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Kapitel 1 – Ein wertvolles Geschenk

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»Nächster Halt: Ramona Avenue«, tönte es aus dem Lautsprecher des Schulbusses.

Na endlich! Julie atmete auf, als der Bus in ihre Straße bog. Es war demütigend, mit siebzehn Jahren zwischen den Babys zu sitzen, während fast alle aus ihrem Jahrgang andere Mitfahrgelegenheiten hatten. Noch vor zwei Monaten war sie mit Josh heimgefahren, der ein eigenes Auto besaß. Aber seit sie sich das Sprunggelenk angeknackst hatte und nicht mehr Joshs Basketballmannschaft als Cheerleaderin anfeuern konnte, war sie für ihn uninteressant. Das Leben war einfach ungerecht!

Die stickige Luft im Bus machte sie zusätzlich mürrisch, denn die Klimaanlage funktionierte nicht. Da konnten der herrliche Sommertag und das anstehende Wochenende ihre Laune kaum heben. Angestrengt schaute sie aus dem Fenster und starrte auf die gepflegten Vorgärten der Reihenhäuser, weil sie versuchte, Martin zu ignorieren. Wie immer hatte sich der leicht chaotische Rotschopf neben sie gesetzt und bekam den Mund nicht zu. Julie hatte nichts gegen ihn, aber im Moment nervte er sie. Daher hörte sie auch nur mit halbem Ohr zu, als er irgendetwas von einer Party erzählte, denn sie war nicht in Feierlaune. Solange ihr Sprunggelenk nicht vollkommen okay war, durfte sie keinen Sport machen.

Kein Sport – kein Josh Reed.

Dabei war sie kurz davor gewesen, sich ihn zu angeln! Sogar geküsst hatten sie sich schon und waren ein Paar gewesen! Zumindest so gut wie … Und jetzt hatte er sich an Angelica, das Busenwunder, geheftet. Die schmiss sich doch an jeden ran.

Heute Mittag hatte er sich in der Kantine zu ihr gesetzt und die beiden hatten miteinander geflirtet. Julie war es so übel geworden, dass sie keinen Bissen herunterbekommen hatte.

Leider waren alle Mädchen hinter Josh her. Als blonder, blauäugiger Adonis und Teamchef der Prince’s Bears hatte er freie Auswahl. Warum sollte er gerade sie nehmen?

»Hey, Jul.« Martin schubste sie an. »Was ist denn los mit dir?«

»Bin nur müde.« Zum Glück hielt der Bus endlich, das Lärmen der Kurzen verursachte ihr Kopfschmerzen. »Dann bis Montag«, sagte sie zu Martin, schenkte ihm ein kurzes Lächeln, schulterte ihren Rucksack und stieg aus.

»Nix bis Montag, vergiss die Party am Samstag nicht!«, rief er ihr hinterher.

Nachdem Julie auf den Bürgersteig getreten war, atmete sie tief durch. Endlich Ruhe und frische, wenn auch warme Luft. Sie wollte eigentlich nicht so abweisend zu Martin sein, immerhin war er seit der Grundschule ihr Kumpel, aber ihre Laune war einfach an einem Tiefpunkt angelangt.

Sollte Josh ruhig mit dem Busenwunder gehen, pah, ihr doch egal. Wieso ließ sie sich denn davon runterziehen? Andere Mütter hatten auch hübsche Söhne …

Verdammt, sie wollte keinen anderen!

Missmutig schaute sie dem Bus hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war.

Das Haus ihrer Eltern lag am Ende der Straße, aber sie konnte es nicht erkennen, denn ein giftgrüner Umzugswagen der Wohltätigkeitsorganisation von Prince’s Bay versperrte ihr die Sicht. Er stand vor dem Grundstück von Mr. Solomon, der letzte Woche verstorben war. Aha, er hatte wohl keine Verwandten.

Mr. Solomons Garten wirkte im Gegensatz zu den anderen Grünanlagen des Straßenzuges reichlich verwildert. Der alte Mann hatte sich nie darum gekümmert. Tatsächlich hatte er einen genauso ungepflegten Eindruck gemacht wie sein Haus, nur sein langer weißer Bart war stets akkurat gekämmt gewesen. Zu den Nachbarn pflegte er wenig Kontakt. Mr. Solomon war der Einsiedler dieser Straße und niemand hatte Genaueres über ihn gewusst.

