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Kapitel 2

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Als der Streit im Erdgeschoss begann, saß Greta gerade in ihrem Zimmer am Schreibtisch an ihren Hausaufgaben für Mathe. Zahlen und Formeln begeisterten sie zwar nicht sonderlich, aber das machte sie mit Hartnäckigkeit wieder wett. Ausdauer zahlte sich in der Schule eigentlich immer aus. In manchen Fächern fiel es nur schwerer, dranzubleiben. Sie ließ ihren Stift sinken, als sie Hannes’ Wutschrei hörte. Gleich darauf brüllte ihr Vater etwas Unverständliches.

Oh nein, dachte sie.

Es war jetzt einige Zeit gut gegangen. Bis vor ein paar Wochen war kein Tag vergangen ohne einen gewaltigen Krach zwischen Hannes und ihrem Vater. Greta war auf Zehenspitzen durch das Haus geschlichen und hatte versucht, beide bei guter Laune zu halten. Leider war ihr das nur selten gelungen. Bei jeder Auseinandersetzung hatte sie zu vermitteln versucht, mit wenig bis gar keinem Erfolg.

Sie stand auf und ging zur Tür. In ihrem Zimmer standen ein Bett, ein Kleiderschrank, ein paar Regale und ein Schreibtisch. Das Bett hatte sie mit einer Tagesdecke und großen Kissen in ein Sofa verwandelt – sie benutzte es nie, da sie nachts das Schlafsofa in Hannes’ Zimmer bevorzugte. Sie wusste nicht, ob ihrem Vater das klar war.

Sie ertappte sich dabei, wie sie die Klinke so vorsichtig herunterdrückte, als sei sie ein Eindringling, der fürchtete, erwischt zu werden. Entschlossen öffnete sie die Tür.

„Wegen der paar Euro?!“, schrie Hannes gerade. „Ist das dein Ernst?!“

„Ich fänd‘s auch prima, wenn die paar Euro keine Rolle spielen würden“, bellte ihr Vater. „Aber es ist nun mal so. Tut mir leid.“ Sein Tonfall ließ jegliche Spur von Bedauern vermissen.

„Beim Schwimmen hab ich nichts gesagt“, behauptete Hannes, aber Greta erinnerte sich noch sehr lebhaft an den Moment, als ihr Vater Hannes eröffnet hatte, er könne von nun an nicht mehr in den Schwimmverein. An jenem Abend waren ein paar böse Worte gefallen. Langsam setzte sie einen Fuß auf die oberste Treppenstufe und begann, hinunterzugehen.

„Aber Fußball. Fußball?! Wir haben bald Turniere!“

„Noch ein Grund. Wir haben jetzt an genug Wochenenden den ganzen Tag auf irgendeinem Fußballplatz in der Pampa rumgehangen.“

„Alle meine Freunde sind in der Mannschaft!“

„Fußball kannst du überall mit ihnen spielen. Wir haben damals einfach einen Ball …“

„Ach, hör doch auf“, ätzte Hannes und wandte sich ab, um seinen Vater stehenzulassen. Da entdeckte er Greta auf der Treppe. „Aha! Perfektes Timing.“ Er drehte sich wieder zu Vater um. „Und sie? Keine Klavierstunden mehr?“

Greta blieb die Luft weg. Bitte, nicht …

Ihr Vater sah sie an. „Den Klavierunterricht kriegen wir hin, keine Sorge.“

Greta konnte förmlich sehen, wie in Hannes’ Kopf etwas klickte. „Was?!“, schrie er, aber es klang gar nicht wie ein Wort. „Das ist nicht fair!“

„Fußball kann man überall spielen. Aber Klavier …“

„Das heilige Klavier!“, brüllte Hannes. „Und die heilige Greta! Und die allheilige Mama!“

„Genug!“, donnerte ihr Vater. „Geh mir sofort aus den Augen. Ich will dich nicht mehr sehen!“

Hannes stand einen Augenblick lang da, schwer atmend, mit geballten Fäusten. Dann traten ihm die Tränen in die Augen und er sprintete los, die Treppe hinauf, nicht ohne Greta im Vorbeirennen mit der Schulter zu rammen.

„Hannes“, bat sie leise, aber er hörte sie vermutlich nicht einmal, sondern verschwand in seinem Zimmer und knallte die Tür so fest zu, dass die Bilder im Treppenaufgang wackelten.

Sie wandte sich wieder ihrem Vater zu. „Papa …“

Er stand da, in der Mitte des Raumes. Auf dem Couchtisch standen die unvermeidliche Tasse kalter Kaffee und der Laptop, irgendein Textdokument war geöffnet. Ein Bewerbungsschreiben, wusste sie. Es war furchtbar still.

Ihr Vater rieb sich die Augen. „Tut mir leid“, sagte er hohl. Sie wusste, er sagte es, weil es sich so gehörte.

„Ist okay“, sagte sie, weil es sich so gehörte. Es war kein bisschen okay. Ihr Inneres war ein einziger schmerzhafter Krampf. „Kann ich dir irgendwas bringen? Frischen Kaffee?“

„Was?“, er wirkte verwirrt. „Äh, nein. Nein.“ Und etwas zu spät: „Danke.“

„Ich geh dann mal wieder rauf“, sagte sie und wies mit dem Daumen über ihre Schulter. „Hausaufgaben.“

Er nickte und ließ sich aufs Sofa fallen, wodurch er ihr den Rücken zuwandte. Sie verharrte, beobachtete ihn, aber er tat nichts. Zumindest nichts, was sie sehen oder hören konnte.

