mit verstopften Ohren oben im Flur hin und her. Alles im Haus vibrierte, wenn das Baby brüllte. Priska, die drei war, bekundete des Öfteren ihre Verwunderung darüber, wie still die Welt war, sobald man draußen vorm Haus stand. Er hatte Lindy auf dem Arm und blickte aus vor Müdigkeit schmerzenden Augen fassungslos in den brüllenden Kinderrachen. Sein schreiendes Kind war von unbändiger Kraft. Alles, was es war, setzte es in jedem Moment aufs Spiel. Etwas stimmt nicht, schien ihm Linda schon als kleiner Wurm mitteilen zu wollen, etwas kann nicht richtig daran sein, dass ich nicht mehr dort bin, wo ich selig war.

Blicklos, mit nach innen gekehrten Augen, saß Merz in seinem vor der Druckertankstelle parkenden Hybridauto und überließ sich seinen Erinnerungen. Damit die Klimaanlage die stickig heiße Luft im Wageninnern kühlte, stellte er den Motor an, und es dauerte nicht lang, da kam auf dem Gehweg ein verhutzelter Rentner vorbei und forderte ihn mit zwar stummen, aber abfälligen Gesten beharrlich dazu auf, zu verschwinden und nicht länger die Luft zu verpesten.

Durch die Windschutzscheibe sah Merz den Alten lange an, bewegte sich aber nicht. Erst als der Mann anfing zu pöbeln, zeigte er ihm die Faust, spreizte den Daumen ab, dann den Zeigefinger und zielte auf ihn wie mit einer Handfeuerwaffe, ehe er so lange auf die Hupe drückte, bis der erschrockene Greis fluchend das Weite suchte.

Merz ließ das Seitenfenster hinunter. »Ist was, bucklige Brotspinne?«, schrie er dem Rentner nach. »Bist du der, dem hier die Luft gehört? Mach, dass du wegkommst, du Luftbesitzer, oder ich fahr dich über den Haufen! Glaubst du nicht? Dann komm her, stell dich vor meinen Kühler! Ich fahr dich platt, so platt wie ein Blatt.«

»Raimund, bist du das?«

Merz war sich nicht sicher, ob er richtig gehört hatte. Eine ihm unbekannte Frau rief nach ihm, eine Fremde mit allerdings vertrauter Stimme. War das möglich?

»Was machst du? Hör doch auf, was soll denn der Lärm!«

Wer rief da, wer war die Frau?

Er hatte sie nur im Augenwinkel gesehen. Jetzt blickte er über die Schulter und sah dort auf dem Bürgersteig neben seinem Auto Inger stehen. Sie beugte sich zu ihm hinunter. Sie trug enge Jeans, ein ärmelloses grünes Top und im Haar ein zum schmalen Band gefaltetes weißes Tuch. Sie hatte einen leeren Einkaufskorb dabei, er baumelte ihr von der Armbeuge.

Sie war eine Einbildung. Ein Phantom im Einkaufsdorf.

»Mama, wer ist der Mann?«, fragte das Mädchen, das hinter Inger stand und einen jungen Hund mit auffällig langen Beinen an der Leine führte. Der Hund bellte, er war rötlich braun, fast wie ein Fuchs, er kläffte in seine Richtung, und als Merz endlich aufhörte, wie besessen auf die Hupe zu drücken, erkannte er auch, dass das Mädchen Pippa war.

Ihm wurde bewusst, dass der Motor des Phoebus lief. Er konnte fahren, einfach wegfahren, ganz gleich, wohin.

»Sleipy, hör auf, sei jetzt ruhig. Aus, Sleipner!«, sagte das Mädchen zu dem Hund.

»Raimund, was machst du hier?«, fragte die Frau, die wie Inger aussah; sie blickte durch das Seitenfenster zu ihm herein, sie war keine Armlänge entfernt.

Merz starrte auf das weiße Band in ihrem Haar. Es war mit Blumen bestickt, kleinen bunten Blütenblättern.

Sleipner … der Name, er passte gar nicht zu einem so jungen Hund, so einer spiddeligen Töle … Mit diesem Gedanken gab er Gas – oder Strom –, und der Phoebus, der sonst nur so dahinsurrte, sprang aus der Parklücke. Er war der Fahrer eines Hybridfluchtwagens. Er raste davon, kachelte die Straße runter, weiter, immer weiter durch die Siedlung, aufgewühlt, aufgebracht, fluchend erst, dann stumm, und als er nicht länger floh, glitt er durch ein anderes, ihm genauso unbekanntes Viertel am nordöstlichen Stadtrand, Sasel oder schon Berne, er versuchte nicht zurückzudenken, sondern auch diese Begegnung zu vergessen, die zweite mit Inger innerhalb von vier Tagen, und hielt sie, als er dann irgendwann auf dem Weg nach Hause war, wirklich für nie geschehen.

Er hörte Musik im Auto, hingebungsvoll lauschte er jedem Lied eines alten Cure-Albums und dachte dabei nach über alles Mögliche, nur nicht über Frauen, Töchter, Vergangenheit, Jugend, sondern ganz andere Dinge. Was treibt die Wespen an, dachte Raimund Merz, ist es denn nicht Sehnsucht? Ein Verlangen nach Besänftigung, das unbedingt gestillt werden will?

Später hatte er mit Floriane und Priska auf der Terrasse gegessen, und am violetten Himmel waren Wärmegewitter aufgezogen, die bei Einbruch der Dunkelheit kühlen Wind vor sich hertrieben und mit weithin sichtbaren Blitzen und lautem Donnern von Westen den so lange ersehnten Regen brachten. Im Garten wogten die Baumwipfel. Geisterhaft peitschte es die Schlehen und Johannisbeerbüsche im Wechsel mit ihren Schatten hin und her. Windwellen liefen durch die Hecken, ehe sie übersprangen auf das Gras. Quiekend vor Freude an der eigenen Bangigkeit hüpfte Priska in Bikini und T-Shirt über den schwarzen Rasen und tat alles, um ihre Mutter zu einem Regentanz zu animieren, der aber Floriane bloß peinlich war und den sie lieber fotografierte: Priska Marie, wie sie die Hüften kreisen ließ, die nackten Arme flehend gen Nachthimmel reckte und schließlich laut jubelnd auf die Knie sank, um dem Regengott zu danken.

Unmittelbar überm Haus war dann das Gedonnere losgebrochen. Und mit einer einzigen machtvollen Bö hatte ein Wasserwind angehoben, der einen dichten Guss aus dicken warmen Tropfen über den Vierteln am Fluss, den Elbinseln und bestimmt dem ganzen Hafen ausschüttete.

Müde und ausgelaugt hatte er sich zurückgezogen und war zu Bett gegangen, in Unruhe versetzt von fiebrigen Erinnerungen an den Tag und irgendwie erregt und gleichzeitig angewidert von einem großen blasslila Strauß Blumen auf dem Wohnzimmerglastisch, wo er einen Duft verströmte, als hätte alles Übrige seinen Geruch eingebüßt.

Stundenlang lag er in seinem Schlafzimmer unter dem gekippten Fenster. Nur mit einem Laken zugedeckt, lauschte er dem besänftigenden Prasseln des Regens, der auf die knarrenden Baumkronen und die längst unter Wasser stehende Terrasse fiel. Auch lange nach Mitternacht war es im Zimmer nicht vollständig finster; immer wieder tauchte ein Blitz über Osdorf den Himmel schockartig in grelles Licht, dann malte sich Merz die Philippinos auf einem elbabwärtsfahrenden Frachter aus, und jedes Mal kam es ihm vor, als erhelle das Gleißen auch seine Gedanken. Was ihm seit Tagen, wenn nicht Jahren unklar gewesen war, sah er mit einem Mal deutlich vor sich. So wie er fraglos wusste, dass Nacht war und er in seinem Bett unter der tapezierten Dachschräge lag, meinte er plötzlich zu begreifen, weshalb er nie wieder von Moritz gehört hatte und von dem früheren Freund nicht das Geringste in Erfahrung zu bringen war.