Eine zierliche alte Dame mit grauem Haar trat zwischen der hohen Hecke hervor, die das Grundstück umgab, einen Umzugskarton im Arm. Sie trug Jeans und ein beigefarbenes Hemd. Das war Mrs. Warren!

Julie beeilte sich, zu ihr zu gelangen, bevor sie die Laderampe des LKWs erreichte. Julie mochte die Frau und hatte schon viele Nachmittage mit ihr verbracht. Dad hatte Julie von klein auf gezwungen, einmal im Monat bei der Wohltätigkeitsorganisation ihres Ortes auszuhelfen, um das Leben in all seinen Facetten kennenzulernen. Zuerst hatte sie gemeckert, weil sie Essen und Kleidung an Obdachlose und andere Bedürftige ausgeben musste. Irgendwann hatte ihr die Arbeit sogar Spaß gemacht, spätestens, als sie die Dankbarkeit und das Leuchten in den Augen mancher Menschen gesehen hatte, die sich über Kleinigkeiten freuten, als hätten sie das wertvollste Geschenk auf Erden bekommen. Dabei hatte sie Mrs. Warren kennengelernt. Die alte Dame war beinahe eine Ersatzoma für sie.

»Mrs. Warren!«, rief Julie und betrat das Grundstück. »Sie sollen doch nicht so schwere Sachen tragen.«

»Oh, Hallo!« Lächelnd überreichte ihr Mrs. Warren den Karton. »Danke dir, aber das war ohnehin der letzte.«

»Puh, was ist denn da drin?« Der Karton wog gefühlte hundert Kilo!

»Flaschen«, sagte Mrs. Warren, während sie Julie zum LKW begleitete. Schweißtropfen glitzerten auf ihrer faltigen Stirn und ihre Hände zitterten. Ob es an der Hitze lag? An diesem Nachmittag brannte die Maisonne gnadenlos. Zum Glück begannen bald die Ferien. Julie freute sich riesig darauf! Sie würde mit Martin abhängen, faul sein, ans Meer fahren, süße Jungs in Badehosen anschmachten …

Mrs. Warren seufzte.

»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Julie, als sie den Karton auf die Laderampe des Umzugswagens stellte.

Stirnrunzelnd blickte Mrs. Warren in den LKW. »Ich hatte nur gehofft …«

»Was?«

Sie wirkte verwirrt, doch dann sagte sie plötzlich: »Es ist alles okay.«

Julie schielte über das verrostete Türchen in den Vorgarten, wo ein Nachbar Mr. Solomon tot vorgefunden hatte. »War er ein Trinker? Ist er deshalb gestürzt?«

Mrs. Warren lächelte müde. Schatten zeichneten sich unter ihren blassblauen Augen ab. »Nein, er hatte einen Schlaganfall.« Sie öffnete den Karton, damit Julie hineinsehen konnte.

»Wow, das sind aber schöne Flaschen.« Die unterschiedlich großen Flakons und Phiolen aus Glas und Metall schimmerten in sämtlichen Farben.

»Diese möchte ich dir schenken.« Mrs. Warren griff hinein und zog eine silberfarbene Flasche heraus, die in der Sonne grün und blau schillerte. Sie besaß einen runden Bauch und einen langen Hals. Verziert war sie mit Schnörkeln, Gravuren und Mustern sowie hellblauen Steinen, die wie Türkise aussahen. Ein tränenförmiger Stöpsel steckte im Hals und eine Kette wand sich vom Verschluss bis zur bauchigen Mitte. Alles in allem wirkte die Flasche sehr orientalisch.

Dankend nahm Julie sie entgegen. »Die ist ja wundervoll!« Sie schüttelte die Flasche, doch sie schien nicht gefüllt zu sein. Dennoch fühlte sie sich schwer an. Und warm. Wahrscheinlich lag das an der Sonne.

