Читать книгу Der Teufelsangler - Mitra Devi - Страница 7
ОглавлениеDie Lügnerin
Elvira war eine begnadete Lügnerin. Schwindeln, flunkern und aus dem Stegreif originelle Ausreden erfinden waren praktische und kreative Gaben, die ihr in die Wiege gelegt worden waren. Sie ermöglichten ihr, Dinge zu tun, die ihr sonst versagt geblieben wären, frischten ihr Selbstbild auf und liessen sie insgesamt interessanter wirken. Die Wahrheit war doch häufig so eintönig. Mit etwas Phantasie liessen sich öde Tätigkeiten ausschmücken und fade Lebensgeschichten aufpeppen. Inzwischen hatte sie es im «Frisieren der Realität», wie sie es liebevoll nannte, zur Meisterschaft gebracht. Kein Spaziergang, der nicht zu einem atemberaubenden Trekking wurde. Kein Ausflug, auf dem sie nicht ein vierblättriges Kleeblatt fand, eine berühmte Persönlichkeit traf oder jemanden vor dem Ertrinken rettete. In Gesprächen dichtete sie sich spannende Hobbies wie Fallschirmspringen, Tiefseetauchen und Klippenklettern an, machte sich drei Jahre jünger und fünf Kilo leichter.
Einer der Gründe für ihre Leidenschaft, die Wirklichkeit zu ihren Gunsten umzugestalten, war Babette. Babette war eine Arbeitskollegin, die Elvira auf den Tod nicht ausstehen konnte. Das beruhte auf Gegenseitigkeit. Babette war klein, dünn und ungemein spiessig. Sie war stets als Erste da und ging als Letzte, so, als existiere in ihrem Leben nichts anderes als die Arbeit. Elvira hatte sich vorgenommen, es Babette zu zeigen. Wenn diese in der Nähe war und mithörte, bekamen Elviras Lügenmärchen literarische Qualitäten.
Vor einer Weile hatte Elvira eine behinderte Schwester erfunden und von ihrem Arbeitskollegen Emilio viel Mitgefühl geerntet. Zu erwähnen ist, dass Emilio ihr ausserordentlich gefiel. Leider beachtete er sie nicht genug. Irgendwann hegte sie gar den Verdacht, er glaube ihr die erfundenen Abenteuer nicht so recht. Deshalb fügte sie nach einer besonders blumigen Erzählung, in der ein Dutzend bis auf die Zähne bewaffneter Triebtäter nach ihrem Leben trachteten, leidend hinzu, sie wisse ja schliesslich nicht, wie lange es noch dauere bei ihr.
«Was hast du denn?», fragte Emilio besorgt.
«Meine Krankheit», antwortete Elvira mit tränenerstickter Stimme, «nähert sich dem Endstadium.»
Er starrte sie schockiert an, und sie liess sich von ihm widerwillig die tödliche Diagnose aus der Nase ziehen. Am Ende des Tages landete sie mit ihm im Bett. Selbstverständlich hatte sie kein ansteckendes Leiden erfunden. Bloss eines, das einen Mann ermunterte, sie nochmals so richtig zu verführen, bevor es zu spät wäre.
Das war im Sommer gewesen, als Zürich von einer Hitzewelle überrollt worden war, die Elviras Hormone zusätzlich in Wallung gebracht hatte. Der Ehrlichkeit halber – was dieses Thema betraf, war sie erbarmungslos ehrlich mit sich – musste sie sich eingestehen, dass Emilio sich nicht als der tolle Liebhaber entpuppt hatte, den sie in ihm vermutet hatte.
Nun war es Herbst, die Bäume hatten sich verfärbt, die Bauarbeiten vor ihrem Büro beim Stauffacher waren endlich beendet, und Emilio war nach Basel versetzt worden. Ein Neuer übernahm seine Aufgaben. Und dieser, das war Elvira sofort klar, war ein Prachtstück von einem Mann. Gross, athletisch, mit dunklem Dreitagebart.