Sie drehte sich um und stieg die Treppe hinauf. Ihr Blick fiel auf das Bild, das ihre Mutter und die dreijährige Greta zeigte, die gemeinsam auf einem mit Samt bezogenen Klavierhocker saßen. Ihre Mutter strahlte in die Kamera. Die Greta von damals war so damit beschäftigt, die glänzenden weißen und schwarzen Tasten zu drücken, dass sie vermutlich gar nicht gemerkt hatte, dass sie fotografiert wurde. Mit zitternder Hand nahm Greta das Bild von seinem Nagel, drückte es an sich und schlich hinauf in ihr Zimmer.

*

Jetzt hatte sie den Zeitpunkt so lange hinausgezögert, wie sie konnte. Hatte den Schulranzen für den nächsten Tag gepackt, ihre Hausaufgaben zwei Mal kontrolliert, sich fürs Schlafen fertig gemacht und ein paar Seiten gelesen. Sie war sogar unter die Tagesdecke auf ihrem Bett gekrochen und hatte das Licht ausgemacht. Aber das hatte sie nur wenige Minuten ausgehalten, bevor die Wände und die Decke ihres Zimmers begonnen hatten, näher zu rücken.

Sie öffnete ihre Tür und trat hinaus auf den Flur. Unten brannte kein Licht mehr, aber sie wusste, dass das nichts heißen musste. Oft genug saß ihr Vater im Dunkeln auf der Couch oder in der Küche. Was er dann tat, wusste sie nicht.

Hannes’ Zimmertür war geschlossen.

Sie ging über den Flur, lauschte dabei angestrengt. Es war nichts zu hören. Bitte, dachte sie, sei nicht mehr sauer auf mich.

Vor Hannes’ Tür blieb sie stehen und holte tief Luft. Gerade, als sie die Hand hob, um zaghaft anzuklopfen, wurde die Tür von innen geöffnet. Hannes stand vor ihr im Dämmerlicht der kleinen Nachtlampe, die hinter ihm neben seinem Bett brannte.

„Da bist du ja“, sagte er. „Wollte dich gerade holen.“

Der Krampf in ihrem Inneren löste sich schlagartig auf und verwandelte sich in bleierne Erschöpfung. Ihre Knie begannen, zu zittern. „Hannes“, flüsterte sie, und in diesem einen Wort lag alles. Ihr Bedauern, dass er nicht mehr in den Fußballverein gehen konnte, ihre Scham, dass sie um nichts in der Welt den Klavierunterricht aufgeben wollte, ihre Trauer.

„Alles okay“, sagte er beruhigend und nahm sie in die Arme. „Tut mir leid, dass ich ausgerastet bin.“

Sie klammerte sich an ihn. „Mir tut es leid.“

„Ich weiß. Alles okay.“

Aber es war überhaupt nichts okay. Vor zwei Jahren war ihre heile Welt aus den Fugen geraten und seither war nichts in ihrem Leben auch nur annähernd mehr okay.

*

Gretas Augen begannen, zuzufallen, kaum dass sie auf Hannes’ Schlafsofa lag und die Decke bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte. Sie war so schrecklich müde.

„Greta“, sagte Hannes plötzlich in die Dunkelheit.

„Mhm?“, antwortete sie, ohne die Augen zu öffnen.

„Denkst du auch manchmal darüber nach, wegzugehen?“ Schlagartig war sie hellwach und riss die Augen auf.

„Was?“

„Ich denke oft daran. Ich könnte mir eine Ausbildung oder Lehre suchen. Und ausziehen.“

Gretas Gedanken rasten. „Aber Papa …“

„Ich hab gegoogelt. Weil ich noch nicht volljährig bin, muss er zustimmen.“ Hannes lachte tonlos auf. „Aber was sollte er dagegen haben?“

„Und … und was ist mit mir?“, Greta fühlte, wie Angst in ihr aufstieg.

„Du unterbrichst mich ja ständig. Ich hab nicht gesagt, dass ich wirklich weggehe. Nur, dass ich oft daran denke. Und keine Sorge“, er richtete sich auf die Ellenbogen auf, wie um die Ernsthaftigkeit seiner Worte zu unterstreichen. „Ich würde dich nicht allein lassen.“

„Versprich es.“

„Ich verspreche es.“

Später atmete Hannes schon eine Weile langsam und regelmäßig, da lag Greta immer noch wach und starrte in die Dunkelheit. Alle Müdigkeit war wie weggeblasen. Sie hatte noch nie darüber nachgedacht, ob sie von zuhause fortwollte. Der Gedanke ängstigte sie. Wer konnte wissen, ob das Neue besser war als das Alte? Und hier, zuhause, gab es Dinge, die ihre Mutter besessen, berührt, geschaffen, geliebt hatte. Jeder Raum barg Dutzende von Geschichten. Wenn sie fortging, so fürchtete sie, würden ihre Erinnerungen an diese Geschichten verblassen, bis sie sich ganz auflösten.