»Ich glaube, das ist echtes Silber«, sagte Mrs. Warren leise und schaute über ihre Schulter zur offenen Haustür. Geräusche drangen aus dem Gebäude. Jetzt waren wohl die Möbelpacker an der Reihe.

»Aber das kann ich nicht annehmen, die ist bestimmt wertvoll.« Die Wohltätigkeitsorganisation könnte viel Geld dafür bekommen, um damit armen Leuten zu helfen.

»Nimm sie, bitte. Ich habe das Gefühl, dass du sie erhalten sollst.« Mrs. Warren nahm ihr die Flasche ab und steckte sie kurzerhand in Julies Rucksack. »Du hast mir in den letzten Jahren so oft geholfen, da ist das das Mindeste. Und es muss ja keiner erfahren.« Schmunzelnd zwinkerte sie ihr zu und schloss den Karton. »Das ist heute ohnehin mein letzter Einsatz. Meine müden Knochen machen das nicht mehr mit.«

»Fehlt Ihnen etwas?« In den letzten Wochen schien Mrs. Warren abgebaut zu haben. Sie war dünner geworden und humpelte leicht.

»Ach, Schätzchen, in meinem Alter fehlt einem so ziemlich alles.«

Julie räusperte sich. Sie wollte nicht zu indiskret werden und fragte schnell: »Mr. Solomon war wohl ein Antiquitätensammler?«

»Möglich. Du hättest mal sehen sollen, was für kuriose Sachen noch in seinem Haus standen.« Ihr Blick wirkte entrückt, als würde sie erneut mit den Gedanken woanders sein, doch dann lächelte sie und wünschte Julie ein schönes Wochenende.

***

»Wo warst du so lange? Dein Bus ist schon vor fünf Minuten vorbeigefahren«, begrüßte ihre Mutter sie vom Herd aus, als sie die Küche betrat. Mom war meistens hier anzutreffen, denn sie liebte es zu backen und zu kochen, daher klebte auch Mehl in ihrem braunen Haar.

Lanzelot, der grau-weiß gestreifte Familienkater, strich um Julies Beine und empfing sie mit einem Maunzen, bevor er zu seinem Napf eilte. Das moppelige Vieh war so verfressen, dass es Futter Streicheleinheiten vorzog.

»Mrs. Warren hat mich aufgehalten. Sie räumt mit ihrem Verein das Haus von Mr. Solomon aus. Er hatte keine Angehörigen und alles geht an die Wohlfahrt.«

»Tatsächlich?« Hektisch wischte sich Mom die Hände an einem Geschirrtuch ab und klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie zum Fenster eilte. Das war typisch für Mom. Sie war so neugierig! Deshalb wusste sie längst Bescheid, dass Mr. Solomon gestorben war.

Julie stellte den Rucksack auf einen Stuhl und holte die Flasche heraus, um sie noch einmal zu bewundern. Sie würde sich gut als Dekoration in der Küche machen. Der Raum war hell und modern eingerichtet, mit einer Menge Edelstahl, da würde dieses antike Gefäß toll dazupassen. Vielleicht könnte Julie Öl in die Flasche füllen und Mom damit ein Geschenk machen. Oder nein, lieber behielt sie die Flasche für sich. Immerhin hatte Mrs. Warren sie ihr geschenkt, außerdem standen ohnehin schon zu viele Dinge in der Küche herum. Zum Glück hatten sie ein großes Haus und viel Platz. Das oberste Stockwerk gehörte nur Julie und ihrem Bruder Connor. Sie hatten ein richtig gutes Leben, denn Dad verdiente als Anwalt ausgezeichnet. Deshalb hatte er auch gewollt, dass Julie die Kehrseite der Medaille kennenlernte und sie bei der Wohlfahrt mithelfen lassen.

Während ihre Mutter aus dem Fenster starrte, schlich sich Julie zu den Töpfen. Hm, es duftete herrlich nach Muffins, und so wie es aussah, gab es heute Kartoffelbrei und Würstchen. Connors Lieblingsessen, aber dem war sie auch nicht abgeneigt. Da Mom deutsche Wurzeln hatte – Grandma war vor vielen Jahrzehnten von München nach New York gezogen –, gab es häufiger bayerische Spezialitäten. Schade, dass Julie ihre Oma nicht mehr kennengelernt hatte.

