Читать книгу Ich wollt, ich wär ein Schmetterling ... - Monika Starzengruber - Страница 3
ОглавлениеKapitel 1
Lea heulte. Schlüssel ins Schloss, Tür auf – BAMM. Tür zu.
„Lea, bist du das?“
Trotziges Schweigen. Schnurstracks eilte sie ins eigene Zimmer, wo Schulbeutel samt Jeansjacke in eine Ecke knallten. Die aufgestaute Wut brauchte Raum, sonst platzte sie! Aufs Bett gehechtet, das Gesicht ins Kissen gedrückt, gab sie dem bohrenden Innenleben nach und schrie: „Scheiß Mathe! Scheiß Mathe! SCHEISS MATHE!“
Wieder ´ne fünf auf die Schularbeit, obwohl gelernt, wie nie zuvor. Diese verdammten Formeln, warum blieben sie nicht drin, in diesem Hirn? Sie dem richtigen Rechenvorgang zuzuordnen war kinderleicht gewesen – zu Hause; doch in der Schule, während der Schularbeit, verwandelten sie sich plötzlich in unleserliche Hieroglyphen, mit denen sie nichts mehr anzufangen wusste. Shit … dabei war sie sich der Sache diesmal so sicher gewesen. Sogar auf den Schummelzettel hatte sie verzichtet. Wieso musste immer alles so kommen, wie sie es nicht wollte? Schon auf den alles sagenden Blick der Mathe-Lehrerin, als sie ihr das Heft mit der korrigierten Arbeit zurückgab, hätte sie am liebsten losgeheult, vor Enttäuschung. Nur ihre saumäßig gute Beherrschung und brillantes Talent zu schauspielern ersparte ihr diese zusätzliche Blamage.
„Dann eben wieder ´ne fünf. Ist mir doch egal!“
Besser sie vergaß die Schule. Besser sie dachte an Emi, mit der sie sich abends verabredet hatte. Der Wecker daneben auf dem Tischchen zeigte: viel zu früh dafür. Eigentlich verspürte sie nicht wirklich Lust, nach dieser Schularbeitspleite mit Emi oder irgendwem aus der Clique blöd rumzualbern.
„Lea“, rief es aus der Küche, „Lea, bist du da?“
Lea ignorierte die Stimme der Mutter. Hastig wischte sie sich ihr verweintes Gesicht mit dem Handrücken ab, schniefte und erhob sich.
… die Mathe kann mich mal. Und die Noten erst recht. Wer braucht schon gute Noten, wenn er noch ein Jahr Schule vor sich hat? Warum eigentlich nicht mit Emi oder sonst wem aus der Clique blöd herumalbern? Ich und aufgeben? Das könnte allen so passen! Jetzt erst recht!
Schwungvoll strich sie sich ihr braunes, glattes Haar zurück, das ihr die Sicht verdeckte, sobald sie den Kopf nach vorne neigte. Ihre einen Meter und zweiundsechzig große, zierliche Gestalt verschwand fast unter ihrer glatten, bis an die Hüften reichenden Mähne. Sie benutzte nur selten Spangen, noch seltener band sie ihr Haar zusammen, sie fand es cooler so. Lea war hübsch und sie wusste das. Doch im Moment fühlte sie sich wie das hässliche Entlein persönlich, verfolgt vom Pech auf der ganzen Linie. Was zählte es da, dass sie erst fünfzehn war und das Leben noch vor sich hatte, wie die Erwachsenen ihr oft klug predigten? Die Gegenwart zählte schließlich im Leben, und im Moment kam sie mit dieser Gegenwart überhaupt nicht zurecht. Hätte sie bloß die Schule schon hinter sich – leider war sie erst in der achten Klasse … und dann Fabio – ach, lieber nicht daran denken.
Sie beugte sich vor und drückte auf die Play-Taste ihrer heiß geliebten Stereoanlage, worauf Eloy de Jongs Stimme aus den Boxen ertönte. Sie warf sich rücklings aufs Bett, schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Musik. Es dauerte, bis ihre angespannten Nerven sich ihrem Willen beugten und sich entspannten. Doch bald nahm sie nur mehr die Stimme von Eloy, den Takt des Schlagzeuges und das Dröhnen des Basses war. Getragen vom poppigen Notenwirrwarr hob sie in eine Welt ab, in die sie sich stets träumte, wenn sie uneins mit sich war. Eingehüllt in ihrer Fantasie entwickelten die Dinge im Zimmer plötzlich ein Eigenleben. Der Kleiderschrank verwandelte sich in eine Gruppe Fans, die fasziniert beobachteten, wie sie gemeinsam mit Bon auf der Bühne stimmgewaltig den verkaufsstarken Popsong trällerte. Aus dem Wandregal, auf dem ein bisschen Lesestoff aus früheren Zeiten und abgegriffene Stofftiere unbeachtet vor sich hin moderten, wurde ein Scheinwerfer. Er tauchte die rockige Präsentation in das benötigte Rampenlicht. Auf der zerkratzten Kommode, unter dem Fenster, stand die über alles geliebte Stereoanlage. Sie war Leas vollständiger Reichtum und ihr ganzer Stolz. Sie verwandelte sich zum Tonmischpult, das sämtliche Töne in einem Sound erklingen ließ, der die Zuhörer mitriss. Ein wackeliger Tisch mit betagtem Stuhl neben dem Bett, auf dem sie sonst immer ihre Hausaufgaben erledigte, mutierte zu Klavier und dem dazugehörigen Spieler. Und die mit Tixo aufgeklebten, weiß-schwarzen Poster mit ihren Lieblingsstars an den Wänden, standen für Zuseher in den oberen Rängen der Galerie.