Sie schloss die Augen. Sie konnten das schaffen. Sie hatten doch immer noch einander. Es war eine schwere Zeit, aber Mamas Tod war bald zwei Jahre her und wurde es nicht schon langsam besser? Sie hoffte inständig, dass sie dem Ende des dunklen Tunnels näherkamen, und nahm sich vor, alles dafür zu tun, dass Papa, Hannes und sie es hindurch schafften, ohne einander zu verlieren.

*

Die nächsten Tage vergingen ohne Zwischenfälle. Greta fühlte sich energiegeladen und planvoll. Sie war rund um die Uhr beschäftigt. Vor der Schule machte sie Frühstück für sie drei, meistens Cornflakes, dazu schwarzen Kaffee für Papa, Milchkaffee für Hannes und Erdbeermilch für sich selbst. Nach der Schule räumte sie auf, sorgte für Ordnung in der Küche, machte ihre Hausaufgaben, ging einkaufen. Später kümmerte sie sich um das Abendessen, meistens machte sie Nudeln oder Reis mit verschiedenen Soßen aus dem Glas. Ihr Vater schien sich zu freuen, denn er lächelte stets und lobte das Essen. Da Vater und Hannes sich ziemlich wortkarg gaben, sorgte sie dafür, dass das Tischgespräch am Laufen blieb. Sie plauderte über die Schule, über die Fernsehserien, die sie mochte, über die Nachbarn, die sich wegen der Mülltonnen stritten.

Am Freitag sah sie den Kühlschrank und die Vorratsschränke durch und schrieb eine Einkaufsliste. Sie hatte vor, mit dem Fahrrad zum nahen Supermarkt zu fahren und für die nächste Woche einzukaufen. Das Geld dafür wollte sie aus der Keksdose nehmen, die immer etwas Haushaltsgeld enthielt. Doch als sie die Dose öffnete, war nichts darin außer einigen wenigen Centmünzen.

Sie runzelte die Stirn. Vor ein paar Tagen waren noch fast fünfzig Euro in der Dose gewesen. Sie selbst hatte Wechselgeld hinein getan, als sie vom Bäcker zurückgekehrt war, und dabei die Summe grob überschlagen. Langsam setzte sie den Deckel wieder auf die Dose und stellte sie zurück ins Regal. Bestimmt würde ihr Vater die Dose bald wieder auffüllen.

Am Montag war ihre Einkaufsliste um ein paar Zeilen länger, aber die Keksdose enthielt weiterhin nur Centstücke. Am Mittwoch waren sogar die Centmünzen verschwunden.

Zur Abendessenszeit am Freitag stellte sie eine Schüssel Reis auf den Tisch. Ihr eigener Herzschlag dröhnte laut in ihren Ohren, als sie sich auf ihren Platz setzte.

„Was gibt’s dazu?“, fragte Hannes prompt, nachdem er sich lässig auf seinen Stuhl hatte fallen lassen.

„Nichts“, sagte Greta leise.

„Wie, nichts?“, wiederholte Hannes verständnislos.

„Es ist nichts mehr da“, sagte sie tapfer. „Und ich hatte kein Geld zum Einkaufen.“

„Er tut doch immer was in die Keksdose“, meinte Hannes und zeigte mit einer Daumenbewegung auf ihren Vater.

„Die ist leer.“ Und dann, bevor sie sich aufhalten konnte: „Schon seit Tagen.“

„Wie kann die leer sein? Als ich letzte Woche Sprudel kaufen war, waren da noch mindestens zwei Zwanziger drin.“

„Fünfzig Euro“, bestätigte Greta leise. Sie wagte es nicht, ihren Vater anzusehen. Sie spürte ihn dennoch da sitzen, am Kopfende des Tisches, die Hände gefaltet, das Kinn darauf gestützt. Und sie spürte die Spannung, die sich aufbaute, wie eine schwarze Gewitterwolke, lautlos und unheilschwanger.

„Okay, das ist doch ganz einfach“, sagte Hannes und wandte sich seinem Vater zu. „Du gibst uns was. Dann können Greta und ich morgen einkaufen gehen.“

Einige Sekunden verstrichen in totaler Stille. Dann sagte ihr Vater: „Das wird warten müssen bis zum Dreißigsten.“

Greta begriff nicht, aber Hannes schaltete erstaunlich schnell. „Da kommt das Geld vom Amt.“ Er machte eine Pause und sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. „Soll das heißen, dass wir bis dahin kein Geld mehr haben? Nichts mehr?“

Statt einer Antwort presste ihr Vater nur die Lippen zusammen.

Hannes’ Hand, die neben seiner Reisschüssel auf dem Tisch lag, krampfte sich zusammen. „Dir ist bewusst, dass wir Mitte des Monats haben, oder?“

„Heute ist der Siebzehnte.“

„Oh ja, na dann, dann ist das ja gar nicht die Mitte.“ Hannes’ Ton war schneidend. „Verzeih meine Übertreibung.“

„Ist gut jetzt, Hannes“, sagte ihr Vater, sehr leise. Greta konnte den Ton seiner Stimme nicht deuten.