Schnell stibitzte sie sich einen warmen Blaubeermuffin und biss hinein, solange ihre Mutter abgelenkt war.

»Da beneide ich Mrs. Warren nicht. Wenn es drinnen genauso vermüllt ist wie der Garten …« Vom Fenster aus sah Mom das Haus nicht, da es auf ihrer Seite der Straße stand, aber der LKW war zu erkennen. »Mr. Solomon war ein komischer Kauz. Wenn er nicht auf dem Weg zum Postkasten gestorben wäre, hätte wohl niemand bemerkt, dass er tot ist.«

Ihre Mutter drehte sich zu Julie um, nachdem sie gerade den letzten Bissen in den Mund geschoben hatte. »Wusste Mrs. Warren, woran er gestorben ist?«

»Schlaganfall«, erwiderte sie kauend und erntete einen tadelnden Blick. Zum Glück war Mom nicht so streng wie Dad und schimpfte auch weniger. Dabei war Thomas nicht einmal ihr richtiger Dad, sondern Connors leiblicher Vater. Sie waren eine klassische Patchworkfamilie. Julie hatte sich schon öfter gefragt, ob sie Connor überhaupt als Bruder bezeichnen durfte, denn in ihnen floss nicht ein Tropfen desselben Blutes. Doch sie lebten bereits so lange zusammen und zankten sich wie echte Geschwister, dass Con wie ein richtiger Bruder für sie war und ihr Stiefvater ihr Dad.

»Gibt es sonst was Neues?«, wollte Mom wissen.

Für ihre Neugier war es wohl ein Segen, nicht mehr in New York zu leben, sondern in Prince’s Bay. In ihrer Straße kannte jeder jeden. Julie gefiel es hier auch besser als in der miefigen Großstadt. Sie war froh, dass sich ihre Eltern vor zehn Jahren auf Staten Island ein Haus gekauft hatten. Dad fuhr täglich nach Brooklyn in die Kanzlei, während Mom zu Hause blieb und über das Internet oder in der Nachbarschaft ihre selbstgemachten Gemüse-Diät-Drinks verkaufte.

»Mrs. Warren hat mir diese Flasche geschenkt«, sagte Julie und hob sie hoch.

»Hm«, machte ihre Mutter geistesabwesend, als sie zurück zum Herd schlenderte. »Wirf sie in den Müll.«

»Mom!« Empört hielt Julie sie ihr vor die Nase. »Sie ist wirklich hübsch und bestimmt wertvoll. Vielleicht benutze ich sie als Blumenvase.« Um nichts auf der Welt würde sie die Flasche hergeben.

»Dann trenne dich wenigstens mal von ein paar anderen Sachen. Dein Zimmer platzt aus allen Nähten.«

»Wann kommt Connor denn?« Sie wechselte lieber schnell das Thema, da sie sich von den meisten Dingen nur schwer trennen konnte. Sogar ihr altes Puppenhaus und viele Stofftiere besaß sie noch, obwohl sie seit mindestens vier Jahren nicht mehr damit spielte.

»Er müsste zum Essen hier sein«, antwortete Mom und begann, die Küche aufzuräumen.

Connor, der zwei Jahre älter war als sie, besuchte in New York ein College und kam fast jedes Wochenende nach Hause. Er wollte Arzt werden.

Ihre berufliche Zukunft stand noch in den Sternen. Im Moment interessierte sie sich – außer für Josh – für Bücher, Filme und Musik. Außerdem musste sie sowieso erst einmal die Schule beenden.

***

In ihrem Zimmer warf Julie den Rucksack in eine Ecke und stellte die Flasche auf den Nachttisch. Übers Wochenende musste sie ein Referat über Elektrolyse vorbereiten, doch für den Rest des Tages wollte sie mit Schule nichts am Hut haben.