Natürlich war es nur eine Vermutung, aber sprach nicht vieles dafür, dass Moritz gar nicht mehr am Leben war?

Kein Mensch hätte Merz verständigt, wenn Moritz tatsächlich etwas zugestoßen war, keiner außer vielleicht Inger.

Lange dachte er darüber nach, und die Bilder, die ihm durch den Kopf gingen, lösten immer neue aus, Bilder, die er viel zu lange verscheucht hatte, sobald sie aufgetaucht waren.

Die Eltern von Moritz waren Ende der neunziger Jahre tödlich verunglückt, als sie mit ihrem Jaguar auf einer Landstraße der Ostseeinsel Fehmarn unter einen Sattelschlepper gerieten. Merz war ihnen stets ein Dorn im Auge gewesen. Denn in nichts schien dieser Raimund auch nur entfernt etwas darzustellen, was ihren Sohn hätte voranbringen können. Was sollte so einer anderes sein als ein Bürschchen, und was aus so jemandem werden, wenn nicht ein Halbstarker und später irgendein Mensch?

Raimund Merz lebte mit seiner Mutter in einem Reihenendhaus im unteren Teil des Dorfs. Die Mutter war zuvorkommend, wenn man anrief, um nach dem Verbleib des eigenen Kindes zu fragen, aber sie war, Gott, eine Verkäuferin. Ab und an ließ es sich nicht vermeiden, in dem Laden, in dem Frau Merz hinterm Tresen stand, ein paar Kleinigkeiten einzuholen; betretenes Schweigen. Der Vater wer weiß wo, die Mutter alleinerziehend und der Sohn eine Plage, widerborstig, mal maulfaul, mal rotzfrech.

Hätten der Tanke-Rauch und seine Frau es noch erlebt, der Bruch ihres Sohnes mit dessen vermeintlichem Freund aus dem Unterdorf hätte sie nicht betrübt, eher erleichtert und bestätigt. Ja, erlöst! Man hatte diese sogenannte Freundschaft jahre-, jahrzehntelang hingenommen, mehr aber, nein, nicht. Wer war man denn?

Als junger Mann hatte Arno Rauch, wie er gern herumposaunte, die Gelegenheit beim Schopf gepackt, eh sie kahlköpfig war. Von allen außer dem Gemeindevorsteher belächelt, hatte er die Tankstellenruine am Ortsrand erstanden und Dach, Werkstatt und Zapfsäulen eigenhändig in Schuss gebracht. Über Wochen stand er in der hallenden Dunkelheit der zwei verrosteten unterirdischen Benzin- und Dieseltanks und schweißte dort, als wäre er persönlich der Schwelbrand in einem Kohleflöz.

Als an der Tankstelle im Dorf schließlich wieder Autos hielten, bekam der junge Rauch von Gemeindevorsteher Alberich die Erlaubnis, um die Hand der Tochter anzuhalten und von Noras Mitgift zwei Tankstellen in Nachbardörfern zu erwerben. So wurde aus Arno Rauch der Tanke-Rauch.

Jedes Jahr kauften Rauchs mindestens eine alte Tankstelle, ließen sie grundsanieren und rüsteten sie mit einer Waschanlage aus. Im Jahr, als Moritz zur Welt kam, gehörten seinen Eltern neunzehn Tankstellen zwischen Bad Oldesloe und Hamburg-Billstedt, »ein kleines Imperium«, hatte Merz gedankenlos einmal zu äußern gewagt und war dafür von seinem Freund so lange wie Luft behandelt worden, wie dessen Vater in der Erde unter seiner ersten Tankstelle mit dem Schweißbrenner geschuftet hatte.

Achtundzwanzig, zweiunddreißig, vierunddreißig Tankstellen gehörten Rauchs zur Blütezeit der allgemeinen Kohlenmonoxid-Verpestung. Moritz machte seinen Führerschein und holte morgens mit dem alten Saab seiner Mutter den Freund ab, um über die neugebaute Autobahn zur Schule zu heizen. Es waren die gedankenlosen Jahre, satt und sorglos, die Jahre der Eigenliebe in den Zeiten der Kohl-Ära.

Um auch diesmal alle Spuren von Selbstverschulden zu verwischen, wurde für den so unerwarteten wie unaufhaltsamen Niedergang des Tankstellenimperiums ebenso eine Freundschaft verantwortlich gemacht, allerdings dürfte die zu keiner Zeit eine echte gewesen sein. Es gab in der Gegend einen Mann, der für ähnliche Furore sorgte wie der Tanke-Rauch, und mit diesem Gebrauchtwagen-Hai ging Arno Rauch eines Tages, der wohl nicht zu seinen besten gehörte, eine fatale Verbindung ein, indem er Hajo Kossleck, den Auto-Kossleck, zu seinem Kompagnon machte.

Merz sah die beiden siegesgewissen Männer wieder vor sich, während er im Dunkeln in seinem Zimmer lag und vor dem Fenster der Regen in die Sträucher brauste. Sie lehnten am Kotflügel eines riesigen BMW und grinsten, als würde ihnen beiden zu gleichen Teilen die Sonne gehören. Moritz’ Vater und der Auto-Kossleck waren überzeugt gewesen, mithilfe des anderen dem eigenen Glück Glanz und Dauer verleihen zu können. Aber daraus war nichts geworden, sogar weniger als nichts. Er war vielleicht zwanzig gewesen und hatte mit mäßigem Interesse, aber großem Staunen den Ruin von Moritz’ Vater mitverfolgt, als in den Jahren, in denen man an Tankstellen in ganz Stormarn und schließlich sogar Lübeck tanken, sein Auto waschen und einen Billiggebrauchtwagen kaufen konnte, Gier, Mauscheleien, Schlampigkeit und Arroganz Einzug hielten. Gebrauchtwagenverkäufer bedienten sich freizügig an den Zapfsäulen, Tankstellenangestellte erhielten großzügig Rabatte beim Autokauf. Für die Kunden wurde alles teurer und immer teurer, zugleich aber Waren und Service schlechter und schlechter. Irgendwann waren die Gebrauchtwagentankstellen der Gegend dermaßen berüchtigt, dass jeder, sogar einer wie Raimund Merz mit seinem Mofa, einen Bogen um alles machte, auf dem in geschwungener Schrift Rauch & Kossleck stand.

Der Tanke-Rauch verscherbelte kopflos eine Tankstelle nach der anderen und musste sich am Ende doch von seinem Partner, mit dem er seit Jahren kein Wort redete, ausbezahlen lassen, woraufhin der Auto-Kossleck binnen drei Wochen alle in der Insolvenzmasse verbliebenen Rauch-Tanken abreißen ließ, um auf den Grundstücken supermoderne Waschanlagenstraßen zu errichten, die vorgeschriebene Bodensanierung aber vernachlässigte und an den Geldstrafen dafür dann gleichfalls so holterdiepolter bankrott ging, dass er sich nicht mal mehr nach Gomera aus dem Staub machen konnte.

