Читать книгу Wolke 8 ... oder Plädoyer für die Liebe - Monika Kunze - Страница 4

Wenn´schneiet rote Rosen ...

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Aus einem in der DDR "verordneten" Briefwechsel der Oberschülerin Anne (17) mit Jean (18), dem Jungen aus Marseille, war bald mehr als Freundschaft geworden. Bei seinem ersten Besuch in der DDR macht er Anne sogar einen Heiratsantrag. Doch jenes Land hatte Ausreisen "ins kapitalistische Wirtschaftsgebiet" für seine Bürger nicht vorgesehen …

War es schon früher Abend oder noch später Nachmittag? Anne wusste es nicht. Es war lange nicht vorgekommen, dass sie so in Gedanken versunken war, dass sie alles um sich herum vergaß. Sie schaute auf den See und nahm trotzdem kaum die glitzernden Muster wahr, die die Sonne darauf malte. Die Wasseroberfläche lag völlig ruhig. Einige Leute, die sich etwa hundert Meter entfernt niedergelassen hatten, waren mit sich selbst beschäftigt. Ihr leises Stimmengemurmel klang friedlich, manchmal wurde es von einem hellen Kinderlachen unterbrochen.

Anne mochte es, wenn Kinder so wie diese lachten. Dann spürte sie, dass deren Welt noch in Ordnung war.

Sie hatte sich ein Plätzchen weit hinten bei einer kleinen Gruppe von Zwergkiefern gesucht, wo sie schon seit Stunden halb lag, halb saß.

Niemand achtete auf sie. Das konnte Anne nur recht sein, denn sie hatte die Zeiten, als sie alle Blicke auf sich zog, schon lange hinter sich gelassen. Sie war nicht mehr das junge ranke und schlanke Mädchen, das sich eng an ihren französischen Brieffreund schmiegte. Diese glückliche und viel zu kurze Zeit lag Jahre, nein, Jahrzehnte, zurück. Das war unschwer zu erkennen: an den Pölsterchen, die inzwischen zu ihrem Körper gehörten und mit denen sie sich längst angefreundet hatte, an den Fältchen um die Augen oder an ihrem Haar, das zwar noch immer haselnussbraun leuchtete, aber schon lange nicht mehr so voll war wie in ihrer Jugend.

Aber waren das nicht alles Nebensächlichkeiten? Das wichtigste Erkennungsmerkmal für die lange Zeit, die seit damals vergangen war, trug die Landschaft selbst. Wie hatte sie sich doch verändert!

Als sie sich mit Jean vor langer Zeit an diesem Ort getroffen hatte, gab es hier nur ein riesiges Loch, aus dem die Lausitzer Braunkohle gekratzt wurde. Wer hätte es denn damals auch glauben sollen, dass es hier jemals einen See geben könnte? Sie, die junge Frau aus der DDR und er, der junge Mann aus Marseille, jedenfalls nicht.

In all den Jahren war sie nur ein einziges Mal hier gewesen. Das musste in der Zeit gewesen sein, als man gerade begonnen hatte, den See zu fluten.

Staunend und auch ein bisschen erwartungsvoll hatte sie ganz allein an dem noch nicht einmal richtig verfestigten Ufer (dessen Betreten eigentlich verboten war) gestanden wie einst mit Jean am Tagebaurand. Sie hatte sich umgeschaut und tief in sich hinein gelauscht. Aber nichts hatte sich in ihrem Inneren geregt. So jedenfalls hatte sie es sich selbst eingeredet. Heute wusste sie, dass sie sich damals etwas vorgemacht hatte. Aber diese uralte Sehnsucht schien ihr zu nichts nütze zu sein, sie würde sie nur wieder durcheinanderbringen. Ob Freunde, die Familie, Lehrer und spätere Kollegen: alle hatten ihr suggeriert, dass ihr tiefes Gefühl nur die unsinnige Schwärmerei eines jungen Mädchens sei. Bis sie irgendwann selbst davon überzeugt gewesen war.

Nach dieser Einsicht wollte sie sich keine Schwäche mehr erlauben, denn seit jenem Tag befürchtete sie nicht mehr, dass sie vergeblich warten würde. Sie wusste es - oder glaubte es wenigstens zu wissen.