Lea trug Jeans. Genau das Richtige für eine Darbietung auf der Bühne. Vor Kleidern mit Rüschen und Schleifen graute ihr, ebenso vor Schnulzensängern und Lovestories. Ihrer Meinung nach passten derartige Weltenbeschöniger nicht in ein Dasein, wo man sich mit Ellbogen zu behaupten hatte und verbale Gefühlsduschen an der Norm lagen. In so einem Umfeld war es nur auszuhalten, wenn man regelmäßig in seine selbst zurechtgezimmerte Traumwelt eintauchte; für sie jedenfalls. Wenn auch mit Hilfe des Schlagzeuges, des Basses und der dazugehörigen Musikstars.
Lea wälzte sich auf die Seite, streckte den Arm nach der Stereoanlage aus und drehte die Lautstärke höher. Worauf das Schlagen des Schlagzeuginstrumentes neben dem Bass durch die Luft dröhnte, dass selbst die Wände im Takt des rockigen Soundsystems vibrierten. Dabei verschwendete sie nicht einen Gedanken an die Nachbarn, die im gleichen Gemeindebau wohnten und nicht mit ihr auf derselben Musikwelle dahinritten, sie vielleicht als störenden Lärm empfanden.
Auf Lea wirkten die Klänge in diesen Dezibel, als fiele ihr eine Zentner schwere Last von den Schultern – echt geil. Sie wippte mit den Füßen zum Takt des Refrains, den Eloy und sie lautstark, auf Wolke sieben angekommen, loslegten.
Der Frust über die verpatzte Schularbeit wich endgültig. Im Fantasyland der Perfektion gleichmäßig dahinsegelnd merkte sie nicht, wie die Tür aufgerissen wurde.
„Die Musik ist zu laut!“, plärrte die Stimme von Frau Wagner neben der von Eloy und Lea: „... egal was andre sagen …“
„Der Vater schläft noch!“
Lea reagierte nicht. Zu intensiv war sie in der Popwelt vertieft. Kurz entschlossen bewegte sich Frau Wagner auf die Wand zu, ergriff das Kabel und zog den Netzstecker aus der Dose, wodurch Eloys Stimme dumpf abwürgte. Verwirrt öffnete Lea die Augen und schnellte aus ihrer liegenden Stellung unmutig seufzend hoch. Im Begriff zur Stereoanlage zu eilen, um diese unwillige Störung zu beseitigen, erblickte sie die Mutter.
„Du?“, entfuhr es ihr. Grober, als sie wollte. In letzter Zeit passierte ihr das öfter. Hinterher bereute sie es meistens, aber – warum musste die Mutter sie auch immer provozieren!
Frau Wagner, erbost über das unwillige „Du“, stemmte beide Hände in die Hüften und ereiferte sich: „Ja, ich. Wenigstens ‚hallo’ hättest du sagen können, damit ich weiß, dass du da bist.“
Auf diese fast tägliche Leier, drehte Lea genervt die Augen zur Decke. Ihr war im Moment weiß Gott nicht zumute, sich vor der Mutter zu rechtfertigen. Noch weniger, sich mit ihr zu streiten. Denn erfahrungsgemäß brachte es nichts ein, außer verpuffte Luft. Die Mutter gab nur selten nach. Und bevor sie die fünf in Mathe gebeichtet hatte, hütete sie sich lieber, sie durch einen Streit zu verstimmen. Obwohl – unauffällig inspizierte sie sie – beschissene Laune hatte sie scheinbar schon.
Früher war alles anders. Schöner. Das Familienleben lief wie geschmiert und harmonischer ab. Die Eltern, Bruder Bernd und sie selbst bildeten eine Einheit, die sich glückliche Bilderbuchfamilie nannte. In dieser Zeit liebte Lea ihren Vater sehr, viel mehr als die Mutter. Aber früher kam er auch nie betrunken nach Hause, trieb mit ihr Späße und strich ihr oft zärtlich über das Haar.
Als sich vor Jahren das Familienleben auf den Kopf stellte, merkte man das an der Mutter am meisten. Nicht äußerlich, sie föhnte ihr kurz geschnittenes Haar korrekt wie immer, auch ihre Kleidung ließ nichts zu wünschen übrig. Sie sah lange nicht wie eine Frau von fünfundvierzig Jahren aus. Die Mutter veränderte sich innerlich, was sich an Härte und Misstrauen offenbarte. Aber nicht nur sie, die ganze Familie veränderte sich mental anhand der damaligen Geschehnisse.
„Wartest auf ´ne extra Einladung? Das Essen steht in der Küche“, gab Frau Wagner strenger von sich, als Lea es im Moment ertrug.