Ach, was ist alles dies, was wir für köstlich achten, als schlechte Nichtigkeit, als Schatten, Staub und Wind. Mit dem alten Jaguar, einem dunkelgrünen XJ Baujahr ’75, den Hajo Kossleck den Rauchs zum fünfjährigen Firmenjubiläum geschenkt hatte und den Moritz gern die Blechflunder nannte, chauffierte der Sohn seine vom Übel der Welt gebeutelten Eltern noch einige Sommer lang nach Sylt. Als dort der Bungalow flöten ging, wichen sie notgedrungen aus nach Binz zu ihrer Ferienwohnung und, als auch die unter den Hammer kam, schließlich nach Damp in eine Pension, die Nora Rauchs früher mal beste Internatsfreundin betrieb. Und immer hatte Moritz vollstes Verständnis für die Selbstgerechtigkeit seines alten Herrn, sogar wenn der mittlerweile silberhaarige Tanke-Rauch ihn beim irrtümlichen Bleifrei-Tanken erst als allerletzte Träne im Ozean verunglimpfte und dann einmal mehr schulterklopfend und mit dumpfem Bass vor falschen Freunden warnte.

War Merz das denn gewesen, ein falscher Freund? Ja, bestimmt zu der Zeit, als ihnen beiden Inger immer wichtiger wurde. Aber am Anfang, und auch grundsätzlich, nein. Sicher hatten sie beide, Moritz und er, viel zu hohe und von Beginn an uneinlösbare Ansprüche an ihre Freundschaft. Doch man veränderte sich, wurde älter, brauchte mehr und mehr Raum für seine Eigenheiten. Wo einmal kein Blatt Papier zwischen sie beide gepasst hatte, dort klaffte irgendwann ein Riss, ein Spalt, ein Graben und Abgrund, den keiner mehr schloss. Sie hätten Brücken bauen müssen, aber das war irgendwie nicht ihr Metier.

Fest stand für Merz, dass er Moritz’ Vater Arno eigentlich gar nicht gekannt hatte. Als er noch der Tanke-Rauch gewesen war, hatte er mit ihm nie ein Wort geredet. Alles an seiner Dicke-Wampe-, Dicke-Knete-, Dicke-Karre- und Dicke-Hütte-Attitüde schien darauf abzuzielen, einen gesichtslosen Spund auf Distanz zu halten und ihm damit das Gefühl aufzuhalsen, mit dem sich der Pommernjunge Arno Rauchkowski nach oben schuften zu müssen geglaubt hatte.

Einer wie Merz wusste, dass keiner sich irgendwohin schuftete, es sei denn unter die Erde. Man konnte nicht aufhören, alt zu werden, das war das Dilemma so vieler, die sich aus Angst vor der Stille, in der einen plötzlich die Dinge ansahen, flüchteten in ewiges Schaffen, Schaffen, Schaffen.

Merz wusste, dass er mittlerweile älter war als damals zu dessen krassesten Zeiten der krasse Tanke-Rauch. Von Moritz wusste er, dass dessen Vater ab und zu durchaus eine gewisse Milde an den Tag gelegt hatte, gerade später, als er nur noch der alte Rauch war. Doch die Dünkel des Verbitterten gegenüber einem, den er zwanzig Jahre lang vergeblich einzuschüchtern versucht und milde bestenfalls geduldet hatte, blieben dieselben. Die Dünkel waren das Erbe der Rauchs und eine so giftige Schlacke wie das verseuchte Erdreich unter ihren verschwundenen Tankstellen.

Wie sollte Moritz daran keinen Schaden genommen haben? Inger hatte sich das oft gefragt, und immer öfter hatte sie die Frage auch Raimund Merz gestellt. In ihrem Gesicht sah er die Liebe zu seinem Freund, und je dunkler es wurde in dem Zimmer, in dem sie saßen, oder unter den Bäumen im wilden Garten, umso dichter schob er den Kopf an sie heran. Sehr genau und doch heimlich betrachtete er aus der Nähe ihre Nase, ihr Kinn, die leicht auseinanderstehenden Schneidezähne, ihre Wimpern und den Bogen der Stirn und das Ohr, das durch ihre Haare sah, denn viel Gelegenheit, Inger Rasmussen so nah zu sein, hatte er nicht.

Ihre Schönheit war selbst in fast vollständiger Dunkelheit deutlich zu sehen.

Noch nie hatte er für entscheidende Probleme eine Lösung gehabt, schon gar nicht, wenn er sich selber als den Leidtragenden einer Entscheidung sah, und erst recht nicht gegenüber Inger, die, wie er annehmen musste, nicht ihn liebte, sondern Moritz, seinen Freund.

Manchmal trug sie das verwaschene schwarze T-Shirt von Moritz, auf dem in blassroten Lettern Nebraska stand, wie auf dem Cover von Bruce Springsteens Album.

»Wenn ich das anhabe, glaube ich immer, ich kann ihm von meiner Kraft was abgeben«, sagte sie. »Das ist dann so wie eine Energieverbindung, weißt du?«

Er stellte sich vor, das T-Shirt auf der Haut zu spüren, nachdem Inger es den ganzen Tag angehabt hatte.

»Wie durch eine Wunschkappe, ja«, hatte Merz zu ihr gesagt, und lange hatte sie ihn dann nur angesehen.

Ja, so war es; abgesehen von Moritz’ Freundin und späterer Frau gab es niemanden, der ihnen Bescheid gegeben hätte. Zumindest theoretisch wäre nur Inger auf den Gedanken gekommen, Flori und Raimund zu informieren, wenn es um Moritz’ Gesundheit ernstlich schlechtstand, zumal es einfach war, mit ihnen in Verbindung zu treten, ob über den Tag, der im ganzen Land gelesen wurde, oder Florianes Gemeinschaftspraxis mit ihrer Schwester Jette.

Allerdings war das wirklich nur theoretisch so. Denn für Flori war ihre ehemalige Freundin Inger mindestens so gestorben, wie deren Mann womöglich nicht mehr lebte.

Im Licht der ostwärtsströmenden Wolken verschränkte Merz die Hände unterm Kissen und fand das Ganze auf einmal furchtbar lächerlich.

Kopfschüttelnd, mit tränenden Augen, lag er im Dunkeln. Inger hatte sich nicht bei ihnen gemeldet, weil sie gut wusste, wie rachdurstig Flori war. Ob sie und Moritz gemeinsam am Ohlsdorfer Friedhof wohnten, ob sie getrennt oder sogar geschieden waren oder ob Moritz gar nicht mehr lebte, reine Spekulation, dachte er beiläufig, aber sofort durchfuhr es ihn so heiß, dass er sich im Bett aufsetzte.

»Ohlsdorf«, sagte er, und dann noch einmal, so laut, dass er dabei selbst erschrak: »Ohlsdorf!«

Man musste in einem solchen Fall auf sein Gefühl vertrauen. Hatte Inger nicht einsam gewirkt, ja verlassen? Wie er sie vor ein paar Tagen im Hauptbahnhof und nun in ihrer Friedhofssiedlung erlebt hatte, war sie schwer enttäuscht. Wovon?

Auch Pippa war ihm sogar im Kreis ihrer Freundinnen nicht glücklich vorgekommen. Bald würden die anderen sie links liegenlassen und auslachen wegen ihres Fahrrads voller Wolken. Es war bloß eine Frage der Zeit … Weshalb waren ihm beide so abwesend erschienen?

Sollte es möglich sein, dass Moritz tot war?

Mit einem Mal kam Merz das Leben sehr abenteuerlich vor. Alles erschien wieder möglich, alles denkbar.

Nebraska, dachte er, wieder und wieder nur diesen Namen.