So war sie damals nach Hause gegangen und hatte sich unter der heißen Dusche ihren tiefen Schmerz, ihre Hoffnung und wohl auch ihre Sehnsucht endgültig abgespült.

Danach hatte es Anne nicht mehr über sich gebracht, zum See fahren.

Natürlich hatte sie aus den Medien und aus Erzählungen ihrer Freunde und Arbeitskollegen erfahren, dass der See, der nun die einstigen Mondlandschaft ersetzte, von Jahr zu Jahr schöner geworden war.

Aber dass er eines Tages so schön werden würde wie er sich ihr jetzt zeigte, das hätte sie niemals für möglich gehalten. Sie nicht und die meisten Menschen, die sie kannte, wohl auch nicht.

Und Jean? Wäre vielleicht alles anders gekommen, wenn sie einander mehr vertraut hätten?

Anne musste schlucken. Mit Wucht drängte eine Frage aus ihrem tiefsten Inneren an die Oberfläche: Wie hatte sie es zulassen können, dass die schmerzlichen Erinnerungen sie von diesem so traumhaften Platz ferngehalten haben? All die Jahre!

Kühles Wasser umspülte ihre Füße. Leichtes Plätschern drang an ihr Ohr und dann plötzlich schnatterte laut ein Vogel. War es ein Erpel, der von irgendwo her nach seiner Liebsten rief?

Wie sehr wünschte sie sich jetzt, dass Jean angeschwommen käme, prustend aus dem Wasser stiege und sich schüttelte. Wie gern hätte sie sich in seine Arme geworfen.

Heute musste sie sich noch gedulden. Wer weiß, was der morgige Tag bringen würde?

Doch warum sollte sie sich um die Zukunft Sorgen machen? Das hatte sie sich doch schon vor Jahren abgewöhnt, weil sie gemerkt hatte, dass es sich im Jetzt und Hier unbeschwerter leben ließ.

Mit geschlossenen Augen genoss sie die Wärme des ausklingenden Sommertages. Alle Geräusche, ganz gleich ob sie von den Booten, von den Bäumen und Sträuchern, von den Vögeln oder einfach nur von anderen Badegästen kamen, schienen in weite Ferne gerückt zu sein. Würziger Duft nach Kiefern und nach Meer lag in der Luft. Nach Meer? Sie war wohl allmählich in so einen Zustand zwischen schlafen und wachen geglitten, bei dem sie Traum und Realität nicht mehr unterscheiden konnte?

Doch das Rot hinter ihren Lidern war real, so real, dass es mit einem Mal zu brennen begann. Träge öffnete sie die Augen und musste blinzeln. Es war genau der Moment, als sich der Himmel über dem Horizont blutrot färbte und sich im Wasser spiegelte. Was für ein Schauspiel!

Unter die Freude über diesen schönen Augenblick mischte sich sofort Ärger. Die Kamera! Sie lag im Rucksack – und der befand sich im Auto. Mist!

Aber so schnell wie der Ärger gekommen war, verflog er auch wieder. Heute war sowieso nicht der rechte Tag zum Arbeiten.

Langsam ließ sie sich zurück gleiten in den warmen Sand, vom See her wehte eine leichte Brise.

Wieder wünschte sie sich Jean an ihre Seite, seine Hände auf ihrer Haut, seinen Mund, der ihr eine Haarsträhne aus der Stirn pustete!

Was hatte er damals gesagt, als sie eng umschlungen am Tagebaurand gestanden und sie ihn gefragt hatte, wann er wiederkäme?

„Wenn aus dieser Mondlandschaft ...“

Nein, irgendetwas in ihr sträubte sich nach wie vor dagegen, die Erinnerung an seine vollständige Antwort zuzulassen. Du meine Güte, meldete sich der Verstand, was soll denn das? Würde es denn weniger weh tun, wenn sie ihre Erinnerungen immer weiter in die hinterste Ecke ihres Bewusstsein verbannte?

Viel zu lange und viel zu oft hatte sie das in den zurückliegenden Jahren getan!

Genützt hatte es offenbar gar nichts. Na, also. Sollte sie nicht inzwischen erwachsen genug sein, um zu wissen, dass der Verstand gegen so ein großes und echtes Gefühl sowieso nichts auszurichten vermag?