Hannes rührte mit dem Löffel in seinem Reis herum, Metall schlug gegen Porzellan. Schließlich fragte er, wobei Greta ihm deutlich anmerkte, dass er seine Stimme zwang, ruhig zu klingen: „Wo sind die fünfzig Euro hin, die da drin waren?“

Ihr Vater legte die Handflächen auf den Tisch. „Das geht dich überhaupt nichts an.“

Hannes’ sprang auf und stieß seinen Stuhl um, dessen metallener Rahmen mit lautem Scheppern auf den Fliesen aufschlug. Greta zuckte so heftig zusammen, dass Reis in hohem Bogen von ihrem Löffel flog.

„Es geht mich nichts an?!“, Hannes brüllte vor Zorn. „Es geht mich nichts an?! Und was sollen wir bis zum Monatsende fressen?!“

Auch ihr Vater sprang auf. „So nicht!“, schrie er.

„Du kannst mich mal!“ Hannes war außer sich, er zitterte am ganzen Körper, als wäre er voller Energie, die nicht wusste, wohin sie sich entladen sollte. „Wie tief sollen wir noch sinken? Hm? Sag schon! Kein Geld, um essen zu kaufen?! Was kriegst du eigentlich auf die Reihe?“

„Du hast keine Ahnung!“ Das Gesicht ihres Vaters war verzerrt vor Wut. „Du hast keine Ahnung, wie es ist!“

„Was denn? Was? Sich zuhause den Arsch plattsitzen? Uns die Hausarbeit machen zu lassen? Stütze kassieren fürs Nichtstun?“

„Ich tu, was ich kann“, knirschte ihr Vater. „Alleinerziehende Väter stehen nicht unbedingt ganz oben auf der Kandidatenliste.“

„Ach so, wir sind schuld?!“, Hannes’ Stimme überschlug sich. „Du kriegst keinen Job wegen Greta und mir? Ich hab da einen Rat für dich: Geh mal einen Abend weniger in die Kneipe und lauf nicht rum wie ein Obdachloser! Krieg endlich deinen Scheiß gebacken!“

Es fühlte sich an, als stünde sie neben sich, als ihr Vater die Hand in die Luft riss. Vor Entsetzen schrie Greta auf.

Alle drei verharrten wie eingefroren. Sekundenlang bewegte sich niemand. Hannes starrte ihrem Vater in die Augen, ohne zu blinzeln. Ihr Vater wendete den Blick nicht ab, aber nach einigen Augenblicken nahm er die Hand herunter, langsam, so als kostete es ihn Mühe.

„Es wäre schon leichter ohne uns, nicht wahr?“, fragte Hannes, Blick und Stimme kalt wie Eis.

„Ganz genau“, antwortete ihr Vater.

Hannes Gesicht nahm einen triumphierenden Ausdruck an.

Greta verstand nicht, wieso. Sie fühlte sich wie unter Schock. Wie gelähmt. Sie fror.

„Komm“, sagte Hannes und hielt ihr die Hand hin. Sie ergriff sie automatisch und er zog sie zur Treppe. Sie folgte ihm, ohne den Blick von ihrem Vater zu nehmen, doch er sah stur in den Garten hinaus, in den das Abendlicht lange Schatten malte, und schließlich wandte sie ihm den Rücken zu.

Sie folgte Hannes oder ließ sich von ihm ziehen, in ihr Zimmer. Er ließ ihre Hand los, öffnete ihren Schrank und zog ihre Sporttasche aus dem untersten Fach. „Da, packen“, stieß er hervor.

Sie fühlte sich immer noch wie betäubt. „Was?“

„Pack. Deine. Sachen“, wiederholte Hannes. „Kleidung. Zeug fürs Bad. Aber vor allem deinen Ausweis und Geld.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, die Geste wirkte wild und fahrig. „Ich hab was gespart. Damit kommen wir eine Weile klar.“

„Hannes. Hannes, wovon redest du?“, fragte Greta, obwohl sie ihn bereits verstanden hatte. Aber was er vorhatte, war ungeheuerlich und unfassbar. Es fühlte sich zu groß an für ihren Kopf.

„Na, du hast ihn doch gehört“, sagte Hannes. „Er hätte es ohne uns leichter. Stimmt vermutlich sogar. Dann kann er jeden Job annehmen, egal wie die Arbeitszeiten sind oder wo der ist. Dann sind weniger Esser im Haus. Keine Schule, keine Vereine. Niemand, für den er irgendetwas tun muss.“

„Hannes, wir können nicht weglaufen. Wo sollen wir denn hin?“

„Wir finden schon was. Ich kann arbeiten. Es gibt Unterkünfte.“

„Das ist verrückt.“

„Greta, ich halte es hier nicht mehr aus. Ich kann nicht mehr. Wie lang geht das noch gut? Kein Geld für Essen. Und … und er hätte mich beinahe geschlagen.“

„Das hätte er nicht“, widersprach Greta, obwohl sie sich nicht sicher war.

„Natürlich nicht“, schnaubte Hannes.

„Er hat es schwer. Er braucht nur noch etwas Zeit. Wir waren auch traurig …“

„Waren? Echt jetzt?“, Hannes funkelte sie wütend an. „Ich bin es jedenfalls noch. Mama ist fort, für immer. Und den da“, er wies mit dem Kinn in Richtung ihrer Zimmertür, „hätte sie gleich mitnehmen können, denn … denn das ist nicht Papa. Nicht mehr.“

Greta schluckte. Hannes hatte recht. Der Mann, der vor zwei Jahren aus dem Krankenhaus nach Hause gekommen war, hatte mit dem Mann, der ihr Vater gewesen war, nichts mehr gemeinsam. Und so sehr sie in den vergangenen Monaten auch danach gesucht hatte: Sie hatte nicht das kleinste Anzeichen dafür gefunden, dass er je zurückkommen würde.