Er kam und bezog gleich neben Elviras Schreibtisch seinen Arbeitsplatz, füllte die Schubladen und stellte ein Bild in einem silbernen Rahmen vor den Computer. Elvira befürchtete, das Schlimmste darauf zu entdecken: eine rassige Rothaarige, die aufreizend in die Kamera schaute. Eine abgründige Brünette. Oder eine liebliche Blondine. Womöglich umrahmt von einer Schar wohlgeratener Kinder.
Unauffällig trat sie einen Schritt näher, warf einen Blick auf das Bild und atmete erleichtert auf. Die abgelichtete Schöne war weder rot, noch braun, noch blond, sondern dunkel. Es war eine schwarze Labradorhündin, die ein Halsband mit einer Plakette trug: «Chica». In Elviras Herz regte sich ein Keim der Hoffnung. Chicas Bild aufzustellen statt dasjenige einer Melanie oder Vanessa, sagte wohl alles. Der Neue war Single. Und er wollte, dass man es wusste.
Er bemerkte ihre Neugierde, kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. «Ich bin Philipp. Es freut mich, Sie … dich? … kennenzulernen.»
«Mich», sagte sie schnell. «Ich meine, nicht Sie. Also … du.» Sie lief rot an.
Er lachte.
Sie nahm seine Hand, die sich warm anfühlte. «Ich wollte sagen, ich heisse Elvira.» Gott, wie peinlich. Was dachte er nur von ihr?
Philipp sah ihr offen in die Augen. «Freut mich, Elvira. Ich hoffe, wir werden gut zusammenarbeiten.»
«Das hoffe ich auch», gab sie zurück. «Obwohl in einem Callcenter von ‹zusammenarbeiten› keine Rede sein kann.» Sie deutete mit einer ausladenden Geste auf das Grossraumbüro, in dem, abgetrennt in halbhohen Kabäuschen, mehrere Dutzend Leute sassen, von denen nur die Köpfe zu sehen waren. Zu hören war ein Stimmengewirr von unzähligen Telefongesprächen.
«Da hast du wohl recht», sagte er. «Aber vielleicht gemeinsam mal einen Kaffee trinken? Wie wär’s mit morgen nach Feierabend?»
«Das wäre schön. Allerdings … » Sie spürte den Drang, eine klitzekleine Lüge anzubringen, um sein Interesse anzukurbeln: «Ausgerechnet morgen geht es mir nicht. Da bin ich zu einem Casting eingeladen.»
Sie bemerkte, wie Babette, die etwas weiter vorn sass, ungläubig die Augen verdrehte.
«Ein Casting?», fragte Philipp. «Tatsächlich? Fürs Fernsehen?»
«Kino», sagte Elvira so laut, dass Babette es mitkriegen musste. «Aber es ist nur eine kleine Rolle. In Marc Forsters neuem Film.»
«Forster? Du meinst den Marc Forster? Mister James-Bond-Forster?» Seine Stimmlage hatte sich einen Tick erhöht. Elvira nahm es mit Entzücken wahr.
«Ach», sie winkte ab, «ich hab das schon ein paarmal gemacht. Es ist immer das Gleiche. In erster Linie ist es ein ewiges Warten. Auf den Kameramann. Auf die Regieanweisungen. Auf die Klappe.» Das hatte sie irgendwo gelesen. Es hörte sich sehr echt an.
Philipp nickte bewundernd. «Dann drück ich dir die Daumen, dass du die Rolle kriegst. Wie wär’s mit übermorgen?»
Elvira überlegte sich eine Steigerung der bereits verheissungsvollen Ausgangslage, aber ihre Schlagfertigkeit liess sie für einmal im Stich, darum erwiderte sie nur: «Gern.»
Das war der einzige Wortwechsel mit Philipp an diesem Morgen. Seine neuen Aufgaben wurden ihm zugeteilt, er hörte zu, machte sich Notizen, dann nahm er seine ersten Anrufe entgegen und führte Buch über die Termine. Elvira beobachtete ihn ab und zu aus dem Augenwinkel. Er lernte schnell. Andererseits war die Arbeit auch keine grosse Sache.