Sie spürte, wie ihr Puls schneller wurde. Sie hatte diesen Franzosen wohl nie so richtig vergessen können, nicht einmal in den Jahren, als sie mit Hartmut verheiratet gewesen war.

Anne schaute auf die Datumsanzeige ihrer Armbanduhr: 13. Juli 1995. Morgen also, morgen würde der Vierzehnte sein, der 14. Juli, der französische Nationalfeiertag.

An jenem denkwürdigen Tag hatte ihr Jean einstmals einen Heiratsantrag gemacht.

Ihr wurde flau im Magen, anscheinend waren dort gerade Tausende von Schmetterlingen aus ihrem jahrzehntelangen Tiefschlaf erwacht. Wie war denn so etwas möglich? Sein Antrag lag dreißig Jahre zurück!

*

Begonnen hatte ihre Brieffreundschaft aber schon viel eher, als beide noch zur Schule gingen. Er wohnte damals in Marseille und schrieb ihr jede Woche. Sein Deutsch ließ anfangs ebenso zu wünschen übrig wie ihr Französisch. Doch mit der Zeit verbesserten sich ihre Sprachkenntnisse, was auch Annes Lehrerin erfreut zur Kenntnis nahm.

Nach dem Abitur schrieben sie einander weiter. Eines Tages wollte er Anne sehen und in den Arm nehmen. Er lud sie ein, zu sich nach Hause, nach Marseille. Er wollte sie seinen Eltern vorstellen, wie hatte ihr Herz gejubelt!

Doch schon im nächsten Augenblick kam eiskalte Ernüchterung. Wie konnte sie das vergessen? Sie lebte doch in einem Land, das Frankreichbesuche für seine Bürger überhaupt nicht vorsah. Aber anstatt zu rebellieren, versuchte sie, ihm diese absurde Beschränkung der Freiheit zu erklären. Sie schrieb ihm von der Berliner Mauer und davon, wie gefährlich es sein würde, sie überwinden zu wollen.

"Dann komme ich womöglich ins Gefängnis" stand in ihrem Briefentwurf. Beim Durchlesen bekam sie einen Schreck. Das konnte sie so auf keinen Fall stehen lassen.

Sie schrieb den Brief neu, diesmal ohne die Angst vor dem Gefängnis auch nur mit einer Silbe zu erwähnen. Man konnte ja nie wissen, wer noch alles ihre Post mitlas.

„Gut, dann werde ich eben kommen …“ schrieb Jean kurz entschlossen zurück.

Sie freute sich riesig, obwohl es für sie verboten war, Kontakte zum „kapitalistischen Wirtschaftsgebiet“ zu haben. Sie hatte zu der Zeit gerade eine Ausbildung als Fotografin bei einer Zeitung begonnen.

Verboten hin, verboten her. Jean war doch für sie ein Freund – und kein Wirtschaftsgebiet. Sie musste dieses Treffen auf jeden Fall riskieren. Vorsichtshalber bat sie ihre Freundin Sabine, alle Formalitäten zu erledigen, was auch in verhältnismäßig kurzer Zeit klappte.

Anne hatte Urlaub genommen und war froh, dass ihr Vater ihr seinen jadegrünen Trabant lieh, damit sie ihrem Freund Jean ihre Heimat zeigen konnte. Sie weiß noch heute, dass sie viel zu früh am Bahnhof erschienen war. .

Wer dort wen zuerst entdeckte? Das war völlig unwichtig. Wichtig hingegen war, dass sie ihn sofort erkannte – vom Foto, das sie in der Hand hielt. Sein dunkler Haarschopf überragte alle anderen. Sie rannten aufeinander zu und lagen sich sofort in den Armen. Der Boden begann sich um sie herum zu drehen, so ein Gefühl war Anne bisher verborgen geblieben.

„Komm er, isch alte dich, cheri“, flüsterte Jean an ihrem Ohr und sie wusste in dem Moment, dass alles richtig war.