Der einzige, der noch immer bei ihr war und immer bei ihr sein würde, war ihr großer Bruder. Hannes hatte sich schon immer um sie gekümmert. Hatte Spielplatzrüpeln mit der Schaufel eines übergezogen, hatte ihr Fahrrad nach einem schlimmen Sturz nach Hause geschoben, ließ sie jede Nacht in seinem Zimmer schlafen.

Sie hob die Sporttasche vom Boden auf, stellte sie auf ihr Bett und zog den Reißverschluss auf. „Kleidung. Zeug fürs Bad. Verstanden.“

*

Die Sonne war untergegangen. Greta saß in ihrem Zimmer auf dem Bett, noch immer vollständig bekleidet, die gepackte Tasche neben sich. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis und sie fragte sich, ob alles nur ein schlechter Traum war. Sie tastete nach den Tragegriffen der Tasche und versuchte, zu verstehen, was sie tun würden: weglaufen.

Sie hatte Angst, spürte aber auch zunehmende Aufregung in sich aufsteigen. Ihr war nicht bewusst gewesen, wie wenig sich das Haus ihrer Eltern nach einem Zuhause angefühlt hatte in den letzten Monaten. Die Vorstellung, einfach wegzugehen und das Haus nie wieder betreten oder auch nur sehen zu müssen, wirkte beinahe befreiend. Sie hatte das Gefühl, zwischen diesen kalten, weißen Wänden nicht atmen zu können. Schon lange nicht mehr atmen zu können. Ihre Mutter und ihr Vater waren es gewesen, die diese Wände zu ihrem Zuhause gemacht hatten. Nun waren beide fort und ein Fremder hatte den Platz ihres Vaters eingenommen. Und das Haus hatte begonnen, sie zu erdrücken.

Ihr wurde klar, dass sie keine Angst davor hatte, ihr Zuhause zu verlassen. Sondern davor, wo sie hingehen würden. Vor der Ungewissheit. Aber sie verspürte Hoffnung und merkte erst jetzt, wie sehr sie dieses Gefühl vermisst hatte …

„Hausaufgaben. Jetzt.“

Hannes schmollte. „Och, Mama. Nur noch kurz Pause.“

„Wenn du die Hausaufgaben jetzt schnell machst, hast du nachher den Rest des Tages Pause.“

Hannes war diesem guten Argument nicht zugänglich. „Ich bin voll gestresst. Bin doch gerade erst aus der Schule gekommen.“

Ihre Mutter schüttelte den Kopf. „Und ich war arbeiten, bin nach Hause gerast und hab euch ein Mittagessen gekocht.“

„Dann weißt du ja, wie das ist“, schmollte Hannes, worauf ihre Mutter unwillkürlich lachen musste.

Greta grinste. Sie hatte ihre Schultasche bereits an den Esstisch geholt und war drauf und dran gewesen, Bücher und Hefte auszupacken, aber nun wartete sie gespannt, ob Hannes ihre Mutter nicht doch noch rumkriegen würde.

„Weißt du, was wir lange nicht gemacht haben?“, fragte Hannes plötzlich begeistert. „Wir haben schon ewig nicht mehr Das Verrückte Labyrinth gespielt.“

„Au ja!“, entfuhr es Greta.

Ihre Mutter lächelte. „Das können wir doch nach den Hausaufgaben machen.“ Aber sie wirkte nicht besonders überzeugt von dem, was sie da sagte.

„Ich sag dir was“, sagte Hannes in beruhigendem Tonfall und zog einen der grau gepolsterten Stühle vom Esstisch zurück. „Du setzt dich jetzt hier hin. Ich hol das Spiel und Greta macht dir eine Tasse Kaffee. Der Tag bisher war für uns alle anstrengend. Da würde uns etwas Abwechslung gut tun.“

Greta wusste, dass Hannes von seiner schauspielerischen Leistung überzeugt war. Sie selber fand die Darbietung reichlich durchsichtig. Und auch um die Mundwinkel ihrer Mutter zuckte es verdächtig.

Trotzdem sagte sie: „Also schön. Das klingt vernünftig. Eine Partie.“ Und nahm am Tisch Platz. „Mit viel Milch bitte, Spatz. Und Karamellsirup.“

Greta schob ihre Schultasche mit der Ferse unter die Eckbank, auf der sie saß, und sprang auf. „Na klar.“

Hannes durchstöberte die große Kommode im angeschlossenen Wohnbereich, in der die Familie alle Brett- und Kartenspiele untergebracht hatte. „Hab’s!“, rief er triumphierend und zog den großen Karton heraus.

Natürlich blieb es nicht bei der einen Partie. Greta gewann und Hannes verlangte Revanche. Er mochte das Spiel, auch wenn er längst nicht so gut darin war wie Greta, seine Züge vorauszuplanen und die Labyrinthplättchen so zu verschieben, dass er sein jeweiliges Ziel möglichst schnell erreichen konnte. Das zweite Spiel gewann ihre Mutter.