„Ich hab keinen Hunger“, erwiderte sie lahm. Zuvor die Mathematikschularbeit mithilfe des CD-Players und Eloy de Jong vergessen, lag ihr die Erinnerung nun wie ein Bleiklumpen im Magen. Über kurz oder lang musste sie herausrücken mit der Sprache. Aber wie es anstellen, wenn sie vor Bammel kein Wort hervorbrachte und wünschte, es wäre nie passiert? Warum wurde sie immer mit Ereignissen konfrontiert, mit denen sie nicht zurechtkam? Klar. Als Stiefkind des Lebens war es ihr bestimmt, vom Pech verfolgt zu sein. Verstand sich von selbst. Sie lugte wieder auf die Mutter, deren hartherzige Gesichtszüge sich inzwischen gelockert hatten. Vielleicht war es besser, den Scheiß sofort hinter sich zu bringen? Sie stand auf. Unter den schonungslosen Blicken der Mutter gab sie ihrem inneren Bammel einen Ruck und fischte den Schulbeutel aus jener Ecke, in die sie ihn vorhin geknallt hatte. Darin kramte sie dann länger nach dem Heft, als nötig gewesen wäre. Zwischendurch wagte sie, einen flüchtigen Blick auf die Mutter zu werfen. Deren Falten auf der Stirn vertieften sich und vermittelten, dass sie das Heft schleunigst zu finden habe. Okay. Sie zog es hervor und hielt es ihr mutig vor die Nase.
„Du musst unterschreiben.“
„Was ist das?“
„Die Mathe-Schularbeit.“
„Und?“
Lea zuckte die Schultern, was hieß: wie immer halt. Frau Wagner erahnte nach dem Gesichtsausdruck ihrer Tochter nichts Gutes. Eisernen Blickes nahm sie das Heft entgegen, schlug es auf und überblickte mit undurchdringlicher Miene die beschriebenen Seiten. Der rotfarbige Korrekturstift des Lehrers ließ kaum etwas übrig von den Zahlen, die Lea in gutem Glauben zu Papier gebracht hatte. Unleidlich seufzend den Kopf schüttelnd, mit vorwurfsvollem Blick auf Lea, tippte die Mutter auf das Heft. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das unterschreibe!“
Ein Trotziges: „Doch“ war alles, was aus deren Mund kam.
Energisch winkte die Mutter ab. „Damit gehst du zu deinem Vater. Er kümmert sich ja sonst nicht um deine Erziehung. Soll er gefälligst sehen, wie er damit klar kommt.“
Nochmals sah Frau Wagner in das Heft. Die Beurteilungsnote „Fünf“, die der Lehrer unter die Arbeit hingekritzelt hatte, war nicht verschwunden.
„Du hast wieder nicht gelernt!“
Ich habe gelernt, schrie Lea innerlich, äußerlich bemüht locker zu bleiben. Nur das Kauen an ihren Lippen verriet ihre Erregtheit auf den ungerechtfertigten Verdacht der Mutter hin. Nicht ein Wort verlor sie auf ihre Rüge, weil keine noch so ehrliche Rechtfertigung ihr Misstrauen hätte abschwächen können, obwohl sie sie noch nie belog. Früher war die Mutter gleichermaßen streng, ja, aber wenigstens nicht misstrauisch – zumindest nicht so krass.
Mit einem Gesicht, das widerspiegelte, was sie dachte, nämlich, dass Leas Faulheit zum Himmel stank, was lernen anbelangte, gab ihr die Mutter das Heft zurück. „Sobald der Vater ausgeschlafen hat, zeigst du ihm das.“ Damit war für sie die Sache erledigt. „Komm jetzt essen.“
Achtlos warf Lea das Heft auf das Bett. „Mir ist der Appetit vergangen.“
Sie angelte sich ihre Jeansjacke vom Boden aus der Ecke und begann sie überzuziehen. Die Jacke halb angezogen, huschte sie an der Mutter vorbei und murmelte: „Ich geh raus.“
Mahnend rief Frau Wagner ihr hinterher: „Denk daran, was wir besprochen haben ...!“
Darauf fiel die Wohnungstür so hart ins Schloss, dass das „Wumm“ durchs Treppenhaus hallend, in den Ohren schmerzte. Lea hatte sie absichtlich zu fest zugezogen. Sie hörte die Mutter durch die Tür: „... vergiss nicht – spätestens acht Uhr bist du zu Hause! Und halt dich von den Burschen fern!“
„Acht Uhr bist du zu Hause“, äffte sie höhnisch nach. Trotzdem sie vom fünften Stockwerk die Treppe höchst aggressiv hinunter hüpfte, ließ sich ihr Ärger nicht abschütteln.
Die Mutter verhielt sich, als würde ein Mädchen schon schwanger werden, wenn es einen Jungen bloß ansähe und als ob die Gefahr nach acht Uhr abends dafür am größten wär.
Leider blieb die Stimme der Mutter geistig in ihrem Kopf hartnäckig hängen.
„Lea, ich will nicht, dass du so bald schwanger wirst, wie ich damals, hörst du? Du sollst deine Jugend genießen … ohne Kind!“
Und nach jedem Tschüss folgte: „... und halt dich von den Burschen fern!“
Wie sie das hasste!