Wie herausfinden, ob einer noch lebte, wenn man niemanden ohne Umschweife fragen konnte: »Gestorben? Sie meinen tot?«

Vielleicht lag es an den Regengeräuschen, vielleicht an dem so würzigen Geruch nach Erde, der durch das Fenster hereindrang und ihm in die Nase stieg, dass sich Merz so deutlich wie seit zig Jahren nicht mehr auf einmal an den wilden Garten erinnerte und die aufflackernden Gedankenbilder anders als sonst nicht beiseitewischte.

Nicht mal Moritz Rauch wünschte er den Tod. Würde er so einen also retten, wenn er könnte, einen falschen Freund, einen, dem es immer bloß um sich selbst und die eigenen Interessen ging? Selbstverständlich, und ohne zu zögern.

Wo Hamburgs östliche Vororte an Stormarn und das Herzogtum Lauenburg grenzten, begann die nur von Ackerknicks und letzten Sachsenwaldüberresten durchbrochene Feldmark. Dort waren sie mit den Rädern unterwegs gewesen, und dort hatte er mit Moritz und Flori und manchmal auch anderen Jungs und Mädchen aus den umliegenden Dörfern in den wärmeren Monaten jeden Winkel ausgekundschaftet. Später war Inger dazugekommen, ab da waren sie fast immer zu viert gewesen.

Er sah den von tiefstehender Oktobersonne golden angestrahlten Waldrand so scharf umrissen vor sich, als wären keine dreieinhalb Jahrzehnte vergangen. Er war kein niedergeschlagener Redaktionsangestellter und lag nicht in einem Dachzimmer einer Doppelhaushälfte tief in der Nacht hellwach im Bett, sondern er lag an einem unvergesslich schönen Nachmittag im warmen ausgeblichenen Gras, kaute auf einem Halm und blickte mit zusammengekniffenen Augen über das abgemähte Feld zu den Bäumen auf dem Rücken der Moräne hinüber; seit Stunden tat er das, denn er wartete und wartete und konnte nicht aufhören mit dem Warten.

An dem Nachmittag, als er so im Feldmarkgras lag, wie alt war er da? Das fragte er sich in dieser schlaflosen Gewitternacht. Du warst noch halb ein Kind … und es war einer der letzten Nachmittage, bevor im Grunde alles losging. Bevor das ganze Unglück losging. Inger … alles war noch gut an dem Nachmittag. Und wie gut es war.

Er merkte, wie ihm der Kummer in der Kehle aufstieg, aber auch, wie wütend er nach all der Zeit noch immer war. Es gibt Dinge, über die man nicht reden kann, mit niemandem, nur kann man sie auch nicht totschweigen, und ich, dachte er, werde nicht länger tun, als wäre das anders.

Aus dem Dauergeprassel war mittlerweile Nieseln geworden, ein ergiebiger Sprühregen. Sachtes Rauschen wie von einem feinen Vorhang hüllte das Dach ein, unter dem er lauschend im Bett lag. Er hörte das Wasser unten im Garten durch die steinernen Abflussrinnen gluckern, und er hörte es durch die Dachtraufen fließen, ehe es durch die Fallrohre abwärtsströmte auf die Eisengitter über den Gullys. Den Donner, sein Grollen, vernahm man nun nur noch selten und in weiter Ferne. Ein paar Vögel sangen schon. Sie mussten in den wieder reglosen Schwarzpappeln unterhalb des Bahndamms sitzen, weil aus den Bäumen ein aufgeregtes Gezwitscher herüberdrang. Irgendwo ganz in der Nähe, so früh hatte er das lange nicht gehört, klopfte ein Buntspecht.

Stille.

Da!

Und Stille.

Schon wieder …

Oder das Klopfen kam gar nicht aus dem Garten.

Nebraska. Nebraska.

Die Tür ging auf.

Obwohl im Flur kein Licht brannte, erkannte er an ihrem Umriss, dass dort im Türrahmen seine Frau stand und ihn in dem halbdunklen Raum auszumachen versuchte. Floriane betrat sein Schlafzimmer nur, wenn sie mit Staubsaugen an der Reihe war oder dem Waschen des Bettzeugs, das sie ihm dann zusammengefaltet hinlegte, denn wie so vieles andere im Haushalt, das es zu erledigen galt, bezog Merz sein Bett selbst. Und umgekehrt hielt er es genauso in Florianes Schlafzimmer und den Zimmern ihrer Neandertalerkinder an den Tagen, an denen er an der Reihe war mit Putzen, Saugen und Waschen.

»Ich kann nicht schlafen. Seit Stunden liege ich wach, da hör ich auf einmal, wie du durchs Haus rufst: ›Ohlsdorf! Ohlsdorf!‹«, sagte Flori sehr ruhig, aber mit dunkler Stimme, die von Gereiztheit und Kampfeslust kündete und praktisch ihr akustisches Streitross war.

Heiho! Und schon ging es los!

»Könntest du mir bitte sagen, was du hast? Du verduftest am Mittag aus dem Büro, Bruno ruft am Abend hier an, um sich nach dir zu erkundigen, weil du ausgesehen hättest wie ein Schwindsüchtiger, und ich muss ihn anlügen, dass du nicht telefonieren kannst, weil du völlig erschöpft wärst. Wo also warst du neun Stunden lang, hm? In der Staatsbibliothek, bei den Insektenbüchern? Du kommst nach Haus, tust, als hätte es dich zufällig in dieses Haus gespült oder als wäre ich eine Wildfremde, eine Geflüchtete, die zusammen mit ihrer pubertierenden Tochter hier in deinem Haus einquartiert wurde. Entschuldigen Sie vielmals, Herr Merz. Du stehst stumm da und murmelst vor dich hin, wenn ich dir erzähle, wie mein Tag mit fünfundzwanzig Patienten war. Dass es Linda gut geht, sage ich zu dir, nein, sie hat noch keinem was geklaut, sage ich zu dir, zumindest wird noch nichts vermisst, sage ich zu dir, und du machst dir seelenruhig eine Flasche Wein auf, sitzt mit Prissy und mir für drei Alibiminuten auf der Terrasse und guckst auf dein Handy oder in die Johannisbeeren. Und dann verziehst du dich, verziehst dich mit deiner Alkoholration in dein Trauergemach, ohne ein einziges Wort mit uns zu reden. ›Was ist denn mit Papa los?‹, will deine Tochter von mir wissen. ›Frag ihn selber!‹, hab ich ihr gesagt. ›Wieso ich denn?‹, sagt deine Tochter. ›Ihr seid doch verheiratet!‹ ›Ach ja? Bist du dir da sicher?‹, hab ich sie gefragt. Und kaum ist Ruhe in diesem Irrenhaus, brüllst du mitten in der Nacht so mir nichts, dir nichts: ›Ohlsdorf! Ohlsdorf!‹ Raimund, so nicht! Ich bin keine Asylantin. Ich bin auch nicht auf der Flucht. Und erst recht nicht auf den Kopf gefallen! Raimund, rede mit mir! Behandle mich nicht wie deine Zahnärztin. Ich bin auch nicht deine Mutter. Hast du eigentlich eine Vorstellung davon, wie es ist, mit einem Abwesenden verheiratet zu sein, einem, der abwesend ist, wenn er weg ist und wenn er da ist? Als du rein zufällig deine dänische Freundin wiedergetroffen hast, habe ich am nächsten Tag einen Strauß Lupinen ins Wohnzimmer gestellt, große blasslila Kerzenlupinen, die stehen da seit fünf Tagen, jeden Abend haben sie frisches Wasser gekriegt, aber verwelkt sind sie bei dieser Affenhitze trotzdem. Hast du den Strauß überhaupt bemerkt? Hallo, hörst du mich? Sind die Blumen ein einziges Mal in dein Nachrichtenredakteurbewusstsein gedrungen? Weißt du, was Lupinen für uns mal waren? Ich will jetzt auf der Stelle von dir wissen, warum du hier, während es draußen blitzt und donnert, im Dunkeln im Bett liegst und schreist ›Ohlsdorf‹, ›Ohlsdorf‹!«

»Ach, willst du das?«, fragte er.