Seufzend legte sie sich ins Bett, die Hände im Nacken verschränkt. Sie liebte ihr Bett und befand sich fast ständig darin: wenn sie an ihrem Laptop saß, ein Buch las, einen Film guckte, Musik hörte oder aus dem Fenster starrte, das sie von hier aus gut im Visier hatte. Sie sah zwar bloß den Himmel, aber wenn man vor sich hinträumen wollte, war das ein perfekter Anblick.

Wie so oft stahl sich Josh in ihre Gedanken, sein blondes Haar, die blauen Augen und seine große, trainierte Figur. Wie er Angelica heute angegrinst hatte!

Ablenken … An ihn zu denken würde sie nur frustrieren. Daher musterte sie die wunderschöne Flasche und fuhr in Gedanken die eingravierten Linien nach, die sich wie ein Flammenmuster über den Bauch zogen. Ob Mr. Solomon darin etwas aufbewahrt hatte?

Julie setzte sich auf und nahm die Flasche in die Hand. Erneut wunderte sie sich, wie schwer sie war. Vielleicht war sie ja bis zum Rand mit Sand gefüllt und gluckerte deshalb nicht? Oder mit Goldstaub?

Vorsichtig zog sie an dem metallenen Korken, doch der bewegte sich keinen Millimeter. Die daran befestigte Kette klirrte leise, als sie gegen das Silber schlug.

Womöglich war das eine Zierflasche und die ließ sich nicht öffnen?

Julie versuchte es abermals, wobei sie diesmal an dem Pfropfen drehte. Nach einem festen Ruck bewegte er sich und sie konnte ihn herausziehen.

Neugierig schnüffelte sie an der Öffnung, doch sie roch nichts.

Als sie hineinsehen wollte, drang plötzlich blauer Rauch aus der Flasche. Hastig stellte sie das Gefäß zurück auf das Tischchen und lehnte sich im Bett zurück; ihr Herz klopfte wild.

Verdammt, was für ein Zeug befand sich darin? Irgendeine giftige Chemikalie?

Mit angehaltenem Atem wollte Julie die Flasche wieder verschließen, als die Rauchsäule immer größer wurde, in der Luft einen Bogen machte wie ein umgedrehtes U und auf den Boden zusteuerte.

Verwundert stieß sie die Luft aus. Das widersprach den Gesetzen der Physik, oder? Aber Julie konnte sich darüber nicht den Kopf zerbrechen, weil immer mehr Dunst aus dem Flaschenhals quoll. Verdammt, was war das? Was, wenn das Zeug ihren Teppichboden in Brand steckte?

Sie sah bereits das Haus in Flammen aufgehen und stand kurz davor, nach Mom zu schreien und den Feuerlöscher zu holen, als der blaue Rauch plötzlich eine Gestalt annahm. Nun wand sich kein weiterer Dunst mehr aus der Flasche, sondern er ballte sich wie eine ein Meter große Kugel über dem Boden zusammen, verdichtete sich, änderte die Farbe … und auf einmal kniete vor ihr ein Mensch.

Julie zwinkerte. Nein, oder? Das träumte sie doch! Ihr Herz raste so schnell, dass sie befürchtete, es könne versagen; ihre Finger krallten sich in die Bettdecke.

Vor ihr kniete jemand, der außer einer Jeans nichts am Leib trug. Einer schmutzigen Jeans mit weit ausgestellten Beinen. Julie erkannte einen nackten, mit rötlichen Striemen überzogenen Rücken und schmutzige Hände, die über ihren Teppich strichen. Wirres hellbraunes Haar reichte der Person bis zum Kinn, und als sie aufschaute, stockte Julie der Atem. Das war ein junger Mann. In ihrem Zimmer. Vor ihren Füßen!

Grüne Augen musterten sie einen Moment, bevor er seinen Blick durch den Raum gleiten ließ.

»Wo ist Meister Solomon?«, fragte er.

Ja, der Typ klang eindeutig menschlich. Männlich! Und hörte sich real an.

Ihr versagte die Stimme. Sie konnte bloß auf den Kerl starren, der schätzungsweise nicht älter als Connor war, also höchstens neunzehn, vor ihrem Bett kniete und den Teppichboden befühlte.