Es wäre wirklich nicht nötig, das ständig zu wiederholen. Hatte sie denn kein Vertrauen zu ihr? Sie konnte doch nichts dafür, dass die Mutter damals mit siebzehn schon schwanger wurde. Und sie konnte auch nichts für ihre übertriebenen und altmodischen Ansichten. Daran änderten auch ihre gut gemeinten Worte nichts, die sie ihr bei jeder Gelegenheit vorbetete: „Lea, ich will dir nur Kummer ersparen. Was hatte ich für hochgestellte Träume damals und was wurde letztendlich aus mir? Eine Putzfrau. Was dein Vater an Arbeitslosengeld bekommt, vertrinkt er, und was ich verdiene, reicht nur von der Hand in den Mund.“
Ja, Lea bekam es deutlich zu spüren. In der Familie ständig Mangelware, drehte sich alles nur ums liebe Geld. Es reichte nicht für die Monatspille, die die Mutter beruhigt hätte, die Lea aber nicht brauchte, nicht für einen Schulausflug nicht für eine Armbanduhr und schon gar nicht für einen Computer oder ein Handy. Jeder in Leas Klasse besaß ein Handy, nur sie nicht. Sie schämte sich deswegen. Um dieses Defizit bei den anderen wettzumachen, flunkerte sie, sobald sie darauf angesprochen wurde, dass man es ihr geklaut hätte oder so ähnlich. Sie musste froh sein, ein Fahrrad ihr Eigen nennen zu dürfen und das auch nur, weil sie es von einer Nachbarin geschenkt bekommen hatte, da diese zu gebrechlich dafür geworden war. Ihre heiß geliebte Stereoanlage gewann sie durch ein Ratespiel in der Zeitung. Nur CDs waren so ziemlich das Einzige, das ihr die Eltern besorgten, zu einigen Anlässen im Jahr, wie Geburtstag oder Weihnachten. Jedes Mal wenn sie vor einer derartigen Festlichkeit vor die Wunschwahl gestellt wurde, schwankte Lea zwischen CD und Armbanduhr. Sie wusste nie eine genaue Uhrzeit, wenn sie sich außerhalb der elterlichen Wohnung befand. Oft war es nicht möglich, jemanden danach zu fragen. Und wenn auch keine Kirchenturmuhr in der Nähe war, musste sie raten oder sich nach der Sonne richten. Derartig die Zeit zu ermitteln, verlangte ziemliche Übung. Ihr Zeitlimit lag bei zwanzig Uhr. Im Sommer passierte es schon mal, dass sie sich verschätzte und eine Stunde zu spät daheim eintrudelte. Hausarrest war das mindeste, was ihr dann „blühte“. Eine Armbanduhr wäre also die Lösung gewesen. Aber eine Armbanduhr hätte ihr nicht helfen können auf andere Gedanken zu kommen, wenn sie Kummer hatte; sie hätte ihr nicht helfen können in die Welt der Popklänge einzutauchen, die Vergessen brachten. Der Grund, warum Leas CD-Turm anwuchs.
Manchmal ließ das Haushaltsbudget es zu und sie bekam ein paar Euro Taschengeld. Alle in Leas Klasse erhielten regelmäßig Taschengeld, nur sie nicht. Wenn die Schulkameraden in der Pause sich eine Jause im Schulshop besorgten, von der wohlschmeckenden Wurstsemmel bis zur köstlichen Nussschnecke, und sie sich hingegen mit einem mitgebrachten Butterbrot begnügen musste, erlebte sie sich noch mehr als Außenseiter, als sonst schon. Von den Markenklamotten ihrer Mitschüler ganz zu schweigen. Leider blieb ihr nichts anderes übrig, als anzuziehen, was der Geldbeutel ihrer Eltern hergab. Und der reichte eben nur für einen Secondhand-Laden. Jeans und Jacke, die sie gerade trug, stammten auch daher. Trotzdem zählten sie zu ihren Lieblingssachen.
Lea hörte wie ein Moped sich ihr rücklings näherte. Ihr Puls schnellte in die Höhe. Sie sah sich um. Fabio war es nicht. Klar zu früh dafür. Schnell vergaß sie die Markenklamotten, nebst weiteren Gegenständen, die sie nur vom Hören oder Sehen ihrer Mitschüler kannte. Selbst die verpatzte Schularbeit vergrub sich im hintersten Winkel ihres Gemütes, mit einem Ziel vor Augen, das ihren Frust flugs in blanke Aufregung verwandelte. Diesmal zu Fuß und nicht mit dem Rad unterwegs, überquerte sie die wenig frequentierte Fahrbahn des Mietwohnviertels Lichtenegg. Unbeachtet schritt sie an den langgestreckten, fünfstöckigen Bauten vorbei, die alle gleich aussahen. Die beschmutzten Fassaden der Wohnblöcke erweckten in jedem Betrachter den Eindruck, als wären sie in vorsintflutlichen Zeiten entstanden.
Kinder benutzten die Wohnstraßen zum Ballspielen, Skatborden oder Rollschuhlaufen. Fahrradfahrer schlängelten sich irgendwie durch, und Autos fuhren, wenn überhaupt, nur gemäß den Verkehrsvorgaben, in Schritttempo vorbei. Mancher Verkehrsrowdy hielt sich nicht an die vorgeschriebene Wohnstraßen-Geschwindigkeit. Und so kam es des Öfteren vor, dass Bremsen quietschten und die Spielenden erschreckt zu Boden fielen oder zur Seite hüpften.
Gesenkten Kopfes bahnte Lea sich ihren Weg durch die quirlig hüpfende Kinderschar. Als sie zwischendurch hochblickte und die verwitwete Nachbarin Frau Müller auf sich zukommen sah, runzelte sie ungehalten die Stirn, wissend, was das für sie bedeutete. Es war unschwer zu erkennen, dass der alten Dame das Gehen wegen ihrer müden und von Gicht geplagten Glieder nicht leichtfiel. Von jeher wohnte sie im Erdgeschoss, gleicher Eingang, wie Lea. Sie erwartete alles, nur keine Freundlichkeit von dieser Frau. Am liebsten würde sie sich mit einer Tarnkappe unsichtbar machen, damit ihr das ewige Gelaber der Nachbarin erspart bliebe.