Das Callcenter «Dental Urgent» war zuständig für zahnärztliche Notfälle in der Stadt. Die meisten Anrufer klagten über Schmerzen, über herausgefallene Füllungen oder entzündete Weisheitszähne und brauchten unverzüglich einen Termin. Die «Callies», wie die Mitarbeitenden von «Dental Urgent» sich selbst nannten, hatten Zugriff auf die Datenbanken der Zürcher Zahnarztpraxen, die sich zu einem Verband zusammengeschlossen hatten und einen Teil ihrer Termine extern verwalten liessen. Elvira hatte, seit sie hier arbeitete, schon alles erlebt. Besorgte Mütter, deren Zwillinge gleichzeitig zahnten. Geschäftsleute, die zwischen zwei Meetings eine Vollsanierung ihres Gebisses forderten. Alte Frauen, die erzählten, sie hätten statt Zähne nur noch schwarze Stummel im Mund, da sie wegen ihrer Phobie seit Jahren nicht mehr beim Zahnarzt gewesen seien.
Elvira hörte gerade mit halbem Ohr, wie Philipp eine Anruferin, die an einem eitrigen Backenzahn litt, zu Doktor Thaler überwies, als ihre Linie blinkte. Sie setzte das Headset auf.
«Dental Urgent, Elvira Stettler, wie kann ich Ihnen helfen?»
Eine verzweifelte Stimme ertönte: «Ich weiss nicht mehr weiter.»
«Sind Sie Neukunde bei uns?»
«Ja.»
Elvira öffnete die Computerdatei für Neuanmeldungen. «Bitte schildern Sie mir Ihr Problem.»
«Meine Freundin macht Schluss mit mir.»
«Äh … Sie sind hier verbunden mit der zahnärztlichen – »
«Ich weiss, ich weiss! Sie will mich nicht mehr, weil ich schräge Zähne habe. Ich muss unbedingt etwas tun.»
«Ist es ein Notfall?»
«Natürlich! Das hab ich Ihnen doch gerade erklärt. Meine Freundin lässt mich sitzen, wenn ich meine obere Zahnreihe nicht richten lasse!»
«Ich meine, ist es ein medizinischer Notfall?»
«Ich tu mir was an, wenn sie mich verlässt – dann ist es ein medizinischer Notfall, verdammt nochmal!»
Elvira seufzte. So was hatte sie schon x-mal erlebt. Die Leute glaubten, wenn sie besonders schwerwiegende Umstände geltend machten, bekämen sie einen Termin am gleichen Morgen. Sie versuchte, den Mann zu beschwichtigen, und verschaffte ihm in zwei Tagen eine Abklärungsstunde bei Doktor Mühleberger, was ihr Gesprächspartner mit den Worten «wenn ich dann noch lebe» quittierte.
Weitere Anrufe folgten. Ein Besoffener beschwerte sich, er sei mit idiotischer Musik zehn Minuten in der Warteschlaufe hängengeblieben, inzwischen sei sein Zahn von selbst ausgefallen, eine Serbin wollte auf keinen Fall zu einem albanischen Zahnarzt, und zwei gackernde Teenies verlangten ein Gebiss wie Paris Hilton.
Kurz vor zwölf war Elvira erschöpft. Sie warf einen Blick zu Philipp hinüber, der in ein Gespräch vertieft war, während er mit der Maus von Tabellenspalte zu Tabellenspalte klickte. Sie setzte ihr Headset ab und begab sich in die Mittagspause.
Philipp kam ihr nachgeeilt. «Zum Italiener oder zum Griechen?»
«Kebab», sagte Elvira und nahm befriedigt wahr, wie Babette ihnen eifersüchtig hinterherschaute.
Auf dem Weg zu «Ali’s Paradise» plauderten sie etwas, und Elvira erfuhr, dass Philipp aus einer reichen Adelsfamilie stammte. Aus Bescheidenheit habe er jedoch das «von» in seinem Namen abgelegt. Sie war beeindruckt und konterte mit russischen Vorfahren, die bis zu Katharina der Grossen reichten.
Der Herbstwind fuhr Elvira durch die Haare, Blätter wirbelten auf, als sie mit Philipp die Tramschienen überquerte. Sie schnappten sich ihre Kebabs und setzten sich auf eine Bank vor der St. Jakob Kirche. Philipp erzählte von seinem Studium, das er abgebrochen habe, Elvira von ihrer Erstausbildung als Modedesignerin, die sie soeben erfunden hatte. Sie landeten beim Thema Familie, Religion und bei Philipps Labradorhündin.
