Читать книгу Sehnsucht nach Timbuktu - Monika Kunze - Страница 3
Sehnsucht nach Timbuktu
ОглавлениеDies ist die Geschichte von Helen, der die Fesseln in der Provinz und in ihrer Familie unerträglich wurden. Deshalb war sie mit dem Erstbesten, nein, mit ihrem ersten und besten, ihrem geliebten Roger, in die Hauptstadt aufgebrochen, um ihr Glück zu suchen. Doch was sie fand, hatte mit Glück auch nicht das Geringste zu tun. Eines Tages steht sie vor dem Trümmerhaufen ihres Lebens …
Die Frau war in einem bedauernswerten Zustand. Abgemagert. Die Haut fahl. Die Haare ohne jeglichen Glanz. Sobald sie versuchte, die Arme anzuheben und die Hände still zu halten, ging das daneben. Sie schaute auf ihre zitternden Gliedmaßen, ekelte sich vor sich selbst und war erleichtert, als ihr bewusst wurde, dass niemand sie so sehen konnte. Wenn jetzt wirklich jemand aus ihrem Heimatort sie besuchen käme, dann wäre er wohl bei ihrem Anblick zurückgewichen. Niemand würde sie mehr erkennen. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass überhaupt jemand käme, ging gegen Null.
Dabei hätte Helens Leben eigentlich gar nicht besser beginnen können: Sie fühlte sich von klein auf behütet und umsorgt von ihren Eltern. Fragte man die Leute nach Helen, dann bekamen die meisten ihr Ehrfurchtsgesicht. Selbst die Stimmen klangen ehrfürchtig, wenn sie über Helen sprachen. Das Mädchen sei eine Tochter aus gutem Hause, ihre Eltern hätten es schließlich zu etwas gebracht. Außerdem wäre sie doch wirklich ganz reizend und sehr hübsch anzuschauen mit ihren honigfarbenen Locken.
Niemals war Helen irgendwo unangenehm aufgefallen, nicht, als sie noch an der Hand der Mutter im Park oder zum Einkaufen im Supermarkt unterwegs war und auch nicht später, in der Schule oder beim Religionsunterricht.
Ein sanftes Mädchen also, mit Wimpern, so lang, dass sie, bei richtigem Licht, geheimnisvolle Schatten auf die Wangen malten. Kurz: Ein Mädchen, das jedermann mochte, am allermeisten wohl ihr Vater.
Bescheiden, sittsam und rein – eine längst pensionierte Lehrerin aus der Nachbarschaft hatte ihr diese altmodischen Adjektive ans Herz gelegt, will heißen: ins Poesiealbum geschrieben. Solche Alben sind wohl nirgends und bei niemandem so ganz aus der Mode gekommen. Sei wie das Veilchen im Moose ... Brrrr, fast hätte sie wieder gelacht, als sie daran dachte. Dann hatte sie Timo das Album gegeben. Er sah sie mit einem seltsamen Blick an und stopfte das Buch achtlos in seine Rucksack. Nach vierzehn Tagen bekam sie es zurück - ohne Eintrag. Alles in ihm hätte sich gesträubt, nach dem vorsintflutlichen Lehrergeschreibe auch nur ein Wort hinzuzufügen. Dann machte er noch so ein ekliges Geräusch, als müsse er sich gleich übergeben..
Wütend und beleidigt riss sie ihm das Album aus der Hand, drehte sich auf dem Absatz um und ließ ihn einfach stehen.
Vielleicht ein halbes Jahr später sahen die Dinge schon wieder ganz anders aus. Er wich nicht von ihrer Seite, lud sie ins Kino ein, reparierte ihr Fahrrad, spendierte ihr Eis und steckte ihr kleine Zettel mit Botschaften zu, die sie amüsierten.
Auf einem solcher Zettel stand einmal: „Mit dir würde ich bis nach Timbuktu gehen!“
Zunächst ging sie ab und zu mit ihm ins Kino. Letzte Reihe, versteht sich. Als sich rein zufällig ihre Hand auf seinen Schenkel verirrte, flüsterte er ihr dieselben Worte ins Ohr.