»Ich bin nicht im Haus meines Meisters.« Er reckte den Hals und schaute sich um, blieb aber weiterhin am Boden. »Hat Meister Solomon mich an Euch verkauft? Seid Ihr meine neue Herrin?«

»Meister?« Julie schluckte. Vor Aufregung brachte sie kaum ein Wort hervor. »D-du meinst Mister Solomon? Er ist tot.«

»Tot?« Seine Augen wurden groß und leuchteten regelrecht. Sie waren so grün! Vielleicht wirkte ihre Farbe auch deshalb so intensiv, weil sich der Kerl schon seit Tagen nicht mehr rasiert hatte. Der kurze Bart stand ihm, gab ihm etwas Verwegenes. Der junge Mann war nicht Josh, aber er hatte eine Ausstrahlung – wow!

»Hm. Mausetot.« Julie nickte. Was hatte Mom bloß in die Muffins getan?

Der Junge blieb weiterhin am Boden knien und sah sich um. »An wen ist sein Besitz gegangen?«

»An die Wohlfahrt.«

Seine Brauen zogen sich zusammen. »Und Ihr seid von der Wohlfahrt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Von wem habt Ihr die Flasche?«

»Mrs. Warren hat sie mir geschenkt.«

»Und sie ist von der Wohlfahrt?«, fragte er, wobei er den Kopf leicht schief legte.

Sie nickte erneut.

»Dann gehöre ich jetzt Euch, Herrin.«

Herrin?!

Vorsichtig tippte sie den Jungen an der Schulter an. Fühlte sich echt an. Warm und lebendig. »Wer bist du? Was bist du?«

»Ein Flaschengeist.«

»Ja, genau!« Julie lachte schrill und sprang auf. »Hier will mich bestimmt jemand verarschen!« Wo war die versteckte Kamera?

Ruhelos wanderte sie im Zimmer umher, während sich der junge Mann nicht von der Stelle rührte, lediglich den Kopf drehte.

»Dann zeig mir doch mal, was du kannst«, sagte sie. »Verwandle dich in einen Frosch.«

Er rieb sich über die Stirn, als hätte er Kopfweh, und erwiderte: »Ich glaube, ich kann nicht zaubern, falls Ihr das meint.«

»Bitte sag Du und nenn mich nicht Herrin!« Das alles war zu kurios.

»Wie du wünschst.«

»Du glaubst also, nicht zaubern zu können?« Ihre Stimme wurde immer lauter. »Natürlich nicht, das wären dann zu viele Spezialeffekte, was?«

»Ich kann aber jedem neuen Besitzer drei besondere Wünsche erfüllen. Und du kannst mir Befehle geben«, erklärte er zerknirscht, als ob er das nicht sagen wollte, jedoch dazu gezwungen war.

»Das träum ich jetzt, oder?«

Der junge Mann schüttelte den Kopf.

Sie konnte ihm also Befehle erteilen? »Zurück in die Flasche mit dir!«

Gequält schaute er sie von unten herauf an und flüsterte: »Bitte nicht«, als er sich schon auflöste und die blaue Rauchsäule denselben Weg zurücknahm, wie sie herausgekommen war.

Als der letzte Rest in der Flasche verschwunden war, drückte Julie sofort den Stöpsel in die Öffnung und atmete tief durch.

Wow, es hatte funktioniert! »Ihr seid gut. Richtig gut! Und jetzt könnt ihr rauskommen, die Show ist vorüber!« Sie starrte auf die Tür, doch nichts passierte. Kein Filmteam stürmte ihr Zimmer, alles blieb ruhig.

Ihre Knie waren butterweich, woraufhin sie sich aufs Bett plumpsen ließ. Hart klopfte ihr Herz bis in den Hals und ihre Hände zitterten.

Was, wenn das wirklich kein Traum war und sich ein junger Mann in dieser Flasche befand? Einer, der ihr tatsächlich Wünsche erfüllen konnte? Vielleicht hatte das Universum von ihrem Liebeskummer genug und hatte ihr deshalb diesen Flaschengeist geschickt?

Josh und sie … zusammen.

Langsam streckte sie einen bebenden Arm aus und öffnete die Flasche ein zweites Mal.

Nick aus der Flasche

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