»Ja, sag es mir, verflucht!«

»Geh raus und mach die Tür zu«, sagte Merz zu seiner Frau. »Ich lasse so nicht mit mir reden. ›Ohlsdorf‹! Das ist aberwitzig. Als würde ich im Bett liegen und hier wie ein Lebensmüder Stadtteilnamen brüllen. ›Harvestehude!‹, ›Eimsbüttel!‹, ›Sasel!‹« Er lachte, oder tat, als würde er lachen. »Ich habe tief und fest geschlafen, Mensch!«

Lupinen? Er hatte keine Lupinen gesehen. Lupinen waren für ihn überhaupt keine Blumen, sondern Futterpflanzen. Sie wurden angebaut, um untergepflügt zu werden, wenn sie noch grün waren. Sie dienten der Nährstoffanreicherung des Ackerbodens, so wie Esparsetten und Luzernen. Blühende Lupinen waren reich an Nektar. Dutzende Bienen-, Wespen- und Hummelarten liebten den Lupinennektar … wenn bei Hautflüglern von Liebe zu sprechen nicht zu viel des Guten war.

Der große blassviolette Strauß Blumen, der unten gestanden und dessen Geruch ihn so kirre gemacht hatte, fiel ihm wieder ein. Meinte Floriane den?

Konnte man denn bei einer Kieferchirurgin von Liebe sprechen?

Wespen lebten im Durchschnitt zweiundzwanzig Tage lang. Merz war überzeugt, dass jede einzelne Wespe auf ihre ihm unbekannte Weise diese so absurd kurze, ihr auf der Welt gegönnte Frist liebte.

Jawohl, liebte!

Die Wespe liebte jeden Lupinenkelch, der sie mit dem versorgte, wonach ihr der Sinn stand und was sie deshalb ersehnte. Nicht nur den Nektar. Wespen waren nicht gefräßig. Auch den Duft, die Farbe, das Licht der Welt im Sommer liebte die Wespe.

Wie schon unzählige Male, so war er auch jetzt drauf und dran, seiner Frau vorzuschlagen, sie solle sich statt um Kiefer lieber um Kiefern kümmern.

»Kiefernchirurgin, wäre das nichts für dich?«, hatte er sie des Öfteren beinahe gefragt.

Im Dunkeln lächelte er, sie konnte es nicht sehen.

Floriane drehte sich aber auch so mit einer Bewegung um, die ihren ganzen Zorn auf ihn verriet, und marschierte durch den Flur davon.

»Tür zu, Frau Doktor!«, rief er ihr nach.

Er lachte. Diesmal war es ein wirkliches Lachen, auch wenn es Flori nicht gerecht wurde. In ihrer Angst, vergessen zu werden, schrieb sie vor einem Treffen mit einer Freundin oder Kollegin eine Erinnerungs-SMS: »Heute sind wir verabredet. Ich freue mich darauf, Dich um 19.45 Uhr in unserem Stammlokal in Eppendorf zu treffen. LG Floriane.«

Etwas rührend Kindliches hatte sie in ihrer Scheu an sich, und er hatte das lange an ihr geliebt. Doch wie fast alles in ihrer Ehe waren sie ein Automatismus geworden, ihre Schüchternheit und seine Rührung.

»Eppendorf!«, rief Raimund Merz.

Flori – die reizend sein konnte und klug war, so erfahren wie zurückhaltend – war in ihrem ganzen Leben nur von einem einzigen Menschen je vergessen worden, und ausgerechnet diese von ihr mit gutem Recht so verachtete Frau, die ihre beste Freundin gewesen war, hatte ihr Mann wiedertreffen müssen.

Im Flur, von dem ihre zwei Schlafzimmer und die Kinderzimmer ihrer Töchter abzweigten, ging das Licht an, und schon erschien im Türrahmen erneut Floriane, diesmal jedoch nicht allein. Vor sich her schob sie Priska. Zwar schlief das Mädchen halb, davon ließ sie sich aber nicht beirren. Sie fasste Prissy bei den Schultern, drehte ihr das Gesicht in Merz’ Richtung und hielt das Mädchen fest.

»Sag deinem Vater, wieso du grad in mein Zimmer gekommen bist, um mich zu wecken.« Floriane war jetzt aufgebracht, »fuchsig« nannte sie das.

»Ich bin aufgewacht, weil Papa laut gerufen hat«, sagte Prissy wie ein Automat. »Da hab ich Panik gekriegt und bin zu dir rüber. Reicht das?«

Floriane fragte: »Was hat dein Vater gerufen?«

Und Priska sagte: »Hab ich doch gesagt. Was du auch gehört hast.«

Er sah, Priska hatte die Augen gar nicht geöffnet, und sagte sich, dass ihr alles, was sie zu erleben glaubte, morgen womöglich wie ein Traum vorkam.

Floriane sagte: »Priska, laut bitte.«

Und Priska keuchte: »›Ohlsdorf!‹, das hat Papa gerufen. Oh my god, ja, so hat es sich angehört! Zweimal, glaub ich, hat er das gerufen.«

Und wieder Floriane: »›Ohlsdorf!‹, ›Ohlsdorf!‹, ja? Bist du dir sicher? – Prissy! Priska Marie. Bist du dir sicher?«

Prissy ließ das Kinn auf die Brust sinken. »Weiß nicht«, sagte sie. »Ja. Ohlsdorf. Du hast es doch selber gehört, hast du gesagt. Ich will endlich schlafen.«

»Gut«, sagte ihre Mutter. »Ab ins Bett. Licht aus.«

Das Flurlicht ging aus. In der Stille, als seine Tochter zurück in ihr Zimmer geschlurft war, hörte Merz von Neuem den Regen vorm Fenster. Es goss wieder, und das Prasseln schluckte alle Geräusche. Kein Vogel war in dem Dauergetrommel zu hören, aber womöglich hatten sie auch einfach aufgehört zu singen.

Vielleicht war er herzlos; dennoch, gerade jetzt fand er es gemütlich im Bett. Nein, in Wahrheit war die Regennacht angenehm, das Durchrieseltwerden von Geräuschen, die ihm seine missliche Lage deutlich machten. Dieses aufwühlende Hinundhergerissensein! Denn das war er wirklich, hin- und her-, her- und hingerissen, ganz als stünde er unter dem Zauber eines machtvollen Zweifels, der ihn einerseits fühlen ließ, dass es auch um sein eigenes Leben ging, und andererseits, dass dabei alle Empfindungen seiner Kontrolle entglitten. So dunkel wie die Nacht schwebte etwas dunkel über ihm. Und die Dinge konnten binnen Sekunden eine Wendung nehmen, die alles von Grund auf veränderte. Wie oft ihm jetzt das Herz bis in den Gaumen hinauf schlug, kaum dass er sich ausmalte, was nicht alles mit seinem Leben passieren konnte.

Flori stand unverändert in der Tür. Sie wusste nicht, was in ihm vorging. Sie hatte es einmal gewusst, und Interesse daran gehabt. Aber jetzt sagte sie nichts, lehnte bloß stumm mit der Schulter am Rahmen und blickte mit zusammengekniffenen Augen ins Zimmer und zu dem Bett, in dem er lag und die Tür im Blick behielt, gleichmütig, angenehm durchrieselt und absolut unschuldig.

