Читать книгу Zauber der Erinnerung – Heitere und besinnliche Kurzgeschichten und Lyrik – auch zum Vorlesen - Monica Maria Mieck - Страница 14
Zauber der Erinnerung
Оглавлениеoder: Eine Liebe im Spätsommer
Schon lange schiebt sie die Reise in die Vergangenheit vor sich her. Immer wieder sind leider Arzttermine wichtiger. Außerdem lebt die kreative Frau in ihrem ausgefüllten Ruhestand. Sie hat auch pünktlich Abgabetermine bei Verlagen einzuhalten. Aber für diese Freudequelle will und muss sie auch selber sorgen. Noch blühen in den Gärten Rosen in ihren bezaubernden roten, weißen und gelben Tönen. Doch die ersten Hagebutten leuchten schon an den vielen Büschen, wenn sie mit dem Fahrrad täglich an Wiesen und Feldern entlangfährt. Der Spätsommer mit seiner Fülle ist auch auf den Wochenmärkten zu sehen. Kürbisse leuchten in Gelb und Orange und in neuen Formen, die erst in den letzten Jahren angeboten werden. Die Frau denkt zurück an die Kürbisernte ihrer längst verstorbenen Eltern. Sie möchte auch so gerne noch mal zu der fernen Grabstätte ihrer Eltern fahren. Bevor es draußen kalt wird, will sie endlich die längst geplante Reise in ihre Jugendjahre verwirklichen.
Das Bahnticket ist schnell gekauft. In einem ruhig gelegenen kleinen Hotel, in dem sie sich schon vor etlichen Jahren zum Klassentreffen eingemietet und wohl gefühlt hatte, bestellt sie per Telefon ein schönes Einzelzimmer. Die leichte Reisetasche wird auf der weiten Fahrt mit den unverzichtbaren Sachen wie dem kleinen roten Reisewecker, dem wertvollen blauen Poesiealbum aus dem Jahre 1951 und dem weichen Schlafanzug gefüllt. Als die Frau in den ICE einsteigt, fühlt sie, dass eine freudige Stimmung sich in ihrer Seele ausbreitet. Still setzt sie sich auf ihren reservierten Fensterplatz. Ein kleines Buch mit Kurzgeschichten schlägt sie auf. Aber nach ein paar Minuten merkt sie schon, dass das gelesene Wort keine Chance hat, in ihr Inneres zu gelangen. Ihre Gedanken eilen schneller, als der ICE es vermag. Ihre fröhlich tanzenden Erinnerungen an die Jugendjahre sind schon am Zielort angekommen. Tief in diese heiteren Gedanken versunken, hört sie die Lautsprecherdurchsage des großen Bahnhofs. Mit der blauen Reisetasche in der Hand verlässt sie nach ein paar schönen erholsamen Stunden angenehmer Fahrt erwartungsvoll den Zug. Ein freundlicher Taxifahrer bringt sie wohlbehalten bis zum Hotel. Und dieser zuvorkommende Mann trägt der freundlichen Frau ihr kleines Handgepäck bis vor ihr reserviertes Appartement. Großzügig bezahlt sie den vorbildlichen Fahrer. Beim Betreten der Unterkunft für eine unbestimmte Zeit schweift ihr prüfender Blick zuerst zum frisch bezogenen Bett und der kleinen Leselampe am Nachttisch. Weil sie aus Gewohnheit vor dem Einschlafen immer so gerne noch etwas liest, ist für sie diese Leuchtquelle so wichtig. Über den Schreibtisch, der mit natürlichem Tageslicht vom Fenster verwöhnt wird, freut sie sich besonders. Auch das sehr saubere Duschbad mit den vielen weichen Verwöhnhandtüchern hat eine einladende Wirkung. Es ist inzwischen Spätnachmittag, und die Frau fühlt sich nicht mehr taufrisch wie am heutigen Morgen. Eine kleine Entspannung auf ihrem schönen Bett tut ihr gut. Einschlafen kann sie jedoch nicht. Sie wechselt ihre Kleidung und zieht bequeme Laufschuhe an. Der September verschenkt seine milden goldgelben Sonnenstrahlen auch in diesem ehemaligen Kohlenrevier. Die altvertrauten Straßen nimmt sie unter ihre schnellen Füße. Ihre wachen Augen, die noch keine Brille benötigen, saugen alle neuen Eindrucke begierig auf und speichern sie ab.
Zielstrebig geht sie zuerst zum Friedhof. Unter den hochbetagten Bäumen findet sie eine Bank im Schatten, die zum Verweilen einlädt. Auf den Wegen schaut sie aufmerksam auf die Inschriften der Grabsteine. Da findet die Suchende auch das Grab einer ehemaligen Klassenkameradin, die nicht mal fünfzig Jahre alt geworden ist. Dieses Mädchen war zur Schulzeit immer viel größer und kräftiger als sie. Dann steht sie lange vor der gepflegten elterlichen Grabstätte. Sie verspürt den dringenden Gedanken, mit ihrer toten Mutter zu sprechen. Leise sagt sie: „Mutter, warum ist es zwischen uns beiden nicht zu tiefgreifenden Gesprächen gekommen? Jetzt möchte ich dich noch so viel fragen.“ Sie pflanzt die zuvor gekaufte lilafarbene Heide auf das alte erinnerungsträchtige Grab.