Aber das Leben stellte sie wieder einmal unbarmherzig an die vorderste Front, wo Unannehmlichkeiten sich zu Hürden häuften, die bewältigt werden wollten. So hörte sie auch diesmal ihre keifende Stimme: „Gestern Morgen bist du im Treppenhaus wieder runter gehüpft, wie eine Wilde. Mein Struppi hat sich so gefürchtet von dem Krawall, den du gemacht hast. Ist es nicht einmal möglich, dass du die Treppe normal benützt? Musst du immer springen?“
„Ich war in Eile“, rechtfertigte Lea sich.
Es hätte sie wirklich gewundert, wenn die Frau ohne jeglichen Kommentar an ihr vorbeigegangen wäre. Aber vielmehr hätte es sie gewundert, wenn sie endlich eingesehen hätte, dass der Hund mit seinem ewigen Gequietsche, das sich Bellen nannte, mehr Lärm im Haus verursachte, als ihr Schuhgetrappel über die Treppe es jemals zustande gebracht hätte.
„Immer bist du morgens in Eile. Wie wäre es, wenn du früher aufstehen würdest?“
„Ich muss jetzt gehen“, erwiderte Lea, wandte sich ab und ließ die Frau stehen.
„Das nächste Mal benütz das Treppenhaus wie ein vernünftiger Mensch!“
Lea stellte sich taub. Ihr spukte anderes im Kopf herum. Etwas, das ihre Ungeduld anstachelte und sie auf den Spielplatz drängte. Einen Spielplatz für Kleinkinder, vom Magistrat der Stadt Wels errichtet. Zehn Gehminuten von der elterlichen Wohnung entfernt. Ausgestattet mit Sandkasten, Schaukel, Rutsche und unzähligen Holzbänken, die überall herumstanden. Manche in dicht bewachsenen Gartenlauben versteckt. Eine dieser Bänke war seit längerer Zeit ihr Zufluchtsort, wo meist Freunde auf sie warteten. Emi, Naz, Walter, Erik und Lukas. Die fünf bedeuteten für Lea Erholung vom Stress in der Schule, Erholung von zu Hause und Erholung von allem, was ihr über die Leber gelaufen war. Meistens trafen sie sich erst am späten Nachmittag, weshalb sie eine leere Bank erwartete, doch zu ihrer Überraschung winkte Emi.
Eigentlich hieß Emi Emilia. Ihre Familie stammte aus Polen. Wegen damaliger politischer Unruhen in diesem Land flüchteten ihre Eltern nach Österreich. Erst vor einem halben Jahr lernten sie sich in der Schule kennen. Sie verstanden sich auf Anhieb und wurden beste Freundinnen. Gleichaltrig wie Lea frisierte Emi ihre glatten, langen, braunen Haare auf einen Seitenscheitel, die sie in Augenhöhe mit einer Spange zusammenhielt. Manche hielten sie wegen ihrer Ähnlichkeit für Schwestern, was beiden schmeichelte. Umso mehr, da beide keine Schwester besaßen, nur je einen Bruder. Super wäre, wenn sie in dieselbe Klasse gehen würden. Machten sie aber nicht.
Nahe genug herangekommen, las Emi an Leas Gesicht ab, dass ihr irgendetwas über die Leber gelaufen war. „Erzähl!“
Schwerfällig ließ Lea sich neben ihr auf die Bank plumpsen und winkte ab. Die fünf in Mathe war zwar wieder gegenwärtig, dennoch hatte sie keine Lust, dieses Thema im Moment breitzutreten. Im Augenblick beschäftigte sie der Rest ihrer Probleme viel mehr.
„War er schon da?“
„Wer? Fabio?“
Leas Ungeduld stieg. „Wer denn sonst?“
Emi lachte: „Es ist kaum vier. Fabio ist sicher noch
mit seinen Kabeln beschäftigt.“
Er lernte Elektromechaniker.
Lea zweifelte: „Ob er heute kommt?“
„Mir scheint, du bist in ihn verliebt?“
„Du spinnst ja.“
Trotzdem konnte es Lea nicht leugnen, Fabio fehlte ihr. Er machte sich rar in der Clique und das seit Wochen. Insgeheim wünschte sie nichts sehnlicher, als dass er sich endlich wieder blicken ließe. Doch sie hütete sich, das auszusprechen. Niemand durfte wissen, was wegen Fabio in ihr vorging. Wenn, dann bestenfalls er selbst.
„Du hättest ihn nicht vergraulen sollen“, plädierte Emi, damit andeutend, dass seine Reaktion, sich unsichtbar zu machen auf Leas grobe Behandlung hin, für sie mehr als verständlich war.
„Und er hätte mich nicht ständig ärgern sollen“, platzte Lea patzig heraus.