Es war eine fröhliche kleine Runde, die da am Tisch saß, aber Greta fiel auf, dass ihre Mutter immer häufiger zu der großen Wanduhr aufsah. War das wegen der Hausaufgaben? Schließlich bemerkte ihre Mutter, dass Greta ihre häufigen Blicke zur Uhr nicht entgingen, und lächelte sie an.

„Wegen Papa. Das Meeting mit dem Kunden ist schon lang vorbei. Er sollte eigentlich schon hier sein.“

Meeting. Greta war erst acht, aber sie wusste schon, dass bei einem Meeting wichtige Menschen zusammenkamen, die wichtige Dinge besprachen. Immer, wenn Papa ein Telefonmeeting hatte, war es bei Höchststrafe verboten, sein Büro unter dem Dach zu betreten. Diesmal war das Meeting sogar so wichtig, dass er dafür seinen besten Anzug angezogen hatte und irgendwohin gefahren war. Er hatte eine große Mappe und einen Stapel bunter Pappen dabei gehabt, als er heute in aller Frühe das Haus verlassen hatte, um nur ja nicht zu spät zu kommen.

Mutters Erklärung schien eine Art Beschwörungsformel gewesen zu sein, denn nur wenige Augenblicke später hörten sie, wie jemand die Tür aufschloss. Ihre Mutter stand auf, die Anspannung war ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. Im Windfang klapperten Kleiderbügel und wurden Schuhe in das Schuhregal gestellt.

Dann trat ihr Vater ein, in Anzughose und Hemd, auf Strümpfen. Wie immer sah er großartig aus. Er hielt die Hände hinter dem Rücken. Sein Gesicht war ausdruckslos.

„Und?“, fragte ihre Mutter beklommen. „Wie ist es gelaufen?“ Ein paar Sekunden Stille. Dann holte er tief Luft und sein ganzes Gesicht glühte auf, als sich ein breites Lächeln auf seinem Gesicht ausbreitete.

„Die Entwürfe haben ihnen gefallen“, sagte er und holte die Hände hinter dem Rücken vor. In einer hielt er eine grüne Flasche mit goldenem Etikett. „Ich hab den Auftrag.“

„Du … du hast ihn?“ Ihre Mutter wirkte erst schockiert, dann begeistert. Sie umarmte ihn. „Du hast ihn! Herzlichen Glückwunsch!“

„Es lief super. Das Konzept kam super an. Ich kam super an“, erzählte er lachend. „Sie wollen für die neuen Büros was Neues, was Modernes, und ich hab ins Schwarze getroffen.“ Er hob die Hand und zeichnete mit Daumen und Zeigefinger ein unsichtbares Banner in die Luft und sagte dazu: „Erfolgsfaktor Flexibilität. Die Einrichtung passt sich der Arbeit an, und nicht andersrum.“

Ihre Mutter griff nach der Flasche. „Gib her, die machen wir sofort auf! Warte mal … ist das Champagner?“

„Sekt war nicht genug.“ Er grinste. „Erst die neuen Büros. Aber sie denken schon darüber nach, das Konzept auch auf die alten Standorte auszuweiten. Ich würde die dann alle umbauen.“

„Das … das klingt riesig.“

„Ist es auch! Vielleicht muss ich bald einen Mitarbeiter einstellen. Vielleicht brauch ich ein richtiges Büro!“ Er lachte, als er ihr Gesicht sah. „Eins nach dem anderen. Das sagst du immer. Und deine Ratschläge sind immer gut.“ Seine Stimme wurde leiser, weicher. „Sie haben mich genau hier hin gebracht.“

Ihre Mutter strahlte. Hannes – in Sicherheit außerhalb des Sichtfelds ihrer Eltern – verdrehte die Augen und deutete an, sich übergeben zu müssen. Greta grinste. Aber dann sah sie wieder zu ihren Eltern. Die Art, wie die beiden sich ansahen, sorgte dafür, dass es in ihrem Bauch ganz warm wurde. Sie war glücklich.

Liebevoll sah ihr Vater auf ihre Mutter hinunter. „Vielleicht ziehen wir dann nochmal um. Ins Haus deiner Träume.“

„Wir leben bereits im Haus meiner Träume. Wir haben es zusammen gebaut“, entgegnete sie. „Aber vielleicht können wir Urlaub machen. So richtig.“

„Ja, Urlaub!“, schrie Hannes, sprang zu ihren Eltern und bewies einmal mehr, dass ihm jedes Feingefühl fehlte. „Am Meer! Speedboat fahren!“

Greta sprang auch auf, da sie das Gefühl hatte, dass ihre Wünsche rechtzeitig auf den Tisch mussten, um nicht unterzugehen. „Mit Delfinen!“

„Speedboat fahren mit Delfinen?“, überlegte ihr Vater stirnrunzelnd. „Können die das überhaupt?“

„Mann, Papa!“, beschwerte sich Greta, als ihr Vater und Hannes in schallendes Gelächter ausbrachen.