So gab es in den nächsten Tagen für sie keinen Atemzug mehr, der nicht Jean hieß. Sie zeigte ihm ihre kleine Stadt, wo sie zur Schule gegangen war, die Redaktion, aus gutem Grund, nur von weitem. Sie spazierten Hand in Hand durch den Park, fühlten sich in dem kleinen Schloss wie König und Königin. Selbst dem Tagebau, der tatsächlich einer Mondlandschaft glich, zollten sie Bewunderung ob seiner Größe und Großzügigkeit, denn immerhin versorgte seine Kohle die Menschen mit Wärme und Licht.

Oft saßen sie auch im Eiscafé am Markt und genossen zwischen den Küssen fruchtige Milchshakes, die zu der Zeit in der DDR gerade in Mode gekommen waren.

Gegenüber stand ein Hotel namens „Glück auf“. Beide hatten wohl zunächst den selben Gedanken, verwarfen ihn aber gleich wieder.

Sie fühlten sich in Annes kleiner Mansardenwohnung wohler. Dort lagen sie meistens auf dem Teppich, redeten und tranken Wein.

Dass sie bald auch miteinander schliefen, hatte sich ganz selbstverständlich ergeben. Es war, als seien sie eigens dazu geboren worden, um sich zu suchen und zu finden und schließlich ineinander aufzugehen. So ähnlich jedenfalls hatte es Jean ihr ins Ohr geflüstert.

„Ann!“

Ihr Name klang seltsam ohne das e am Ende. Und seine Stimme flüsterte zärtlich und leidenschaftlich zugleich. Und dann war da noch etwas: Angst, dass sie einander verlieren könnten?

„Oui, mon amour, Jean?"

In seinen Armen fühlte sie sich unglaublich gut. In seinen Augen konnte sie sehen, dass er genauso empfand wie sie.

Stunden später sagte er, dass jener Tag ein ganz besonderer sei.

„Ja, ich weiß, der 14. Juli, der französische Nationalfeiertag“, entgegnete sie mit Schalk in den Augen.

Er aber blieb ganz ernst.

„Ann, bitte, willst du misch eiraten?“

Das klang lustig. Aber warum musste sie dann plötzlich weinen?

Wie stellte er sich das vor? Wie sollte sie ihm denn erklären, dass das nicht ging? Sie versuchte es mit ein paar einfachen Fragen.

„Wo sollen wir leben?“

„In Frangraisch!“

„Aber das geht nicht, ich kann hier nicht weg!“

„Warum nischt?“

„Du lebst in einem Land, das ich nicht einmal besuchen darf, geschweige denn dorthin auswandern …“ Ob er ihren Kummer je verstehen würde?

Mit einem Mal war der Rausch verflogen, der Teppich auf dem sie lagen, kam ihr rau und kratzig vor.

Jean erklärte ihr stockend, dass auch er seine Heimat nicht verlassen könne.

Wenn er wollte, dann könnte er schon, dachte sie bitter.

„Ma famille, mes amis …“ stammelte er, als habe er ihre Gedanken lesen können. Einerseits verstand sie ihn, kannte sie doch seine Familie und seine Freunde gewissermaßen auch schon ein wenig. Aus seinen Briefen. Andererseits wollte sie auf gar keinen Fall auf ihn verzichten.

Würde es also für sie beide niemals einen Ausweg geben?

Die letzten Tage wurden immer mehr von diesem Gedanken überschattet.

„Steig ein, ich bringe dich zum Bahnhof“, sagte sie am letzten Tag kühler als beabsichtigt.

„Dans le petit … in dieses kleine Pappschachtel?“

Sein Lächeln misslang.

Er hatte wohl schon vergessen, dass er bei allen ihren Rundreisen genau in „dieses kleine Pappschachtel“ gesessen hatte? Als sie seinem traurigen Blick begegnete, wollte ihr vor Kummer das Herz zerspringen. Von nun an schwiegen sie.

„Fahren wir noch einmal zum Mond?“ fragte er.

Nanu? Ausgerechnet zum Tagebau wollte er noch einmal?

Ein Blick auf die Uhr sagte ihr, dass sie noch Zeit hatten.

Eng umschlungen standen sie am Rand des Tagebaus und schauten auf die riesige Wunde in der Erde. Jean sah traurig und auch ein bisschen wütend aus.

„Wann kommst du wieder?“ fragte sie leise. Sie hatte das Gefühl, gleich in Ohnmacht zu fallen. Ihre Knie zitterten, ihr Herz raste.