Es war ihr ein Rätsel, warum ihr Fabio fehlte. Eigentlich wusste sie nicht, ob er ihr überhaupt fehlte. Zurzeit verstand sie sich selbst nicht. Irgendetwas passierte mit ihr, seit er nicht mehr kam, aber es war ihr nicht möglich zu definieren was. Noch weniger war sie in der Lage das dumpfe Gefühl in ihrer Brust, das sie seit seinem Verschwinden plagte, zu kontrollieren. Im Grunde könnte sie froh sein, ihn nicht mehr ertragen zu müssen. Trotz seiner siebzehn Jahre benahm er sich in ihrer Gegenwart meistens wie ein alberner Fünfjähriger. Schraubte ihr jegliches Zubehör vom Fahrrad ab und versteckte es hinterher. Vom Klingeldeckel bis zum Sitz. Was er dann Spaß nannte.
Die Sachen von ihm wieder zurückzubekommen verlangte viel Anstrengung, Ärger und Zeit. Was zur Folge hatte, dass sie nicht nur einmal zu spät nach Hause kam.
Und um den eigenen Frust, der schimpfenden Mutter und dem drohenden Hausarrest vorzubeugen, kam sie in letzter Zeit zu Fuß – ohne Fahrrad – zur Spielplatzlaube. Eine Anstrengung, die sich als überflüssig erwies. Fabio ließ sich nicht mehr blicken.
„Du hättest ihm nicht ins Gesicht schreien sollen, wie widerlich du ihn findest“, plädierte Emi weiter.
Lea stutzte und zweifelte an Emis Loyalität. „Du bist wohl auf seiner Seite!“
„Blödsinn.“
Ein Dackelmischling kam des Weges und ließ die Mädchen verstummen. Keuchend zog er sein Frauchen an der Leine hinterher, und je mehr er keuchte und hechelte, desto mehr zog er.
Kaum waren Hund und Hundebesitzerin um die Ecke verschwunden, fragte Lea: „Und wie läuft es mit dir und Walter inzwischen?“
Emi wurde verlegen. „Was meinst du?“
Mit spitzbübischem Augenzwinkern schubste Lea sie an.
„Ich hab bemerkt, dass du ein Auge auf ihn geworfen hast.“
„Dir entgeht wohl gar nichts, wie?“
„Und was sagt Karli dazu?“
Für ihn schwärmte Emi noch vorletzte Woche, leider ohne Erfolg. „Ach der“, meinte sie herablassend.
„Und?“ Abwartend sah Lea auf die Freundin.
Die tat, als verstünde sie nicht. „Was – und?“
„Bist du verliebt?“
„Was du wieder denkst. Er gefällt mir, weiter nichts.“
„Weiß er es?“
Emi erschrak. „Walter? Neiiin!“
„Du musst es ihm sagen.“
Das war das Letzte, was Emi machen würde. „Er ist eh viel zu alt für mich.“
„Nur ein Jahr älter als Fabio.“
„Achtzehn – und ich fünfzehn. Mein Bruder schlägt mich tot, wenn ich mit einem Achtzehnjährigen rummache.“
„Du musst ja nicht gleich rummachen mit ihm.“
Sie schwiegen eine Weile und beobachteten die Mütter mit ihren Kindern nebenan, wie sie im Sand-
kasten Kuchen formten.
„Vielleicht will er dich gar nicht.“
„Wahrscheinlich.“
Emi seufzte.
Möglicherweise lief es mit Walter genauso ab, wie es immer ablief mit ihr und den Jungs. Der, der ihr gefiel, bemerkte sie nicht, und den, dem sie gefiel, den wollte sie nicht.
Sie seufzte wieder. Wie sie Walter einschätzte, würde er sich über sie lustig machen oder noch ärger, sie auslachen, wenn er von ihrer Zuneigung für ihn erfuhr.
Lea gab sich gönnerhaft. „Wenn du willst, weihe ich ihn ein.“
Ein gutherziger Samariterdienst der Emi erschreckt von der Bank hochfahren ließ. „Bist du verrückt?!“
Ihr lautstarker Gefühlsausbruch bewirkte, dass einige Mütter im Sandkasten aufmerksam in ihre Richtung sahen. Emi war das megapeinlich. Hastig setzte sie sich auf die Bank zurück, in der Hoffnung dann nicht mehr Mittelpunkt ihrer fragenden Blicke sein zu müssen.
„Soll er blöd sterben?“, bohrte Lea ungerührt weiter.
„Ja, soll er.“
Nun fiel bei Lea der Groschen. „Du ängstigst dich vor deinem Bruder.“
„Auch“, gab Emi zu.
„Warum erlaubt dein Vater, dass dich dein Bruder so mies behandelt?“, fuhr Lea auf. Allein der Gedanke an seinen Namen – Thaddäus – brachte sie in Rage.
„Vater ist schwer herzkrank, darum.“
„Und du findest das in Ordnung.“
„Natürlich gefällt mir das nicht, aber Thaddäus ist achtundzwanzig. Ich kann mich nicht gegen ihn wehren.“
Lea verstand sie plötzlich. Ihr Bruder Bernd war zwar erst achtzehn, aber auch sie kannte das Gefühl, sich in manchen Situationen nicht gegen ihn wehren zu können.
„Tja, und deine Mutter kann als Taubstumme ohnehin nichts dagegen sagen“, brummelte Lea.
Fernes Getöse einer Werkssirene ließ sie verstummen. Nach Leas Zeitgefühl vermeldete das Signal halb fünf. Sekundenlang hielt sie den Atem an, denn ihr war bewusst geworden, dass Fabio gerade seinen Arbeitstag beendete.
Die Vorstellung, er mache auf seinem Heimweg vielleicht einen Abstecher zur Laube, brachte ihr Herz aus dem Takt. Dabei rückte der unsympathische Thaddäus automatisch in den hintersten Winkel ihres Denkens.