«Es ist schön, so mit dir zu sprechen», sagte Philipp zwischen zwei Bissen. «Ich habe das Gefühl, dich schon ewig zu kennen.»
«Geht mir genauso.»
«Du bist so natürlich. So echt.»
Elvira lächelte.
«So normal.»
Elvira erstarrte.
«Versteh mich nicht falsch», beeilte sich Philipp zu sagen. «Ich meinte damit nichts Beleidigendes. Ich finde nur, andere mit ihrer Geltungssucht tischen einem irgendwelche Stories auf, aber du hast es nicht nötig, dich interessanter zu machen, als du bist.»
«Oh», sagte sie und konnte sich kaum zurückhalten, als sie das Wort «normal» nachwirken liess. «Auch bei mir ist nicht alles, wie es scheint.»
«Wie meinst du das?»
«Nun, mein Leben mag auf den ersten Blick banal wirken, doch in meiner Vergangenheit … ach, lassen wir das, es ist zu schmerzhaft für mich.»
«Tut mir leid, ich wollte nichts aufwühlen.»
Elvira zerknüllte das fettige Kebab-Papier und warf es in den Abfalleimer. «Und ausserdem darf ich nicht darüber sprechen.»
«Verstehe», sagte er und verstand offensichtlich gar nichts.
«Es handelt sich um eine Sache der höchsten Geheimhaltungsstufe.»
«Ach?»
«Nun, dir kann ich es ja erzählen, du bist sicher verschwiegen.»
«Das brauchst du nicht, Elvira, wirklich, es ist völlig in Ordnung, wenn du –»
«Da du darauf bestehst», fuhr Elvira fort, «werde ich dir sagen, worum es geht. Aber du musst mir versprechen, es niemandem weiterzuerzählen.»
«Abgemacht», sagte er.
«Schwöre.»
Philipp lächelte etwas irritiert, dann sagte er: «Ich schwöre.»
«Also gut.» Elvira schaute sich kurz um, entdeckte aber nur Tauben, die nach Speiseresten im Gras pickten, und dämpfte ihre Stimme: «Ich bin im Zeugenschutzprogramm.»
«Was?»
«Du weisst doch, was das ist?»
«Natürlich.»
«Ich musste Familie, Freunde und meinen Heimatort verlassen, einen anderen Namen annehmen und ganz neu beginnen.»
«Du hast gegen einen Kriminellen ausgesagt?»
«Was heisst hier gegen einen Kriminellen! Es war der damalige Mafiaboss Don Em…» Um ein Haar hätte sie «Emilio» gesagt, da es der einzige italienische Name war, der ihr auf Anhieb in den Sinn kam.
«Gegen welchen Don hast du ausgesagt?» Er wirkte etwas fahl im Gesicht.
«Das darf ich leider nicht mitteilen.»
Philipp nickte sichtlich bewegt.
Elvira war stolz auf sich. Sie hatte den Neuen nicht nur beeindruckt, sondern richtiggehend schockiert. Sie spürte geradezu die Turbulenzen in seinem Innern. Gefahr und Sex, das waren zwei Dinge, die bei Männern hirntechnisch verknüpft waren, das hatte sie neulich im Fernsehen erfahren. Das konnte nur eins bedeuten: Der langweilige Emilio würde bald vergessen sein, sie hätte demnächst eine stürmische Affäre mit Philipp, und die biedere Babette würde vor Neid erblassen.
Die Mittagspause verging im Flug. Elvira erledigte ihre Anrufe am Nachmittag besonders schwungvoll und schaute immer wieder zu Philipp hinüber, der etwas unkonzentriert wirkte. Mehrmals verliess er seinen Arbeitsplatz. Vielleicht hatte er eine schwache Blase. Das hätte ihr im Hinblick auf kommende Liebesnächte gerade noch gefehlt. Dann wieder tippte er kurze Nachrichten in sein Handy – hoffentlich wartete da nicht doch eine rassige Rothaarige irgendwo auf ihn, Labrador hin oder her – und einmal liess er das Kontaktlicht seiner Linie eine halbe Minute lang blinken, bevor er den Anruf entgegennahm, als wäre er tief in Gedanken versunken.