Doch, sie hatten einmal genau gewusst, wie es um den anderen stand. Beide waren sie Verlierer gewesen, aber hatten jeder den Verlust hingenommen und waren nicht daran zugrunde gegangen.

Da war ein Moment gewesen, an den erinnerte er sich nur vage, so schwach wie an bedeutsame Dinge in der Kindheit. Flori und er mit einem Mal allein im Wald auf der Moräne. Ihre Nähe. Ihre Haut. Ihr Atem. Immer der Kummer. Und ihr Hinweglachen. Sein Begehren. Sein Begehren, das sich ablöste von Inger, obwohl er das nicht wollte. Wie lange ging das? Jahre, Wochen, Stunden. Irrweg der rein körperlichen Leidenschaft. »Moritz, ja!«, rief sie so oft, wenn sie miteinander schliefen. »Moritz, ja!«

Aber er war nicht Moritz.

»Deine Lügen«, so begann Flori schließlich, »ich habe sie ein für alle Mal satt. Auf der Stelle sagst du mir die Wahrheit, oder du lernst mich kennen. Glaub ja nicht, ich würde Rücksicht auf deine Tochter nehmen! Wo bist du gewesen, nachdem du dich heute Mittag mit einer Lüge in deinem Lügenbüro krankgemeldet hast? Sag mir ja nicht noch mal, du wärst in der Staatsbibliothek gewesen! Ich habe am frühen Abend in der Stabi angerufen, es hat dich dort keiner gesehen, seit Wochen nicht, und nach Hause gekommen, nach neun Stunden, bist du ohne ausgeliehenes Buch, dafür durchgeschwitzt bis auf die Knochen! Raimund, du hörst mich. Lüg mich nicht an. Ich bin deine Frau. Ich bin fast fünfzig und kenne dich seit über vierzig Jahren. Ich habe verdammt noch mal ein Recht darauf, dass du mich nicht belügst. Ein letztes Mal: Wo warst du?«

Wo er gewesen war, Inger und Pippa und womöglich Moritz, wenn der noch lebte, dicht auf den Fersen, vor ihrem Haus, in ihrer Siedlung und an der Schule des Mädchens, das konnte er nie und nimmer zugeben, Floriane würde es weder verstehen noch ihm verzeihen. Stimmte denn, was sie behauptete, hatte sie ein Recht darauf, dass er sie nicht belog? Nein, nur darauf, nicht verletzt zu werden. Wo also war er gewesen in diesen neun Stunden, die sich vor seinem geistigen Auge zusehends in eine Leerstelle, eine Lebenslücke verwandelten? Allmählich wusste er selbst nicht mehr, wie er den Nachmittag und den Abend verbracht hatte, und minütlich fühlte er deshalb deutlicher die Notwendigkeit, etwas erfinden zu müssen.

»Ich denke nicht, dass du vierundzwanzig Stunden am Tag zu wissen brauchst, wo ich mich aufhalte, mein Schatz«, sagte er in einem Ton, der, um ihm Zeit zu verschaffen, eine bodenlose Frechheit sein sollte.

»Ach?«, lautete Florianes prompte Reaktion. Ihre Stimme hob sich. »Ach nein?« Schon fing sie an zu kreischen. »Seit wann denn das? Seit du hier allein das Sagen hast? Oder seit du heimlich Jugendfreundinnen triffst, mit denen dich noch etwas ganz anderes verbindet, wie du sehr gut weißt!«

»Ich habe hier nicht allein das Sagen. Aber du hast es genauso wenig«, sagte Merz ruhig. Er gab sich betont gelassen, um auch dadurch den Anschein zu erwecken, dass ihr Verdacht absurd war. »Sobald wir uns in diesem grundsätzlichen Punkt einig sind, will ich gern sehen, ob ich dir anvertrauen möchte, wo …«

»Ich gebe dir neun Sekunden«, fiel ihm Flori ins Wort. »Bis dahin sagst du mir entweder, wo du heute neun Stunden lang deine Finger gehabt hast, oder …«

»Oder was?«

Flori sagte nichts.

Sie war wirklich furchtbar aufgebracht. War das gerecht? Merz wusste sehr wohl, dass er kein hervorragender oder herausragender, kein großartiger, sondern höchstens ein mittelprächtiger, mittelmäßiger Mann und Mensch war. Er machte keinen Hehl daraus. Auch wenn sie den Unterschied gern verwischte, war er kein Nachrichtenredakteur, sondern Nachrichtenredaktionsangestellter. Immerhin schrieb er ab und zu, in jüngster Zeit allerdings häufiger, für den Tag. Ohne dass er es darauf anlegte, tauchte sogar die Chefredakteurin, Mareike Kennedy persönlich, nun ab und zu bei Bruno und ihm auf und fragte, indem sie groß wie ein Brauereipferd mitten im Zimmer stand, ob er nicht Lust habe, »mal wieder was über Krabbler zu schreiben«.

Er schien ein Händchen für naturwissenschaftliche Artikel zu haben, insbesondere für solche, die das Spezialgebiet Entomologie berührten, das hatte sich herumgesprochen und den Kollegen einigen Respekt abgenötigt, die Ehrfurcht der Bienen vor der Wespe sozusagen. Aber für gewöhnlich bestand sein Büroalltag dennoch aus Korrekturlesen, Korrespondenzpflege und, das vor allem, Hin-und-her-Gerenne. Er kannte den Keller des Magazins, in dem das Archiv lagerte, besser als der Hausmeister. Manchmal fragte er sich, ob nicht in Wahrheit er längst der Hausmeister des Tag war. Er musste überall und nirgends anwesend sein oder zumindest so tun. Aber bildete er sich deshalb gleich ein, unersetzbar zu sein? Aus eigener Erfahrung wusste er, dass dem nicht so war. Mehrere ältere Kollegen hatte man »freigestellt aufgrund suboptimal flexibler Skills«, wie es in der Sprache der zynischen Untoten hieß, mit denen Mareike Kennedy sich umgab; Mitarbeiter wie er waren gefeuert, verschrottet und entsorgt worden, und natürlich war es nur eine Frage der Zeit, dass es ihm genauso erging. Immerhin war er kein Popanz. In seinem Privatleben, in seiner Freizeit gab er sich Mühe, ein guter Vater und nach Kräften Vorbild und Ratgeber seiner Töchter zu sein, und auch als Ehemann hatte er sich nichts oder kaum etwas vorzuwerfen. Er war für seine Frau da, wenn sie ihn brauchte, und das seit einer Ewigkeit. Er nahm Floriane in Schutz vor ihren Schwestern, die dreimal hartherziger waren als sie, und er hatte seine Frau nie betrogen, und wenn er es hätte, wäre es nicht oder kaum der Rede wert gewesen, weshalb sie auch nichts davon zu wissen bräuchte. Mit Inger war es damals, als sie und er endlich zueinandergefunden hatten, etwas völlig anderes gewesen, mit Betrügen oder Hintergehen hatte es rein gar nichts zu tun. Ein einziges Mal war er aus allem herausgetreten und hatte etwas zuwege gebracht, das man einem wie ihm nie zutrauen würde. Aber, und das war es, was er sich fast jeden Tag mit gutem Gewissen sagte, er hatte es nicht für sich getan, sondern aus Freundschaft, zumindest anfangs. Außerdem wusste Flori so gut wie alles. Und es war so lange her! Verletze sie nicht. Tu der Mutter deiner Kinder nicht unrecht, dann bringst du deine Ehe und Familie nicht in Gefahr und dein Leben nicht aus dem Gleichgewicht, sagte er sich seither.