Erwartungsvoll blickte sie in die Richtung, woher
Fabio stets auftauchte – wenn er auftauchte.
Emi schlug vor: „Hast du Lust im Jugendzentrum eine Runde Tischtennis zu spielen?“
Das Jugendzentrum war gleich um die Ecke, im Keller des Pfarrhauses, wo sich sämtliche Räume der katholischen Jungschar befanden. Der Pfarrer Macadi bemühte sich schon seit einiger Zeit, Lea und Emi als Jungschar-Mitglieder zu ködern. Jedoch zeigten die beiden Mädchen bisher kein Interesse an Basteln, Singen und Lesen innerhalb einer Gruppe von Zehn- bis Dreizehnjährigen.
„Und ich werd euch doch noch kriegen“, scherzte der Pfarrer jedes Mal mit erhobenem Zeigefinger, wenn er sich abermals eine Abfuhr der Mädchen einhandelte.
„Gehen wir, oder gehen wir nicht?“, drängte Emi.
Lea hätte lieber Fabio abgepasst. Eventuell fuhr er ja mit seinem Moped an der Laube vorbei, würde sie sehen und – anhalten. Ein Ding der Unmöglichkeit, das verpassen zu wollen. Bedauerlicherweise ließ Emi nicht locker und ging schon voraus. Worauf Lea ihr widerstrebend folgte.
Die Tischtennishalle wirkte riesig mit den nur vier Tischtennistischen und den beiden Aufbewahrungskästen darin. Zwei Jungs und vier Mädchen beanspruchten gerade drei Standplätze für sich. Das Klopfen der Tischtennisbälle hallte, sobald sie auf den Platten aufschlugen, hohl von den Wänden, genauso wie die Anfeuerungen und Kommandos der Spielenden.
„Wir können“, freute sich Emi, die einen leeren Tisch erblickte. Rasch angelte sie Schläger und Bälle aus einem der seitlich stehenden Schränke, die der Pfarrer zur freien Entnahme dort für die Jungschar-Mitglieder bereithielt, und schon ging es los.
Obwohl Emi der Freundin das Spiel erst kürzlich beibrachte, beherrschte Lea es bereits vortrefflich.
„He, du wirst immer besser“, meinte Emi lachend, nachdem sie wieder nur knapp einen Satz gewonnen hatte.
„Darauf kannst du wetten“, pflichtete Lea ihr bei. Eine Zeit lang hüpfte der Ball über den Tisch hin und her ohne jeden Kommentar der beiden. Lea fiel es schwer, sich auf das Spiel zu konzentrieren. Fabio schwirrte ihr im Kopf herum und sie bereute, dass sie sich von Emi weichkochen ließ, mit ihr hier zu spielen.
Sämtliche Bälle aus ihren Jackentaschen waren verworfen und auf dem Boden gelandet. Gemeinsam sammelten sie sie auf und steckten sie wieder ein. Ein Vorrat, der das Bücken verminderte. Emi stellte sich in Position und erinnerte: „Ich gebe. Auf die Plätze, fertig, los!“Anfängergerecht, damit Lea den Ball traf, schlug sie an.
Im Normalfall wäre ihr Anschlag keine große Herausforderung für Lea gewesen. Doch wegen Fabio unkonzentriert, schlug sie derart hart zurück, dass die Kugel in weitem Bogen über Emi hinweg sprang und am anderen Ende des Saales landete.
„Du passt nicht auf“, schimpfte Emi, der das Suchen der Bälle langsam lästig wurde. Worauf Lea sich ernsthaft vornahm, Fabio für die nächste halbe Stunde aus ihrem Gedächtnis zu streichen.
Sie wollte nicht mehr daran denken, dass er vielleicht am Spielplatz vorbeifuhr, sie womöglich suchte, während sie hier mit Emi … na ja.
Ein spielender Junge nebenan fixierte die beiden Mädchen, seit sie in die Halle gekommen waren. Emi hatte es längst bemerkt und wurde zunehmend zappeliger unter seinen Blicken. Bald hielt sie es nicht mehr aus.
Sie eilte zu Lea und flüsterte ihr ins Ohr: „Der Junge mit blauer Jacke und Brille beobachtet uns schon eine ganze Weile.“
Leas Augen suchten ihn.
„Der mit den Pickeln im Gesicht?“, fragte sie nach.
„Nicht so laut!“
Wenn er nicht taub war, musste er das gehört haben! In Emi stieg es heiß auf. Am liebsten wäre sie vor Scham im Erdboden versunken. Ihr Gesicht lief rot an. Betreten wandte sie sich ab. Zum Glück rettete Lukas sie aus der Situation, indem er auftauchte und alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
„Hallo miteinander.“ Obwohl er gebürtiger Österreicher war, reihten ihn manche wegen seines Äußeren, puncto Herkunftsland, als Südländer ein. Sein Oberlippenbärtchen ließ ihn älter aussehen als sechzehn. Er besuchte die Handelsschule, um später einmal die Autofirma seines Vaters übernehmen zu können. Manches Mädchenherz geriet bei seinem Anblick ins Schwärmen. Nur Leas und Emis nicht. Sie stuften ihn als ´nicht echt´ ein. Emi drückte es sogar noch deutlicher aus: „Bei dem piepts gewaltig.“ Kein Wunder. Nach Lea war sie das sechste Mädchen in der Gegend, das er gefragt hatte, ob sie Lust habe, seine Freundin zu werden. Meistens erhielt er auf diese direkte Frage eine direkte Abfuhr, was ihn aber nicht sonderlich zu stören schien.