Elvira fühlte sich etwas schuldig. Vielleicht war sie zu weit gegangen. Bestimmt hatte der arme Philipp – schön, aber unbedarft, wie er war – noch nie etwas Aussergewöhnliches erlebt und war nun nach ihrem Geständnis überfordert. Sie würde das Ganze etwas abschwächen und ihr kommendes Casting als Filmstar mehr hervorheben.
Gegen drei Uhr hatte sie über vierzig Anrufende verbunden, vertröstet und mit Terminen versehen. Um vier bemerkte sie, wie Babette mit missmutigem Ausdruck zu ihr und dann zu Philipp herüberstarrte, und entschloss sich, die eifersüchtige Kuh zu ignorieren. Punkt fünf fuhr sie den Computer herunter, hängte das Headset an den Bügel und zog ihre Jacke an.
«Viel Glück beim Casting!», rief Philipp ihr nach, als sie das Büro verliess.
Babette stiess ein Schnauben aus.
Am nächsten Tag stürmte es heftig. Auf dem Weg zur Arbeit wurde Elviras Frisur zerzaust, und als sie während des Vormittags aus dem Fenster schaute, sah sie, wie Blätter und Papierfetzen durch die Luft wirbelten und der Wind die Tauben im Flug hin und her riss. Es wurde Mittag, es wurde Abend – der geplante gemeinsame Kaffee mit Philipp rückte näher.
Kurz vor fünf blinkte ihre Linie. Elvira nahm den Anruf entgegen. Es würde ihr letzter sein für heute. «Dental Urgent, Elvira Stettler, wie kann ich Ihnen helfen?»
«Tu’s nicht.»
«Wie bitte? Mit wem spreche ich?»
«Triff dich heute nicht mit Philipp.» Erst jetzt merkte Elvira, dass es ein interner Anruf war.
«Babette? Bist du das? Was soll das?» Sie sah zu ihr hinüber.
«Ich hab dich gewarnt, Elvira.»
«Das geht dich überhaupt nichts an, mit wem ich mich treffe.»
«Es geht mich sehr wohl etwas an. Ich …» Plötzlich brach Babettes Stimme. Weinte sie etwa? Oder war sie wütend? Elvira konnte es nicht richtig einschätzen.
Da fuhr Babette fort: «Ich sollte eigentlich an deiner Stelle sein.»
«Ich glaube nicht, dass du sein Typ bist», gab Elvira kühl zurück.
«Du verstehst überhaupt nichts!» Babette zitterte, Elvira sah es ganz deutlich. Sie fand es lächerlich, dass sie beide – keine fünf Meter voneinander entfernt – miteinander telefonierten. Und dann noch über so was. «Ich leg jetzt auf.»
Babette nickte ergeben, schaute kurz zu ihr herüber, dann nahm sie ihr Headset vom Kopf, grabschte nach ihrem Mantel und verliess den Raum.
So was! Elvira schaute ihr hinterher und schüttelte den Kopf. Dass Babette so wenig Stolz besass, hätte sie nicht gedacht. Einsame Frauen verloren so schnell ihre Würde.
«Alles okay?», riss Philipp sie aus den Gedanken.
«Absolut okay», gab sie zurück. «Bin gleich so weit.»
Zuerst tranken sie im «Starbucks» um die Ecke einen Latte macchiato und plauderten über Elviras erfolgreiches gestriges Casting und allerlei andere spannende Dinge, wobei Elvira regen Gebrauch von ihrer besonderen Gabe machte. Philipp hing an ihren Lippen. Leider bis jetzt erst metaphorisch, aber das andere würde kommen, da war sie zuversichtlich. Es dämmerte langsam. Noch immer stürmte es draussen. Regen war bis jetzt noch keiner gefallen, aber der Wind fegte unentwegt Laub und Staub durch die Strassen. Als sich der Hunger bei ihnen meldete, wechselten sie in die Pizzeria «Molino» hinüber, bestellten «Gnocchi al burro e salvia» und einen edlen Wein und unterhielten sich bestens.