Oh doch, dieser Timo war schon irgendwie rührend gewesen. Und sie? Sie hatte nur übermütig den Kopf zurückgeworfen und ihr helles, flüchtiges Lachen ausgestoßen, was da schon längst zu ihrem ganz persönlichen Erkennungszeichen geworden war und auch noch einige Zeit bleiben sollte.
Es gab wohl kaum jemanden, der in dieses Lachen nicht vernarrt gewesen wäre und ihr, sobald es erklang, jeden Wunsch erfüllt hätte.
Auch jetzt, da sie an jene lange zurückliegenden Kinderjahre zurückdachte, wollte plötzlich jenes Lachen in ihrem geschundenen Körper wieder hoch kollern, hell und fröhlich wie damals. Gerade noch rechtzeitig, buchstäblich in letzter Sekunde, konnte sie verhindern, dass es sich durch den Raum schwang. Schließlich wusste sie doch ganz genau, dass ihrer Kehle etwas Derartiges nie wieder entweichen durfte! Auf keinen Fall! Warum? Nun, sie passten einfach nicht mehr zusammen, sie, die zu einem Wrack mutierte Helen, und dieses unbeschwerte, fast kindliche Lachen.
Früher, ja, da war das anders gewesen. Gerade dieses Lachen war dazu angetan, allen zu zeigen, wie wohl sie sich fühlte, wie aufgehoben und geborgen in der Familie. So jedenfalls hatte es ihr der Vater erklärt. Die Mutter hatte bei seinen Worten den Kopf gesenkt und war aus dem Zimmer gegangen.
In der winzigen Stadt, in der sich alle zu kennen schienen, mochte fast jeder das kleine Mädchen mit den Honiglocken. Von Mutters Sorge ahnte niemand etwas.
Schon im Kindergarten und in der Schule gefiel es Helen, wenn alle sie als süß, niedlich und hübsch bezeichneten. Später, in den oberen Klassen, gesellte sich auch das Adjektiv schön noch hinzu.
Wen sollte es da noch wundern, dass sie so oft und gern lachte.
Aber ebenso gern lernte sie auch. Zu ihrer eigenen und zur Freude ihrer Eltern legte sie ihnen nur allerbeste Noten zur Unterschrift vor. Nur jene absonderlichen Belohnungen, mit denen ihr Vater sie dafür überraschte, gefielen ihr keineswegs. Doch da alles immer so schnell vorbei ging, schwieg sie und verbarg ihr Geheimnis im dunkelsten Winkel ihres Inneren. Niemals würde sie einem Menschen davon erzählen. Nicht einmal ihrer Mutter, die sie manchmal so durchdringend anschaute, als wollte sie auf den Grund der Tochterseele blicken. Helen jedoch hatte es längst gelernt, niemandem ihr Innerstes zu zeigen.
Die Mutter gab sich zufrieden, ging sogar herum und erzählte überall, wenn auch mit vornehmer Zurückhaltung, von ihrer wohlgeratenen Tochter, der das Lernen einfach in den Schoß zu fallen schien.
"Auch noch klug", wisperten die Leute, zogen die Augenbrauen hoch und sahen sich vielsagend an.
Nicht nur einmal waren beim Bäcker oder beim Fleischer solche Sätze zu hören gewesen, wie: "Diese Helen, die wird es noch sehr weit bringen …" Aber war solchem Lob nicht auch schon das Schwanken anzumerken gewesen? Zwischen Anerkennung und Neid?
Kamen der Mutter derartige Prophezeiungen zu Ohren, umspielte meist ein triumphierendes Lächeln ihren Mund. Oh ja, man würde sich noch umgucken! Noch staunen über ihre Tochter! So etwas durfte man natürlich in so einem kleinen Ort nicht zu laut aussprechen. Was hätte denn das für einen Eindruck gemacht?
Die Mutter schlug also meistens die Augen nieder und wiegelte betont bescheiden ab: "Na, so schlimm wird es wohl nicht werden …"
Doch das triumphierende Lächeln war geblieben. Es gab aber kaum einmal jemanden in Mutters Nähe, der es zu deuten gewusst hätte, dieses seltsame Lächeln.