Ihre Mutter strich ihr beruhigend über das Haar. „Die machen nur Spaß, Spatz. Komm mit, wir holen Gläser. Aber zuerst reserviere ich noch schnell für heute Abend einen Tisch beim Italiener. Bring mir mal bitte das Telefon in die Küche.“

„Spaghetti!“, riefen Hannes und Greta wie aus einem Mund. Greta lief zum Festnetztelefon im Flur. Die Taste mit dem Briefumschlag blinkte unablässig. „Eine Nachricht ist auf dem AB“, verkündete Greta daher in der Küche, als sie ihrer Mutter das Telefon reichte.

„Da hat wohl jemand angerufen, während wir gespielt haben.“ Ihre Mutter drückte Greta ein Tablett mit vier Sektgläsern in die Hand, zwei davon waren bereits mit Orangensaft gefüllt. Dann drückte sie ein paar Tasten auf dem Telefon. „Oh. Doktor Schultz.“ Als sie einen weiteren Knopf drückte, sprang der Anrufbeantworter an. Die Stimme ihres Hausarztes erklang, gemessen, ernst. „Frau Holtzknecht, hier ist Doktor Schultz. Die Ergebnisse sind da. Bitte vereinbaren Sie einen Termin. Wir müssen sprechen.“

Greta konzentrierte sich voll darauf, die Gläser heil an den Esstisch zu bringen. So sah sie nicht, wie ihre Mutter das Telefon langsam sinken ließ, während das Lächeln aus ihrem Gesicht verschwand und Angst und Sorge seinen Platz einnahmen.

Gretas Wecker, den sie sich auf die verabredete Zeit gestellt hatte, begann, leise zu piepen und holte sie zurück ins Jetzt. Sie erhob sich, packte ihre Tasche und ging durch das Zimmer. Behutsam drückte sie die Klinke herunter und schob die Tür auf. Sie lauschte. Es war nichts zu hören. Im Flur war es dunkel, vom Wohnbereich strahlte kein Licht die Treppe herauf. Das Fenster am Ende des Flurs ließ das Mondlicht ein. Nachdem sie eine ganze Zeit lang im Dunkeln gesessen hatte, hatten sich ihre Augen gut an das Dämmerlicht gewöhnt.

Hannes’ Tür öffnete sich und sein blasses Gesicht erschien im Spalt zwischen Türblatt und Rahmen. Er verharrte kurz, um zu horchen, dann winkte er ihr. Sie schlich über den Flur, das Herz klopfte ihr bis zum Hals. In ihren Ohren dröhnte ein Rauschen. Erleichterung durchströmte sie, als Hannes die Tür hinter ihr zuschob.

Hannes schloss die Tür so leise wie möglich und lehnte sich dann dagegen. Um seinen Hals hing ein Brustbeutel. Greta dachte kurz daran, wie sehr er es verabscheut hatte, wenn ihre Mutter sie gezwungen hatte, so einen auf Klassenfahrten zu tragen.

„Dein Geld. Gib es mir“, flüsterte er.

Gretas Hände zitterten, als sie in ihrer Hosentasche nach den Scheinen wühlte. Sie reichte ihm das zerknüllte Bündel. Er glättete die Scheine notdürftig und steckte sie in seinen Brustbeutel, den er dann unter seinem T-Shirt verschwinden ließ.

„Gut. Ich war vorhin kurz im Büro oben. Hab unsere Ausweise gefunden. Und die Versichertenkarten. Hab auch die Schülerausweise. Vielleicht wollen wir ja mal günstiger ins Kino.“ Er lachte, aber es klang künstlich. „Alles hier drin.“ Er klopfte sich auf die Brust.

„Ok. Ich mein, gut. Gut gedacht.“ Greta hatte das Gefühl, neben sich zu stehen und sich selbst zuzusehen. War sie wirklich gerade dabei, wegzulaufen? Von zuhause?

Hannes schien sich über das Kompliment zu freuen. „Und ich hab unsere Jacken geholt. Die dicken. Wird ja jetzt Herbst. Vermutlich wird es nachts bald kälter.“

„Mhm-mhm.“ Mehr brachte Greta nicht zustande. „Nachts“, hatte er gerade gesagt. Einfach so, als wäre nichts dabei. Greta jedoch wurde schlagartig klar, dass sie in der nächsten Nacht nicht unter ihre Bettdecke mit den aufgedruckten Minions schlüpfen würde. Ihr wurde übel.

„Er“, begann Hannes, „ist irgendwo unten. Ich weiß nicht, wo. Er ist jedenfalls nicht oben.“ Damit meinte Hannes das Stockwerk der Kinder und die Räume unter dem Dach, wo das Arbeitszimmer ihres Vaters und das Elternschlafzimmer lagen. Das Elternschlafzimmer hatte ihr Vater seit Monaten nicht mehr betreten. Die Geschwister auch nicht.

Greta jedoch war vorhin dort gewesen, hatte sich wie ein Dieb mit einer Taschenlampe in den kalten Fingern hinaufgeschlichen. Die Staubschicht auf den Möbeln und die abgestandene Luft hatten ihr Tränen in die Augen getrieben. Sie hatte das gerahmte Bild vom Nachttisch ihrer Mutter genommen, das im letzten gemeinsamen Urlaub entstanden war. Sie hatten sich für die Aufnahme auf eine Mauer am äußersten Rand einer Steilklippe gesetzt, und hinter ihnen war nichts zu sehen als das dunkle Blau des Meeres und das helle Blau des Himmels. Nur Weite, und ihre vier strahlenden Gesichter.