Nachdem sie fertig gespeist hatten, sagte Philipp: «Ich möchte dir etwas ganz Besonderes zeigen.»
Elvira schmunzelte neckisch. «Deine Briefmarkensammlung?»
Er lachte mit. «Das würde bei dir nicht ziehen! Wart ab. Ich denke, du wirst begeistert sein.»
Elvira war gespannt. Sie zahlten, verliessen das Restaurant und gingen durch den Sturm Richtung Kalkbreite. Auf der linken Seite war eine der unzähligen Baustellen Zürichs. Rot-weisse Absperrbalken versperrten den Durchgang zum Rohbau des mehrstöckigen Hauses. Das Trottoir vor dem Gebäude war aufgerissen, vermutlich wollte man gleichzeitig neue Leitungen verlegen oder das Glasfasernetz erweitern oder was auch immer. Elvira regte sich schon lange nicht mehr über die endlose Bauerei auf. Ein Plakat auf der noch unverputzten Betonmauer versprach günstige Wohnungen, helle Lofts und lichtdurchflutete Büros.
«Hier willst du mir was zeigen?», fragte sie erstaunt.
Er nickte. «Es wird dir gefallen. Man hat einen Ausblick von oben, wie man ihn sonst nie hat. Kleine Innenhöfe mit Blumen, Bänkchen und Brunnen.»
«Von oben? Aber … ist das nicht verboten?»
Er hob eine Augenbraue leicht spöttisch an. «Elvira, so kenn ich dich ja gar nicht! Wo bleibt deine Furchtlosigkeit?»
«Ich habe keine Angst», beeilte sie sich zu sagen. «Ich möchte nur nicht, dass wir Probleme kriegen.»
«Das werden wir nicht. Komm.» Er nahm sie bei der Hand, und sie schlüpften unter der Abschrankung durch. Sie stapften im Dunkeln übers Kies, umrundeten einen Container und kamen zur Hinterseite des Rohbaus. Aus der Ferne war das Quietschen eines Trams zu hören. Der Wind rüttelte an den Holzverkleidungen rings um das Haus, es wurde empfindlich kalt. Hoffentlich beginnt es nicht zu regnen, dachte Elvira. Sie war «not amused» bei der Vorstellung, auf irgendwelchen morschen Brettern eine Baustelle hinaufzuklettern, nur um Blumen und Bänkchen und Brunnen zu besichtigen, von denen es in der Stadt Hunderte an zugänglicheren Orten gab. Ausserdem litt sie unter Höhenangst, aber das konnte sie – nachdem sie vom Klippenklettern an Englands Südküste geschwärmt hatte – natürlich nicht erwähnen. Also hiess es wohl: Kopf runter und durch.
Philipp fand den Weg zur provisorischen Treppe, die aufs Baugerüst führte, und ging voraus. Elvira folgte ihm in den ersten Stock, dann in den zweiten und wagte nicht, nach unten zu schauen. Einmal meinte sie, einen Schatten wahrzunehmen, und dachte, jemand sei ihnen gefolgt, doch sicher hatte sie sich getäuscht. Sie kamen zum dritten Stock. Elvira schlich so nah wie möglich der Wand entlang hinter Philipp her, der sicheren Schrittes über die Bretter ging.
Es war stockdunkel, inzwischen mussten sie sich mit den Händen vorwärtstasten. Eine Kirchenglocke schlug neun Uhr. Daneben waren die Geräusche zu hören, die der Wind verursachte: Plastikplanen, die herumflatterten, Metallteile, die gegen die Verstrebungen schlugen, Ketten, die klimperten. Elvira wurde es ein bisschen unheimlich. Was, wenn sie einen Fehltritt machte? Oder wenn sie den Rückweg nicht mehr fänden?
Philipp drehte sich um, als hätte er ihr Unbehagen gespürt. «Alles in Ordnung mit dir?»
«Aber klar», sagte sie. «Für eine, die mit Schlittenhunden die Arktis durchquert hat, ist eine kleine nächtliche Tour ein Klacks.»
«Wusst ich’s doch», grinste er. «Wir sind gleich da. Du wirst sehn, ich hab dir nicht zu viel versprochen.»