Wenn Helen jedoch daran dachte, richteten sich jedes Mal ihre Härchen an den Unterarmen auf, und ein unangenehmer Schauer huschte über ihren Rücken. Ob das wohl damit zusammenhing, dass zu jener Zeit ihr Vater schon verschwunden gewesen war? Und zwar spurlos. Vielleicht. Vielleicht auch nicht.
Die Tochter hatte nach dem Verschwinden des Vaters das Gesicht ihrer Mutter immer wieder forschend aus den Augenwinkeln beobachtet, aber sie konnte darin keine Regung erkennen. Es fehlte jede Spur von Traurigkeit, von Schmerz oder gar Vorwurf gegen sie, die Tochter.
Nur manchmal, da flackerte anscheinend so etwas wie Zorn auf, und es kam Bewegung in ihre Miene. In solchen Momenten konnte es durchaus vorkommen, dass sie ihre Contenance vergaß und schrie: „Von mir aus soll er doch in Timbuktu sein und bleiben!“
Für Helen wurde dann eines sofort klar: Die Mutter hatte keineswegs vor, dem Vater dorthin zu folgen. Nach Timbuktu. Dem jungen Mädchen waren immer mehr Zweifel gekommen an der Liebe ihrer Eltern, sowohl zueinander als auch zu ihr.
Timo, ja, der wäre Helen sonst wohin gefolgt. Dass er in Helen verknallt war, pfiffen ja die Spatzen jahrelang von den Kleinstadtdächern. Aber sie? War sie auch verknallt und wäre ihm überall hin gefolgt?
Helen und Timo? Eine groteske Vorstellung! Niemals wäre sie mit dem Pickelheini gegangen. Nirgendwo hin!
Dann kam Roger und mit ihm der Wendpunkt in Helens Leben.
Wie aus dem Nichts war er eines Tages aufgetaucht. Urlaub mit Freunden am See wollte er machen. Das hatte sie bald erfahren, nachdem im Supermarkt zunächst ihre Einkaufswagen, dann ihre Köpfe zusammengeprallt waren. Alles purzelte wild durcheinander: ihre Tomaten, seine Bratwürste und vieles, was man so glaubt zu brauchen. Beim Aufheben und Sortieren kamen sie sich ganz nahe.
"Na, da hat aber jemand großen Appetit", sagte Helen und lachte ihre Erkennungsmelodie.
"Wir wollen heute noch grillen!" entgegnete der Fremde - und, nachdem Helens Lachen verklungen war, fragte er auch gleich, ob sie nicht auch Zeit und Lust hätte, hinunter an den See zu kommen. Er hieße übrigens Roger.
Helen streckte ihm die Hand hin.
"Helen. Ich bin Helen." Sie fühlte, wie ihr Gesicht Farbe bekam.
Spätestens, als er ihre Hand ergriff und sie leicht drückte, fühlte es sich an, als sei sie von einem elektrischen Schlag getroffen worden. Von Stund an vergaß Helen alles, was bisher ihr Leben ausgemacht hatte. Von einem Moment zum anderen war außer diesem Mann nichts mehr wichtig für sie, nicht einmal die Mutter (an den Vater wollte und konnte sie sich sowieso kaum noch erinnern). Freunde und Heimatort waren ebenso vergessen wie Zeit und Raum. Das alles spielte keine Rolle mehr für sie. Zu mächtig war sie von einem Gefühl überrollt worden, das sie bisher überhaupt nicht gekannt hatte. Sie glaubte, dass sie vor dem Erscheinen dieses Mannes überhaupt nicht richtig lebendig gewesen war. Und sie hielt dieses überwältigende Gefühl für Liebe.
Ach, Roger …
Natürlich war sie an jenem Abend pünktlich am See, beim Grillplatz gewesen. Nach dem stimmungsvollen Abend mit seinen Freunden war es für sie ganz selbstverständlich, dass sie miteinander schliefen. Aber das allein war es nicht, was ihm so große Macht über sie verlieh.