In der belebten Innenstadt kommt sie an der kleinen alten Eisdiele vorbei. In der Kindheit hat sie dort für einen Groschen ein leckeres Eis im Hörnchen kaufen können. Bei dem Gedanken huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. Langsam bewegt sie sich weiter durch die altvertrauten Straßen. Ihre Augen sind auf der Suche nach bekannten Menschen. Sie schaut den Vorübergehenden gezielt in die Gesichter. Plötzlich traut sie ihren Augen im ersten Moment nicht. Der Mann, der ihr auf dem Bürgersteig entgegenkommt, hat mit ihr auch etliche Jahre gemeinsam die Schulbank gedrückt. Der graumelierte Herr von großer schöner Statur findet die ersten Worte: „Annegret, wie kommst du denn so plötzlich in unsere Gegend?“ – „Ja, mein lieber Felix, mich hat die Sehnsucht an den Ort getrieben, an dem ich meine schönsten Lebensjahre verbracht habe.“ In dem noch glatten Gesicht des Mannes sieht Annegret so ein verschmitztes Lächeln, wie sie es schon zur Schulzeit an ihm so gemocht hat. Beide stehen sich wie angewurzelt eng gegenüber. „Was meinst du, Felix, ist es nicht angenehmer, wenn wir jetzt vielleicht in Richtung Stadtpark einen Spaziergang machen, bevor die warme Septembersonne sich für heute verabschiedet?“ – „Gerne, liebe Annegret, das ist ein guter Vorschlag.“ Die kleine, immer noch schlanke Frau geht neben dem großen kräftigen Mann an seiner rechten Seite. Sie spürt, dass ihr Herz schneller schlägt als sonst. Annegret fühlt sich in Felix’ Nähe sehr wohl. Im Stadtpark blüht noch der wundervolle Phlox im schönsten Sommerkleid. Aus weißen und roten Trichterblüten verschenken die Flammenblumen ihren bezaubernden Duft. Die Frau steckt genießerisch ihr kleines Näschen in einen Blütenkelch. Felix schaut ihr zu und lächelt. Die Luft ist angenehm warm. Ein leichter Wind fächelt den Duft der Blumen zu den auf der Bank sitzenden beiden früheren Schulkameraden. Ein lebhaftes Gespräch entwickelt sich über die alten, längst verstorbenen Lehrer. „Sag mal, Felix, weißt du noch, dass du mir, als wir in der 8. Klasse waren und die wunderschöne zweiwöchige Klassenreise ins Münsterland gemacht haben, meine Schuhe geputzt hast? Und in der 6. Schulklasse bekam ich immer wieder kleine Liebesbriefe von dir durch andere Mitschüler heimlich zugesteckt.“ Der Mann rückt noch etwas dichter an seine heitere Gesprächspartnerin. Seine große feste Hand legt er sanft auf die kleine zarte Frauenhand. Mit seinen strahlenden braunen Augen sagt er: „Annegret, du hast ja wohl nichts aus der gemeinsamen Vergangenheit vergessen. Du zauberst mir jetzt noch einmal ein Stück unserer schönen Jugendjahre in diesen so besonderen Spätsommertag.“ – „Ich kann dir noch mehr erzählen, meine alte Jugendliebe.“ – „Ja, gerne‚ liebe Annegret, ich bin gespannt.“ – „In der Jugendherberge im Jahre 1952 wurden uns Schülern einige Lebensmittel zugeteilt. Wir bekamen zum Abendbrot nur zwei Scheiben Wurst und zwei Scheiben Käse als Belag für unser Brot. Ich konnte meine Ration gar nicht aufessen. Du kamst dann an meinen Platz, und ich gab dir gerne Wurst und Käse ab. Vielleicht bist du deshalb so groß und stark geworden.“ „Welch ein erstaunliches und phantastisches Gedächtnis du hast!“, und Felix schließt seine Arme sanft um die fröhliche Annegret. Mit geschlossenen Augen genießt die zarte Frau die wohlige Nähe und Wärme‚ die Felix ihr behutsam schenkt. „Wie zart du sein kannst, lieber Felix.“ Lächelnd sagt sie: „Ich weiß noch etwas viel Schöneres aus unserer Jugendzeit.“ – „Und ich dachte, jetzt hast du mir alles erzählt.“ – „Lieber Felix, versuch doch mal selber, dich daran zu erinnern, als wir beide 16 Jahre jung waren. Die Schulzeit lag hinter uns. In größeren Abständen bekam ich auch mal per Post einen lieben Brief von dir. Wir haben uns dann zu einem Spaziergang getroffen.