Nun wurde Elvira doch etwas neugierig. Vielleicht lohnte sich die ganze Sache. Schliesslich wollte sie vor Philipp auf keinen Fall als Feigling dastehen.
Ein Geräusch liess sie aufhorchen. Es hatte nach einem Schritt geklungen. Hinter ihr. Sie wandte sich um, doch sie sah nichts. Wahrscheinlich der Wind. Es rüttelte und schepperte überall um sie herum. Sie passierten den vierten Stock, dann den fünften. Philipp lotste sie auf dem schmalen Bretterboden der Fassade entlang. Zum Glück war es zu dunkel, um zu erkennen, wie tief es hinunterging. Sie stiegen noch eine letzte Treppe hoch, dann führte Philipp sie auf dem Dach zur anderen Seite hinüber.
«Na, was hab ich dir gesagt?»
Tatsächlich. Elvira lehnte sich vor und schaute zwischen den Häusern hindurch auf eine kleine Parkanlage, die sie dort nie vermutet hätte. Ein runder Springbrunnen, umrahmt von vier Holzbänken, war das Kernstück, ein paar Laternen verströmten im Gras ein warmes Licht. Hier oben tobte der Wind um ein Vielfaches stärker, doch auch unten im Innenhof blies er auf den Wasserstrahl des Brunnens und versprühte Tropfen in alle Richtungen.
«Herrlich», sagte sie. «Das wär ein Ort zum Leben.»
«Oder zum Sterben», gab Philipp zurück.
Irgendetwas in seiner Stimme liess sie aufhorchen.
Im gleichen Moment nahm sie wieder den Schatten wahr. Dort unten war jemand. Eindeutig. Kletterte die Treppe hoch. Eine Silhouette im Dunkeln. Vielleicht war die Person ihnen von Anfang an gefolgt, wer auch immer es sein mochte. Warum nur? Philipp schien nichts gesehen zu haben.
«Es tut mir leid, Elvira», sagte er und berührte ihren Arm.
«Was denn?»
«Ich mag dich wirklich gut. Aber ich muss es tun.»
«Ich verstehe nicht. Was ist denn los?»
«Dein Zeugenschutzprogramm …»
«Ach», lachte sie, «lassen wir das doch! Es ist schon lange her. Ich komm inzwischen klar damit.»
«Aber ich nicht.» Die Leuchtreklame von der anderen Strassenseite spiegelte sich in Philipps Augen. Die schattenhafte Gestalt kam näher. Was ging hier vor? Elvira stand mit dem Rücken zum Abgrund, Philipp einen Meter vor ihr, noch immer ihren Arm haltend.
Plötzlich ging alles sehr schnell. Philipp beugte sich vor und drängte sie gegen den Rand. Elvira schrie auf. «Was tust du da?» Sie versuchte, das Gleichgewicht zu halten, geriet in Panik, spürte die klaffende Tiefe unter sich.
«Du musst sterben, meine Liebe. Wie gesagt, es tut mir leid.»
«Hör auf, Philipp!»
Elvira wand sich, Philipp drückte sie Richtung Kante, da hechtete die schwarze Gestalt von hinten auf ihn zu, riss ihn von Elvira weg und schleuderte ihn zur Seite. Empört sprang er hoch, grabschte nach Elvira. Diese machte, dass sie so schnell wie möglich vom Gebäuderand wegkam, und starrte auf die Person, die ihr soeben das Leben gerettet hatte.
Es war Babette.
«Jetzt versteh ich gar nichts mehr», entfuhr es ihr.
«Du Idiotin mit deinen Lügenmärchen!», schrie Babette ihr zu.
Philipp versuchte erneut, Elvira in die Tiefe zu stossen, und brüllte wutentbrannt: «Keine von euch überlebt das, verlasst euch drauf!»
Er packte Babette. Diese konnte sich losreissen, Elvira griff ein, Philipp schrie auf. Babette zog ihn zum Rand, stolperte, fiel um ein Haar hinunter, warf sich im letzten Moment zur Seite. Philipp, von der Wucht ihres Sprungs aus dem Gleichgewicht gebracht, wedelte hilflos mit den Armen, wollte seinen Sturz zu verhindern. Elvira riss die Augen auf.