Jetzt lag der silberne Bilderrahmen leer und vorwurfsvoll auf ihrem Bett. Sie hatte das Bild herausgenommen, gefaltet und in die Gesäßtasche ihrer Jeans gesteckt.

„Hier, anziehen“, sagte Hannes und drückte ihr ihre Sneakers in die Hand. Seine eigenen trug er schon. Während sie in die Schuhe schlüpfte, rollte er ihre beiden Jacken zusammen und befestigte sie mit Paketschnur an seinem riesigen, prall gefüllten Wanderrucksack. Dann hievte er den Rucksack auf seinen Rücken. Er sah damit aus wie ein Teilnehmer der Dschungelexpedition in diesem Dokumentarfilm, den sie vor kurzem gesehen hatten.

„Los geht’s. Weil wir nicht wissen, wo genau er ist, können wir die Haustür nicht riskieren. Über das Flurfenster kommen wir aber aufs Dach der Garage. Und von da über die Mülltonnen nach unten auf die Straße. Ganz einfach.“

Er öffnete die Tür seines Zimmers, lauschte wieder, aber im Haus regte sich nichts. Ohne sich nach ihr umzusehen, bedeutete er ihr mit einer Handbewegung, ihm zu folgen, und huschte in den Flur hinaus. Sie lief ihm nach, bemühte sich, leise zu sein und mit ihrer Tasche weder an der Tür noch an der Kommode im Flur anzustoßen. Als sie am Ende des Flurs ankam, hatte er bereits das Fenster geöffnet und war auf die Fensterbank geklettert.

„Ich geh raus und du gibst mir dann deine Tasche“, flüsterte er und schwang die Beine aus dem Fenster.

Greta kam das Fenster riesig hoch vor. Beinahe hätte sie aufgegeben. Aber dann wuchtete sie die Tasche hoch und schob sie hinaus. Aufgrund der Tasche konnte sie Hannes draußen nicht sehen. „Hast du sie?“, wisperte sie, dann spürte sie, dass Hannes die Tasche packte und zog.

„Ja“, bestätigte er, und die Tasche verschwand ins Freie. Sie holte tief Luft, dann stemmte sie sich hoch und kletterte auf die Fensterbank. Sie beugte sich hinaus. Das Dach der Garage war überhaupt nicht weit unter ihr. Auch nicht weiter als hinter ihr der Boden des Flurs.

„Komm, ist ganz einfach“, versprach Hannes und streckte ihr die Hand entgegen.

Ohne genau zu wissen, wieso, ignorierte Greta seine Hand. Sie stieß sich ab und ließ sich fallen. Die Kiesel auf dem Garagendach knirschten unter ihren Schuhsohlen, als sie landete.

„Sehr gut“, lobte Hannes leise und strahlte sie an. „Mir nach.“

Sie eilten über das Dach direkt dorthin, wo sich unten der kleine Verschlag für die Mülltonnen an die Garage anschloss. Es ließ sich nicht vermeiden, dass die Kiesel unter ihren Schritten mahlten, und Greta sah zwei Mal zurück zum Fenster, in der Erwartung, ihren Vater dort zu sehen, wütend, fassungslos, enttäuscht. Aber er tauchte nicht auf.

Wieder kletterte Hannes als erster nach unten auf den metallenen Verschlag, der die Mülltonnen verbarg. Beim Aufsetzen verursachten seine Füße ein Geräusch wie von einem dumpfen Gong und er verharrte. Dann schüttelte er sich und hob die Arme. „Die Tasche!“, rief er leise.

Greta ließ die Tasche zu ihm herab, dann ging sie auf die Knie und ließ die Füße hinunter. Immer weiter rutschte sie auf dem Bauch über die Kante, klammerte sich an der Dachkante fest und fühlte zunehmende Angst. Wie weit noch? Sie würde fallen …

Dann spürte sie Hannes’ Hände, die sie an der Hüfte packten. „Noch ein Stück. Du bist gleich unten. Jetzt lass einfach los.“

Sie schloss die Augen und ließ sich fallen. Fast sofort spürte sie festen Boden unter ihren Füßen und hörte den metallischen Gong. Sie riss die Augen auf. „Geschafft!“, freute sie sich und hob die flache Hand.

„Jap“, grinste Hannes und klatschte sie ab. „Jetzt auf zur Bushaltestelle.“

Der Rest war ein Kinderspiel. Hannes hüpfte vom Mülltonnenverschlag und hob Gretas Tasche herunter. Sie setzte sich an den Rand und sprang dann ebenfalls. Dass der erste Teil ihrer Unternehmung so reibungslos geklappt hatte, beflügelte Greta, und auch Hannes sah beinahe fröhlich aus, auf jeden Fall aber war sein Gesichtsausdruck verwegen und abenteuerlustig. Sie nahm ihre Tasche an den Henkeln und dann rannten sie davon, die von einsamen Laternen erhellte Straße entlang. Außer ihren Schritten und dem Rascheln ihrer Kleider und Gepäckstücke war nichts zu hören. Der Vorort schlief. An der Bushaltestelle, so wussten sie, würde um halb vier der erste Bus fahren. Dieser würde sie mitnehmen.

Weg von hier. In die Stadt.

Hannes und Greta

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