„Wenn aus dieser Mondlandschaft ein Meer geworden ist …“ antwortete er mit einer weit ausholenden Armbewegung. Er versuchte zu lächeln, aber es sah nicht echt aus.

Machte er sich über sie lustig? Ein Lied fiel ihr ein – und sie sang es leise vor sich hin „Wenn´s schneiet rote Rosen und regnet kühlen Wein …“

Sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen beim Singen übers Gesicht liefen.

*

Nach seiner Abreise wartete sie auf Post. Vergeblich. Der Briefträger wusste schon bald nicht mehr, wie er sie trösten sollte. Kein Lebenszeichen von Jean? Nein.

Irgendwann hörte sie auf, zu grübeln, wo ihre Briefe geblieben sein könnten.

Ein Jahr nach ihrem ersten Besuch am Senftenberger See, bei dem sie alle Hoffnung auf ein Wiedersehen mit Jean verloren hatte, gab sie dem Werben eines anderen Mannes nach. Er wohnte in der Nachbarschaft und hatte schon mit 25 Jahren seine Frau an den Krebs verloren. Er hieß Hartmut. Sie heirateten und führten eine ruhige Ehe, in der keiner von beiden Wert auf große Leidenschaft legte.

Vor zwei Jahren war Hartmut gestorben.

Auch das Land existierte nicht mehr, das Land, das es ihr nicht erlaubt hätte, nach Frankreich auszureisen.

Ihre Arbeit als Freie Fotografin ließ ihr kaum Zeit, sich nach einem neuen Partner umzuschauen.

Immer, wenn sie in Senftenberg zu tun hatte, musste sie an Jean denken. Nun gab es schon so lange ein „Meer“ hier, aber er war nicht gekommen.

Was erwartete sie denn auch? Nach so vielen Jahren! Männer vergessen mit der Zeit, was ihnen einstmals angeblich so wichtig gewesen war. Nur Männer?

Annes neuer Freund hieß Hans, so nannte sie jedenfalls ihren Computer. Mit ihm sandte sie ihre Fotos an die jeweiligen Redaktionen. Ihr neuer Gefährte machte es auch möglich, abends mit wildfremden Menschen in einem Chat zu plaudern, ohne eifersüchtig zu werden.

Nein, Anne fühlte sich keineswegs einsam. Eines Tages hatte sie im Chat auch einen gewissen „Papillon“ kennengelernt. Sie verstanden einander auf Anhieb, konnten über alles sprechen (beziehungsweise schreiben), hatten die gleichen Interessen, konnten über die dieselben Witze lachen. Nur, wie der oder die andere aussah oder wo sie wohnten, das wussten sie nicht.

Er wartete jeden Abend auf sie. Ein Schmetterling, der es leid war, von Blume zu Blume zu fliegen? Sie fragte ihn.

„Ich habe meine Lieblingsblume bereits gefunden“, tippte er in die Tasten.

Ihr Nickname war „Fleur“. Es war wirklich Sympathie auf den ersten Klick.

Hätte ihr noch vor nicht allzu langer Zeit jemand erzählt, dass er sich in einen völlig unbekannten Menschen in einem Chat verliebt habe, dann hätte ihr Zeigefinger wohl bezeichnend den Weg zur Stirn gefunden.

Aber mit diesem Papillon war alles anders, obwohl keiner von beiden das Wort Liebe jemals erwähnt hat.

Doch eines Tages schrieb er etwas Seltsames.

„Ich glaube, ich wurde nur geboren, um dich zu suchen – und nun habe ich dich endlich gefunden.“

Hatte sie diesen Satz nicht schon einmal irgendwo gelesen? Oder gehört? Vor Jahrzehnten? Sollte dieser „Papillon“ etwa …?

Immerhin, sein Nickname ist französisch … In ihrem Kopf begann es zu rauschen … ihr Herz begann zu rasen.

Nach einer schlaflosen Nacht hielt sie es nicht mehr aus. Sie musste ihn unbedingt fragen, am Abend, im Chat.

Doch dazu sollte es nicht mehr kommen.

Irgendetwas hinderte sie daran, sich am Abend überhaupt im Chat einzufinden.