Allein schon seine Stimme zog sie unweigerlich in seinen Bann. Es störte sie auch nicht, wenn die bisher von anderen gewohnten Wörter bei ihm nicht vorkamen. Schön? Klug? Nein, solche Schmeicheleien hatten in seinem Vokabular nichts zu suchen. Für ihn war sie sexy und clever. Lief das nicht sowieso irgendwie auf dasselbe hinaus? Aber wie er ihren Namen aussprach, das war einfach unglaublich! Zwei Silben, Helen. Wie konnte sie so etwas nur so aus der Bahn werfen? Dieser Roger war ihr Schicksal. Glaubte sie.
Helen. Dieser Name war übrigens auch so ein Spleen ihrer Mutter gewesen. In der Schule hatten sie fast alle nur fromme Helene genannt.
Roger rief sie niemals so, weil er sie besser kannte und wusste, dass es sich mit ihr ganz anders verhielt. Fromm? Von wegen! Und sie wusste, dass er es wusste. Vielleicht war das auch der Grund, warum sie ihm bedingungslos bis nach Timbuktu gefolgt wäre? Er hatte sie mit der Zeit immer fester im Griff.
Bei dem Gedanken an die fromme Helene verzog sie den Mund. Tatsächlich? So hatten die Mitschüler sie genannt? Mein Gott, wann war denn das?
Jene Zeit lag für Helen irgendwo im Nirgendwo, in fernem Nebel jedenfalls.
Die junge Frau versuchte jetzt ihre Glieder zu recken. Schon bei der geringsten Bewegung tat ihr alles weh.
Ganz unbeabsichtigt fiel ihr Blick durch die schmutzigen Scheiben, wanderte über die Dächer. Wie oft hatte sie sich zurückhalten müssen, um nicht einfach los zu wandern, mal an dieses oder jenes Fenster zu klopfen, um nur mal eben „Hallo!“ zu sagen.
Aber so etwas tut man nicht in einer Großstadt. Hier kümmerte man sich nicht um die Angelegenheiten der Nachbarn. So ein sentimentales Getue passe nicht hierher, hatte Roger gesagt. Und der musste es wissen.
Der Schrank mit der Klappe fiel ihr wieder ein, der passte auch nicht hierher. Er stammte aus ihrem einstigen Kinderzimmer, aus der elterlichen Wohnung, in der Provinz! Daran konnte sie sich jetzt doch wieder dunkel erinnern. Manche nannten den einfachen Klappschrank auch hochtrabend Sekretär. Zugegeben, es gab darin so manches Fach, in dem ihre kindlichen Geheimnisse versteckt lagen. Meist abgerissene Zettel von Jungs mit so komischen Botschaften, wie: Komm doch heute Abend hinter das Feuerwehrhaus.
Später, als sie schon in Berlin lebte, beherbergte der Schrank ihre Flaschen. Der Sekretär war aufgestiegen zur Hausbar. Oder vielleicht doch eher abgestiegen? Wie sie?
Jetzt allerdings waren die Flaschen längst leer. Wie sie!
Oder befand sich doch noch etwas darin? In den Flaschen? Oder in ihr selbst? Vielleicht war ja irgendwo noch etwas zusammengeflossen? Das viel zu hastige Öffnen der Klappe und das Fehlen von Öl, ein einziger Tropfen hätte ja schon genügt, um es verstummen zu lassen, ließen die Scharniere durchdringend quietschen. Und auf dem Boden der einzigen Flasche, die im Fach noch ihr Dasein fristete, war kein einziger Tropfen mehr zu entdecken. Oder doch?
Beim Herumdrehen fiel die Flasche zu Boden. Helen gab ihr einen Fußtritt.
„Wir passen zusammen“, sagte sie sarkastisch.
Nun würgte sich doch so eine Art Lachen aus ihrer Kehle. Sie hatte es nicht rechtzeitig verhindern können.
Rücklings ließ sie sich aufs Bett fallen und starrte an die Decke. Es war ein Rundbett aus besseren (?) Zeiten und stand mitten im Raum.