Babette stiess ihn in den Abgrund.
Philipp stürzte in die Tiefe, mit einem schauerlichen Laut, der nach ein paar Sekunden jäh abbrach.
Elvira eilte zum Rand, schaute hinunter, sah Philipp mit verdrehten Gliedern am Boden liegen, den Kopf auf dem Rand des Springbrunnens, der Tausende von Wassertröpfchen über ihn ergoss, während sich langsam eine Blutlache um seinen Körper bildete.
«Weg hier!», zischte Babette und zog Elvira zur Treppe.
«Was soll das? Was war das? Ich begreife gar nichts.»
«Dein lieber Philipp arbeitet für Don Emanuele.»
«Den berühmten Mafiaboss? Wieso weisst du das?»
«Ich bin diejenige, die den Don in den Knast gebracht hat. Er hat zwanzig Jahre gesessen, wurde kürzlich aus Altersgründen entlassen und schwor demjenigen, der ihn verraten hatte, tödliche Rache. Als du Philipp deine haarsträubende Story erzählt hast – »
«Du hast uns im Park belauscht?»
«Das ist nicht der springende Punkt, Elvira!» Babette stieg die Treppe hinunter, Elvira hinter ihr her. «Philipp war mir von Anfang an suspekt. Er hat alles für bare Münze genommen, was du ihm vorgeschwindelt hast.»
Elvira schwieg peinlich betroffen, während sie über das Brettergerüst stakste.
«Der Don hat ihn beauftragt, dich zum Schweigen zu bringen. Ich habe Philipps Telefongespräch mitgehört.»
«Dann bist du diejenige – »
«Ja, ich bin diejenige im Zeugenschutzprogramm.»
«Oh, Mist.»
«Kann man wohl sagen.»
Sie hatten die erste Etage erreicht. Nun sahen sie den toten Philipp von Nahem. Elvira spürte einen kleinen Stich des Bedauerns. Es hätte toll mit ihm werden können. Nun ja, vielleicht würde sie wieder mit Emilio Kontakt aufnehmen. Wenn sie die Wahl hatte, dann doch lieber einen Langweiler als einen Killer.
Babette starrte auf die Leiche, dann flüsterte sie eindringlich zu Elvira: «Wir waren niemals hier, wir haben nichts getan und nichts gesehn. Philipp ist von allein runtergefallen, kapiert?»
«Du meinst, ich darf nicht erzählen, wie es wirklich war?» Masslose Enttäuschung machte sich in Elvira breit.
«Genau das meine ich. Meine Tarnung darf nicht auffliegen.» Babettes Schal flatterte im Wind, die ersten Tropfen klatschten aufs Gerüst, schwer und voll. In Sekundenschnelle prasselte ein Sturzregen hernieder.
«Aber …», meinte Elvira.
Sie kletterten die letzten Stufen hinunter, krochen unter der Absperrung hindurch und liefen zur Tramhaltestelle, wo gerade ein 3er-Tram hielt.
«Nichts aber. Kein Wort zu niemandem. Das heisst …» Die Tramtür öffnete sich. Babettes feuchtes Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. «Was mache ich mir eigentlich für Sorgen? Erzähl doch allen, was du willst! Einer notorischen Lügnerin wie dir glaubt sowieso keiner.»
Das befürchtete Elvira auch.
Babette stieg ein, das Tram fuhr in strömendem Regen davon.
Elvira blieb stehen, bis sie klatschnass war.
Von diesem Tag an verpflichtete sich Elvira, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen. Das brachte sie zwar kurz darauf in Lebensgefahr, danach in ein marokkanisches Gefängnis, wobei ihr nach fünf Monaten die Flucht auf einem Kamel durch die Wüste gelang, wo sie knapp vor dem Verdursten von einem barmherzigen Beduinenstamm aufgenommen wurde, der ihr Weihrauch, Gold und Bernstein schenkte und sie zur Ehrenbürgerin kürte, bevor sie sich aufmachte, eine bis anhin ausgestorbene Skorpionart zu erforschen. Doch das ist eine andere Geschichte, die Elvira später einmal erzählen wird.