Mit dem Lesen wollte es auch nicht klappen, also ließ sie heißes Wasser in die Badewanne einlaufen und versuchte ihre Gedanken abzuschalten. Aber weder ihr Lieblingsbadezusatz mit Lavendel noch die leise Musik waren diesmal dazu angetan. Statt die wohlige Wärme, den Duft und die Musik zu genießen, grübelte sie.

Sie ließ die Worte von Papillon aus dem Chat Revue passieren, aber Klarheit brachte ihr die Grübelei auch nicht.

„Komm, lass uns einmal einen ganzen Tag zusammen verbringen … und eine ganze Nacht!“

So etwas hatte er nicht nur einmal verlauten lassen.

Wie oft hatte sie ihm diese Bitte schon abgeschlagen. Warum, das wusste sie selbst nicht. Vielleicht hatte sie einfach Angst, dass alles beim ersten richtigen Treffen vorbei sein könnte? Schließlich wusste ja keiner vom anderen, wie er aussah. Nur, wer es wollte, stellte ein Bild von sich in den Chat. Sie wollten es beide nicht, und dabei war es geblieben.

Als sie sich zu später Stunde doch noch entschloss, den Hans einzuschalten und in den Chat zu gehen, wollte sie ihn ganz unverblümt fragen, ob er womöglich ihr Jugendfreund sei. In den Chats tummelten sich einige Bekannte.

Doch nach Papillon hielt sie vergeblich Ausschau. Er war gar nicht online.

Sie fuhr den Hans (von wegen Hans im Glück!) wieder herunter und legte sich ins Bett, das leichte Gefühl von Enttäuschung mochte sie gar nicht erst zulassen. Sie wollte sich in Gelassenheit üben und schloss die Augen. Schließlich war es schon nach Mitternacht.

Das Klingeln des Telefons ließ sie hochschrecken. Sie kannte die Nummer nicht, was sie zu so später Stunde sonst immer abgehalten hatte, Gespräche anzunehmen.

Ihr Daumen hatte sich anscheinend selbständig gemacht, denn er hatte schon auf das kleine grüne Symbol gedrückt.

Ungehalten meldete sie sich: „Anne Zellner …“

Am anderen Ende der Leitung blieb es zunächst ganz still. Sie wollte schon auflegen, dann aber sagte eine Stimme: „Papillon – aus dem Chat…“

Gleich darauf, diesmal etwas fester, noch einmal: „Papillon!“

Ihr wurde schwindlig, und die Knie wollten ihren Dienst versagen.

Diese Stimme! Nein, das konnte doch nicht sein … Und doch hatte sie ihn sofort wieder erkannt. Sie brauchte ihn nicht mehr zu fragen, wie er denn richtig hieße.

„Jean!“ schrie sie in den Hörer, als sei es möglich, allein mit der Lautstärke drei Jahrzehnte auszulöschen.

„Ann?“ Und nur eine Sekunde später: „Oui, oui, oui, mais naturellement!“

Ja, ja, ja, aber natürlich! Sie konnte hören, wie er sich in Marseille (oder wo auch immer in Frankreich) mit der flachen Hand an die Stirn schlug.

Alles andere war schnell ausgetauscht.

„Wann und wo treffen wir uns?“, fragten sie beide gleichzeitig. Sie konnte ja jetzt ebenso gut zu ihm fahren wie er zu ihr.

„Montag!“, schlug er lachend vor, „am Meer, an deinem, nein, an unserem, Meer!“

Er hatte es also doch auch in Frankreich erfahren? Oder meinte er es ein bisschen spöttisch, weil er glaubte, dass hier noch immer die Kohle aus der Erde gekratzt wurde?

*

Die ersten Sterne zeigten sich am Himmel. Anne erhob sich und nahm noch einen tiefen Atemzug von der Seeluft. Ein Meer ist es nicht, aber ein wunderschöner See anstelle der einstigen Mondlandschaft. Die Wunden der Landschaft waren mit den Jahren immer mehr verheilt. Wie die ihren.

Und morgen? Morgen würde Jean kommen ... Endlich!

Es tat nichts zur Sache, dass Anne inzwischen auf die Fünfzig zusteuerte.

Sie fühlte sich mit einem Mal wieder herrlich jung und lebendig …

Wolke 8 ... oder Plädoyer für die Liebe

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