»Ich war in Ohlsdorf«, sagte er nach etwa neun Sekunden.

»›Ich war in Ohlsdorf‹!«, machte sie ihn nach. »Als ob das nicht schon die ganze Straße wüsste! Liegt hier und ruft ›Ohlsdorf!‹ durch die Nacht. Wieso, will ich wissen, wo genau, will ich wissen, mit wem und bei wem, will ich wissen, warst du in Ohlsdorf!«

Allmählich wurde es ihm zu bunt. »Was hast du gegen Ohlsdorf?«, fragte er ehrlich erstaunt. »Hast du eine Ohlsdorf-Phobie?«

Er lachte, aber nur in sich hinein.

»Sag es.«

»Was?«

»Sag es!«

»Was denn?«

»Warst du bei ihr?«

»Ihr? Bei wem denn?«

»Bei ihr und ihrer Tochter! Du weißt genau, von wem ich rede – von wem zu reden du mich zwingst!«

Gleich, endlich, würde sie in Tränen ausbrechen.

Aber sie weinte nicht.

»Entschuldige, aber ich kann dir nicht ganz folgen. Du meinst doch nicht … meinst du etwa …?«

Es regnete und regnete, aber Flori weinte nicht. Merz kam es so vor, als würde er im strömenden Regen draußen im Garten liegen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn.

Die Enten auf der träge durch die Abendhitze dahinfließenden Alster fielen ihm ein. Wie zornig sie waren.

»Woher weißt du eigentlich, dass Inger und Pippa in Ohlsdorf wohnen?«, fragte er nicht länger lauernd und unterwürfig, sondern ganz ruhig, beinahe so kaltblütig, wie er sich am Nachmittag vor der Schule des Mädchens und in der fremden Siedlung gefühlt hatte.

Flori merkte selbst, dass sie in ihrer Wut zu weit gegangen war und sich deshalb verplappert hatte.

Und plötzlich knickte sie ein. Sie sagte nichts mehr. Und als hätte sie alle Kraft aufgebraucht, klappte sie auch körperlich zusammen, ging in die Hocke, sank auf die Knie und zur Seite und kauerte dann in ihrem weißen Pyjama reglos in der Zimmertür. Und Merz hörte sie schwer atmen; und er empfand dabei nicht das geringste Mitgefühl.

»Wir werden sie nie los«, sagte sie nach einer Weile und hatte dabei auf einmal ihre ganz junge Stimme von früher. »Sie sind wie unsere Schatten.«

Und dann erzählte sie, schon vor Monaten sei ein Brief von Inger gekommen, adressiert nur an ihn, weshalb sie ihn an sich genommen und nach ein paar Wochen, in denen er ihr nicht aus dem Sinn gegangen sei, geöffnet habe.

»Bitte? Und was stand in dem Brief?«, wollte Merz fragen, tat es aber nicht. Es war nicht nötig.

»Sie schreibt, dass Moritz schwer krank ist und dass er sich wünscht, dass Pippa die Wahrheit erfährt über Inger und ihn, über dich und mich, ehe vielleicht das Schlimmste eintritt«, sagte Flori. »An mich nicht mal Grüße«, fügte sie an, »weder von ihm noch ihr. Na, habt euch ja gefunden.«

Sie schluchzte.

Merz wusste, dass er nichts weiter zu befürchten hatte. Er schwieg lange, war bestürzt, aber kam sich auch sicher vor. Er lauschte dem Regen und Florianes allmählich ruhiger werdendem Atem. Indem er durch das Fenster über seinem Bett auf die am Himmel vorüberflutenden Wolkenfetzen blickte, sagte er irgendwann tonlos, dass sie sich irre.

»Ich bin einfach schrecklich ausgelaugt. Mir war heute Mittag alles egal. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben, irgendwo im Schatten spazieren gehen, da bin ich einfach rumgefahren, im Auto war es schön kühl, bin raus an die Elbe und dann am Grab meiner Großeltern in Ohlsdorf gewesen, da war ich schon Jahre nicht. Überall in den Rhododendren waren Wespen, sogar Hornissen, daumengroße und ganz verschiedene Arten, die habe ich lange beobachtet und darüber … die Zeit vergessen.«

Minuten, eine Stunde, zwei Stunden vergingen. Es dämmerte, es wurde hell; der Regen hörte auf, begann von Neuem, hörte wieder auf und war dann vorbei. Irgendwann wurde Merz bewusst, dass er längst allein war. Sie, Floriane, musste wortlos schlafen gegangen sein, jedenfalls war sie nicht mehr da, und im ganzen Haus herrschte wohltuende Stille.

Müde schloss er die Augen und sank in die Bilder, die hinter seinen Lidern auftauchten und verschwanden, nur um sogleich von anderen abgelöst zu werden … Die Sommer ihrer Jugend, die Hitzefrei-Tage vor dreißig, fünfunddreißig Jahren waren nicht vorbei; denn nichts war vergangen, nein es gab überhaupt keine Vergangenheit.

Natürlich hatte er nicht vergessen, was Lupinen Floriane und ihm früher einmal bedeuteten. Auf der sich bis zum Horizont erstreckenden Feldmark und so auch zwischen dem Wald auf der Moräne und dem wilden Garten, den er mit Moritz und Flori entdeckt und den sie Inger gezeigt und der seither ihnen gehört hatte und ihr gemeinsames Geheimnis war, auf diesen in der flirrenden Nachmittagssonne endlosen Feldern wuchsen Lupinen, unzählige. Es waren so viele violette, hellblaue und dazwischen immer wieder auch gelbe Kerzen, dass Moritz, die beiden Mädchen und er an manchen besonders heißen Sommertagen berauscht vom Duft der Blüten am Waldrand entlangtorkelten und sich kaputtlachten.

Und wie sonderbar waren ihre Blüten! Sie wirkten zuerst wie Trauben, wenn man sie sich aber von Nahem ansah, fächerten die Beeren sich auf und waren kleine Quirle, und die Blätter hatten lange Stiele, von denen sie sich abspreizten, wie Finger. Insekten schwirrten durch den Moränenwald hinaus auf die Felder, um sich dort aus den Blütenkelchen ihren Nektar zu holen. Und der ganzen großen und kleinen, schwarzen und grünen, lauten und lautlosen Fliegen wegen waren immer hunderte Vögel in der Luft, Schwalben und Meisen und Finken, aber auch Stare, Glanzstare, die sich im Herbst zu Wolken zusammenrotteten, und Drosseln, Wacholderdrosseln, und Amseln. Von morgens bis abends waren sie am Jagen und sangen und zwitscherten.

Ein paar Mal waren sie auch in der Nacht auf den hellen Sandwegen über die Moräne zu ihrem Garten gegangen, und Merz erinnerte sich so deutlich an das Licht, in das der Mond die Feldmark tauchte, und an die blasse Haut von Ingers schmaler Hand, die er festhielt, während sie am Waldrand entlangliefen, als wären seither nur Stunden vergangen und nicht Jahre, Jahre und Jahre.

Flori hatte manchmal den Hund ihrer Schwester dabei, einen Riesenschnauzer, auf den sie aufpasste, wenn Jette bei ihrem Freund schlief.