Roger hatte das so gewollt. Und sie hatten sich oft sinken lassen, von allen Seiten … Sie hatte überhaupt immer alles getan, um Roger bei Laune zu halten. Nicht wie ihre Mutter, die sich irgendwann eine eigene Meinung geleistet und damit (?) den Vater vertrieben hatte.
Helen lächelte böse in sich hinein.
Und nun war also auch Roger verschwunden. Das soll vorkommen. Dass Menschen einfach verschwinden.
Mühsam rappelte sie sich hoch, stolperte mehr als dass sie ging, wieder zum Fenster. Die Dächer der Großstadt verschwammen hinter den dreckigen Scheiben.
Wieso putzte sie die nicht? fuhr es ihr schmerzhaft durch den Kopf. Roger hätte getobt! Aber davor brauchte sie sich ja nun nicht mehr zu fürchten. Davor nicht.
„Die Kunden merken, ob eine sauber ist oder nicht!“, hätte er sie angebrüllt. Aber nun war er ja weg. Verschollen. Seit wann? Das Datum war ihr mittlerweile auch entfallen.
Auf dem Revier hatten die Männer zuerst nur gegrinst, als sie eine Vermisstenanzeige aufgeben wollte.
„Der kommt schon wieder!“
Anscheinend verschwinden dauernd Leute. Das wundert offenbar niemanden mehr.
War sie selbst nicht auch seit langem verschwunden? Jedenfalls für ihre Familie, wobei sie, wie selbstverständlich , wieder nur an ihre Mutter dachte. Roger sei nicht gut für sie, hatte diese zu warnen versucht. Er würde sie nur benutzen, ausnutzen, wenn nicht gar noch Schlimmeres mit ihr anstellen.
Ach Mutter, wenn du wüsstest! dachte sie mit einem leisen Anflug von Wehmut. "Würdest du denn jemals verstehen, wie ergeben, ja hörig, ich diesem Mann war?" Sie hatte wieder einmal laut gedacht, mit kläglich verzogenem Mund, in dem sich die Zunge pelzig wölbte. Sie wäre doch mit ihm bis nach Timbuktu gegangen, jawohl, das hatte sie ihm oft genug ins Ohr geflüstert.
„Du weißt ja nicht einmal, wo dieses verdammte Timbuktu liegt!“
Sein Lachen war nicht hell und flüchtig wie das ihre, sondern dunkel, fast drohend. Natürlich hatte Helen nachgeschaut: Timbuktu - eine kleine Oasenstadt in der heutigen Republik Mali. Grün und freundlich stellte sie sich dieses Städtchen vor, von geheimnisvollen Düften und Klängen erfüllt. So war sie in Gedanken immer öfter in Timbuktu spazieren gegangen, umgeben von Wärme und Licht, erfüllt von fremdartiger Musik. Mit der Zeit war diese Stadt zu ihrem Traum vom Paradies herangewachsen. Dabei war ihr niemals so richtig klar geworden, dass er im Grunde schon lange aus war, dieser schillernde Traum. Ihr Traum.
So nach und nach war sie dann wohl für den Rest der Welt immer mehr in Vergessenheit geraten. Verschollen.
Sie sei ausgewandert, nach Amerika, hatte sie irgendwann auf eine Karte geschrieben und einem Unbekannten gegeben mit der Bitte, sie mitzunehmen nach New York, sie dort zu frankieren und in den nächsten Briefkasten zu werfen. Ob er das auch getan hatte? Das würde sie wohl niemals erfahren.
Als ihr Blick auf den Bretterzaun an einem Grundstück gegenüber fiel, las sie auf einem großen Plakat wieder, wie in den zurückliegenden Wochen schon so oft, diese Nummer: 0800 – 111 0 111. Darunter den Schriftzug: „Wenn Sie sich etwas von der Seele reden wollen...“
Eigentlich ganz einfach. Sie würde sich entscheiden müssen: Entweder die Telefonseelsorge anrufen - oder springen …
Langsam drehte sie sich wieder um, sah an den Wänden die Scheinwerfer der Autos entlang kriechen. Von unten drangen die Geräusche der Großstadt zu ihr hinauf. Bremsen quietschten, die Straßenbahn schepperte um die Ecke, in der Wohnung unter ihr schrie ein Kind. Was machte das schon?