“ Annegret schweigt jetzt. Sie will dem großen Mann Gelegenheit geben, sich zu erinnern. Felix schaut Annegret mit seinem funkelnden Charme in ihre ausdrucksstarken dunkelblauen Augen. „Bitte, spann mich nicht so auf die Folter. Verzeih mir mein schlechtes Gedächtnis.“ „Ja, ich erzähle dir und mir die wundervolle Geschichte zu Ende. Wir hatten uns verabredet. Nach einem ausgedehnten Spaziergang sind wir in einem kleinen Cafe eingekehrt. Worüber wir uns unterhalten haben, kann ich aber auch nicht mehr sagen. Aber ich weiß noch genau, dass du mir den Zucker in meiner Teetasse umgerührt hast. Ich habe diese kleine Geste damals als sehr fürsorglich und liebevoll empfunden.“ – „Ist die zarte Liebesgeschichte jetzt zu Ende?“ – „Nein“, sagt Annegret mit vor Freude strahlenden Augen. „Wir haben uns dann etwas später wieder getroffen. An diesem Tag machten wir einen ausgedehnten Waldspaziergang. Es war damals nicht so ein sonniges Wetter wie heute. Einsam wanderten wir durch den belaubten Wald. Plötzlich bliebst du stehen, hast mich fest mit deinen kräftigen Armen umschlungen und mir einen stürmischen Kuss auf meinen jugendlichen Mund gedrückt. Ich hatte damit nicht gerechnet, und mir blieb fast die Luft weg. Felix, du bist der Mann, der mich wachgeküsst hat. Und darum kann ich dich auch niemals vergessen.“ Mit etwas Wehmut in der klangvollen Altstimme sagt Annegret dann noch: „Ich denke, wenn du behutsamer und geduldiger gewesen wärest, hätten wir uns vielleicht nicht aus den Augen verloren.“ Felix schließt seine zarte Jugendliebe erneut in seine festen Arme, und mit einem Stoßseufzer sagt er: „Was meinst du wohl, wie oft ich in den langen Jahren danach in der Nacht von dir geträumt habe.“ Sie sitzen schon viele Stunden auf der Parkbank und haben überhaupt nicht auf eine Uhr geschaut. Die wärmende liebliche Spätsommersonne ist längst im Westen untergegangen. Eine warme Dunkelheit umhüllt das altjunge Liebespaar. Lange, sehr lange, genießen sie die körperliche Nähe. Annegret lässt sich von Felix’ zarten Küssen gerne beschenken. Sie wandern in der Nacht Hand in Hand beide schnellen Schrittes zum Hotel. An der Tür verabschiedet sich Felix mit einem zarten Streicheln über Annegrets schöne Wangen.
Am nächsten Morgen wacht Annegret früh auf. Während sie beim Frühstück kaum merkt, ob sie in ihre Teetasse Zucker gegeben hat, sind ihre Sinne mit dem wunderbaren gestrigen Tag beschäftigt. In ihrem schönen Hotelzimmer ruht sie noch ein wenig aus. Aber dann klingelt das Telefon. Als sie Felix’ Stimme hört, ist auch schon die Freude in ihr Herz gehüpft. „Annegret, weißt du schon, wann du abreisen willst?“ – „Ja, heute am Spätnachmittag, das würde reichen.“ – „Oh, wie schön, dann kann ich dich wenigstens noch zum Zug bringen“, sagt Felix mit unüberhörbarer Freude in seiner wohlklingenden Baritonstimme. Beide fahren am Nachmittag gemeinsam zum großen Hauptbahnhof. Pünktlich fährt der ICE auf dem Bahnsteig ein. Felix trägt Annegrets Reisetasche. Aus dem Lautsprecher dröhnt es: „Bitte einsteigen und die Türen schließen!“ Es geht alles so schnell. Beide sitzen dann dicht beieinander in einem schönen Abteil alleine. Annegret ist zunächst sprachlos, aber die liebevolle Spontaneität ihres Klassenkameraden liebt sie sehr. Sie kuschelt sich an den großen starken Mann und genießt seine Nähe und Wärme. Spontan öffnet Annegret ihre Reisetasche und legt Felix das alte wertvolle blaue Poesiealbum in seine Hände. „Bitte, schreib mir ein zweites Mal ein paar Gedanken zur Erinnerung in dieses alte Buch. Du kannst es mir mit der Post schicken. Dann lebe ich jetzt schon in der Vorfreude darauf.“ Am nächsten Bahnhof zaubert Felix ein rotes Kästchen in die Hände seiner Jugendliebe. Lies es heute Abend, bevor du zu Bett gehst. Mit einem liebevollen und wehmütigen Gesichtsausdruck schließt er seine große Liebe in seine Arme. Abrupt löst er sich aus der Umarmung und steigt eilig im letzten Moment aus dem Zug. Sein weißes Taschentuch flattert weinend im Wind.