Dünn und mit langen Beinen, gackernd und sich gegenseitig erschreckend, waren Inger und Floriane mit dem Hund, an dessen Namen Merz sich nicht erinnerte, vor Moritz und ihm hergerannt. Der Weg durch die Brennnesselsäume war schmal, die Waden und Schienbeine der Mädchen färbten sich feuerrot, wenn sie keine Jeans, sondern Röcke oder Shorts anhatten, und der sich durch die Büsche und das Unterholz schlängelnde Pfad war so niedrig, dass sie sich immer wieder ducken mussten, weil ein dichtes grünes Dach aus Laub und Zweigen den Hohlweg überwölbte.

Der Hohlpfad, so nannten sie den Weg, der vom Waldrand durch die Brennnesselbänke zum Eingang in den wilden Garten führte.

Umgeben von manchmal bis in die Baumkronen hinaufwuchernden Hecken öffnete sich dort ein kleines Feld mit hohem Gras, und kaum dass die geheime Wiese in Sichtweite kam, rannte Jettes Hund los und folgten ihm die Mädchen, wie Fledermäuse huschten ihre Schatten über die Heckenwand. Sie kicherten und sangen, und manchmal knipste Moritz dann die Taschenlampe aus.

Sofort war alles stockfinster. Dann bellte der Riesenschnauzer mit dunkler Stimme, und Flori kreischte, und Inger, die noch gar nicht richtig Deutsch konnte, bettelte in ihrer fremden Sprache um Licht: »Tænd lyset! Tænd lyset! …«

Es folgten drei Tage, von denen er kaum etwas wahrnahm außer den stumpfen Rausch öder Stunden. Nichts ereignete sich. Was im Haus passierte – ein Bimmeln des Telefons, auf das er mit Reglosigkeit reagierte, oder das Klopfen der Heizkörper, das eine Sprache war, in der niemand nichts mitteilte – und was draußen vor sich ging – ein Eichhörnchen, das aus einem Schatten unter der Hecke in den Schatten unter den Johannisbeeren hechtete, oder abends das zeitschaltuhrgeregelte Anspringen der Rasensprenger –, es schien nur um der Leere willen zu geschehen, nur um ihm zu verdeutlichen, dass nicht das Geringste vonstatten ging, solange er sich nicht gleichfalls bewegte.

Nachdem er die träge, lauwarme Dünung dieses endlosen Wochenendes über sich hatte hinwegbranden lassen, verbrachte er den halben Montag schwer verkatert im Zug und fuhr mit verquollenen Augen südwärts, immer weiter südwärts. Hannover, Göttingen, Kassel, Frankfurt, eine in der Hitze flimmernde Stadt folgte auf die vorige und lag bald ebenso unerreichbar hinter ihm wie alle Orte, an denen er seit fünfzig Jahren gewesen war. Während seit Mannheim sein am Gang sitzender Freund mit offenstehendem Mund schnarchte, sah Merz vor den Fenstern lauter in der grellen Sonne gleißende Felder; darauf wuchs ein so blasses und anscheinend längst verholztes Getreide, als hätte es Skorbut. Immer wieder führte die Trasse durch Felder voll Luzernen und Lupinen, nichts als Luzernen und Lupinen.

Manchmal fielen ihm die Augen zu. Er genoss, nichts zu tun zu haben. Weder hatte er Lust, Zeitung zu lesen, noch, sich den Bildband anzusehen, den Bruno mit sich herumschleppte, als würde sich dadurch von selber erledigen, was er über diese – Merz absolut rätselhafte – Schule von Barbizon schreiben musste. Der gehwegplattengroße Band lehnte zu Brunos Füßen an der Rücklehne des Sitzes vor ihm, denn er passte nicht in die viel zu schmale Gepäckablage des rappelvollen Großraumabteils, das in Wahrheit ein verkapptes Kleinraumabteil war. Und so schlief Bruno zwar, doch in gekrümmter Haltung, mit zusammengepressten Knien und mal einwärts, mal auswärts verdrehten Füßen.

Wenn er auch selbst die Lider schloss, gingen Raimund Merz wilde Dinge durch den Sinn. Es kam ihm vor, als würde er in sich hinein- und von einem schmalen Sims aus hinunterblicken in einen finsteren Schacht. Sturzbetrunken sah er sich dort unten auf dem Wohnzimmerteppich liegen. Er hatte in den vergangenen drei Tagen einfach alles an Alkohol in sich hineingeschüttet, was im Haus zu finden gewesen war. Und jeden Mittag aufs Neue hatte er sich weisgemacht, im Keller nach etwas zu suchen, aber worum es sich dabei handelte, war ihm nie klar geworden. Jedes Mal, wenn er hinunterging, hatte er in den modrig kühlen Räumen eine Flasche Weißwein aufgemacht und gedankenverloren so lange daran genippt, bis ihm auffiel, wie wenig passierte, wenn man regungslos in einem Keller herumstand. Einen Weinkeller hatte er sich ausgemalt, der nicht bloß die Ausmaße der darüber liegenden Küche hatte, sondern so groß war wie das ganze Haus samt Garage und Garten. Und wo oben der Parkplatz war, der Wendehammer und die Stichstraße, dort erstreckte sich unter der Erde ein Korridor, da waren Gänge voller Flaschen, eine Halle voller Fässer. Als er wieder zu sich kam, war die Flasche jedes Mal schon fast leer gewesen, und wenigstens das hatte ihn noch erschreckt.

Noch immer blickte er aus dem Fenster, ohne jedoch länger Luzernen und Lupinen zu sehen oder die fremde Landschaft der Karlsruher Gegend, durch die der ICE seit einiger Zeit fuhr. Angestrengt dachte er über das hinter ihm liegende Wochenende nach. Einsamkeit und Trübsinn. Wut. Verwirrung, von einer anscheinend verstummten Welt umgeben zu sein. Er war sich vorgekommen wie in Lindas Lieblingswitz der Betrunkene, der nachts eine Litfaßsäule umkreist, immer aufs Neue um sie herumwankt und sie abtastet, bis er zu Boden sinkt und schluchzt: »Hilfe! Man hat mich eingemauert!« Sie hatten ihn sich selbst überlassen, und er wusste drei Tage lang nichts Besseres zu tun, als sich zunächst den ganzen guten Sancerre und später allen Grauburgunder einzuverleiben. Immer tiefer hatte er in den Abgrund zwischen seinen offenbar weit auseinanderklaffenden Empfindungen gestarrt, dabei über seine verlorene Jugend und alle unwiederbringlich vergangenen und vergeudeten Jahre Tränen über Tränen vergossen, und mit jeder Stunde, die von Freitagnachmittag bis Montagmorgen unbarmherzig ereignislos verstrich, war er überzeugter gewesen, dass was er aus den Flaschen so lange weltvergessen in sich hineingoss, bis es wieder aus ihm hinausfloss, gar nicht Wein war, sondern in Wahrheit Tränen. Tränen! Woher sollte sein Heulen denn kommen, warum hätte er sonst so haltlos geweint.

Am Mittag nach ihrem nächtlichen Streit hatte Floriane so laut, dass er es hören musste, unten im Flur Priska gefragt, ob sie am Wochenende mitkommen wolle zu ihrer Großmutter, und war dann, als keine Antwort kam, gegangen, hatte den Phoebus genommen, was sie sonst nie tat, und war, wie er annahm, an diesem Freitag in die Praxis gefahren.

Als er am frühen Nachmittag aufstand, fand er unten auf dem Ziertischchen nahe der Haustür ein großes gelbes, unbeschriebenes Kuvert, an dem ein Post-it-Zettel klebte.

»Guten Morgen, Papa! Den Umschlag sollte ich Dir von Mammi geben, doch Du hast so fest geschlafen.«

Lichter als der Tag

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