Auch an das Getöse der Düsentriebwerke der unzähligen Flugzeuge, die nur ein paar Meter über ihrem Kopf zu starten und zu landen schienen, hatte sie sich irgendwann gewöhnt.
Mittlerweile war es Abend geworden. Es war Zeit. Endlich.
Seit Wochen ging das nun schon so. Jeden Abend nahm sie sich vor, der inneren nun endlich auch die äußere Verschollenheit folgen zu lassen. Aber ihr Körper streikte jedes Mal, wenn sie auf die Brüstung klettern wollte. War das überhaupt noch ihr Körper? Wie ein Schwamm kam er ihr vor, einer, der alles Ungute dieser Welt begierig aufzusaugen schien. Aber jetzt war er voll.
„Quatsch!“ hätte die Mutter zu Helens Schwamm-These gesagt und ihre Tochter aufgefordert, sich doch lieber an den schönen Dingen des Lebens zu erfreuen.
Ach ja? Vielleicht am Krieg, der täglich aus aller Welt grauenhafte Bilder ins Wohnzimmer spuckte? Oder die Bilder von den Kindern, die vor Hunger aufgeblähte Bäuche bekamen? Ganz zu schweigen von der Not, die Eltern manchmal zwang, ihre eigenen Nachkommen zu verkaufen?
Helen las schon lange keine Zeitungen mehr, den Stecker des Fernsehers hatte sie vorsorglich herausgezogen. Sie konnte die hereinströmende Flut von Katastrophen nicht mehr ertragen.
Plötzlich kam ihr Roger wieder in den Sinn.
Eines Tages hatte er, wie selbstverständlich, ein paar Männer mitgebracht. Kumpels hatte er gesagt – und sie solle sich, verdammt noch mal, nicht so haben. Sie hatte ihn nur wie ein verwundetes Reh angeschaut – und sich verweigert.
Ganz unverhofft hatte er sie gepackt – und ihr die erste Spritze in den Arm gejagt.
Später wurden es mehr und mehr. Männer und Spritzen, und Helen merkte kaum noch, wie sich alles aufzulösen begann. Um sie herum und in ihr drin.
Nur manchmal spürte sie die Nähe des Abgrunds, doch das anfängliche Schaudern spürte sie schon längst nicht mehr.
Sie hatte immer alles getan, was Roger von ihr verlangte, hatte ihm immer getreulich alles Geld abgeliefert ... bis zu jenem Spaziergang in den Bergen. Dort hatte sie sich zum ersten Mal gewehrt gegen seine Angriffe. Ein Wort hatte das andere ergeben.
„Du siehst richtig fertig aus, die Kunden werden wegbleiben! Du Landpomeranze bist wohl dem Großstadtleben doch nicht gewachsen ...“ Dann hatte er wieder sein Lachen angestimmt, das ihr schon seit einiger Zeit Angst einjagte. Trotzdem nahm sie allen Mut zusammen und sagte: „Ich will das alles nicht …habe es nie gewollt!“
Helen wird jenes schaurige Lachen, mit dem er sie danach an den steilen Abgrund gezerrt und gedroht hatte, sie hinabzustoßen, wenn sie sich nicht ein bisschen mehr zusammennähme, nie vergessen können. Denn das war genau der Moment, in dem die Angst aus ihr entwich und einer nie gekannten Wut Platz machte.
Wieder zurück in der großen Stadt, war sie nach ein paar Tagen zur Polizei gegangen. Vermisstenanzeige? Fehlanzeige – doch nicht nach so kurzer Zeit!
0800-111-0111! Die Nummer der Telefonseelsorge, verbunden mit den Worten: „Wenn Sie sich etwas von der Seele reden wollen...“
Von welcher Seele, bitte schön? dachte sie, aber sie brachte es wieder nicht fertig zu springen.
War es Feigheit? Oder gar Hoffnung?
Vielleicht würde sie ja dieses verdammte Timbuktu doch eines Tages finden?
Später - jetzt würde sie wohl doch erst einmal telefonieren … und dann zur Polizei gehen, um sich zu stellen.