Lukas war nicht allein. Ein unbekannter, schüchtern wirkender Junge trappelte hinter ihm her; scheinbar froh, Lukas nicht nur als Wegweiser, sondern auch als Schutzschild vor sich zu haben.
Im Gegensatz zu ihm schien Lukas die Selbstsicherheit pur zu sein. Breitbeinig postierte er sich vor die Mädchen und fragte: „Ihr seid schon da?“
Die Frage passt zu seiner ‚Intelligenz’, besagte Leas Gesichtsausdruck und erwiderte patzig: „Nein,
wir sind nicht da.“
Der Tischtennis spielende Junge nebenan blickte während des Spieles nach wie vor immer kurz rüber. Emi registrierte es mit Wohlgefallen. Durch sein offensichtliches Interesse an ihr rückte Walter auf den Berg der vergessenen Dinge.
„Das ist Georg“, stellte Lukas den Mitgebrachten vor, während er beiseite schritt und den Neuling hinter seinem Rücken hervorzog.
„Hallo, Georg“, grüßten Lea und Emi höflich, nicht sonderlich von ihm angetan.
Georg trippelte verlegen von einem Fuß auf den anderen, deutete mit der Hand einen Gruß an und erwiderte: „Sagt Schorsch zu mir.“
Auf den ersten Blick war an Georg nichts Besonderes. Einzustufen in Durchschnittstyp mit gekrausten, schwarzen Haaren. Den Mädchen nach keines zweiten Blickes würdig. Was sie jedoch an Georg faszinierte und aufhorchen ließ, war sein Dialekt.
„Du bist nicht von hier?“
„Ich komm aus Tirol.“
„Bist du bei Lukas zu Besuch?“
„Nein. Lukas hab ich zufällig kennengelernt. Ich mache eine Lehre in der Gärtnerei ‚Winter’, zwei Straßen von hier.“
Während seiner Erklärungen rollte das „R“ in je-
dem Satz.
Emi und Lea registrierten es amüsiert, sahen sich an und kicherten albern.
„Gefällt es dir da?“
Im Grunde war Lea es schnuppe, doch wollte sie mehr rollende „rrs“ hören und Georg mit ihrer Frage zum Weitersprechen animieren.
„Eh klar.“
Das „Eh“ brachte er kurz und abgehackt hervor; das „Klar“ bestand hörbar nur aus „rrs“. Den beiden Mädchen gefiel das so erstklassig, dass sie es selbst ausprobieren mussten.
„Eh klar“, echoten sie im selben Tiroler Dialekt.
Schorsch sah verlegen auf den Boden. Scheinbar fühlte er sich gefrotzelt. Man sah, er wusste nicht, sollte er grinsen oder nicht.
Lukas bemerkte seine Unsicherheit und mischte sich ein: „Macht mir den armen Kerl nicht gleich kopfscheu.“ Unvermittelt sah er sich um. Außer den sechs, die nebenan Tischtennis spielten, entdeckte er niemanden. „Ist Fabio nicht da?“
Leas Augen weiteten sich. „Du hast ihn gesehen?“
Lukas nickte. „Er wollt vorbeikommen.“
So wesentlich Leas Gesicht Sekunden zuvor noch frohe Erwartung ausdrückte, so sehr spiegelte es nun Enttäuschung.
„Vielleicht kommt er ja noch“, meinte Emi, mit
mitleidigem Blick auf sie, da sie erahnte, was in ihr vorging. Als sie sich nochmals nach dem Jungen mit den Pickeln im Gesicht umwandte, bewegte der sich gerade auf sie zu. Nicht damit gerechnet, brachte sie das vollkommen aus dem Häuschen. Hastig wandte sie ihm den Rücken zu und verhielt sich, als bemerke sie es nicht. Im Bemühen, eisern gleichgültig auszusehen, hoffte sie, dass er sie ansprechen würde, und schwelgte in freudiger Vorstellung, was gleich passieren könnte. Seine Schritte näherten sich … ja … er kam … und … marschierte an ihr vorbei ... aus der Halle.
Was war das denn? Irritiert und enttäuscht war Emi drauf und dran ihm zu folgen. In letzter Sekunde besann sie sich anders und fragte Lukas: „Kennst du den Typen, der eben an uns vorbei ist?“
Der sah sich um, als müsse er sich vorsichtshalber vergewissern, wer das gewesen war. Er sah aber nur mehr eine Tür, die sich schloss, worauf er die Schultern zuckte. „Sein Name ist Viktor, sonst weiß ich nichts von ihm. Warum?“
„Nur so.“
Er witzelte: „Du willst wohl seine Viktoria sein?“, nicht ahnend, dass er damit den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
„Und Walter?“, mahnte Lea. Sie verstand die Freundin nicht. Wie konnte sie so wankelmütig sein?
Emi erschrak. „Sei still!“
Lukas horchte auf. „Was ist mit Walter?“
„Ich weiß nicht, was sie meint“, stellte Emi sich dumm.
Infolgedessen beschloss Lea lieber stumm zu bleiben. Gedanklich war sie ohnehin mehr bei Fabio als sonst wo. Immer noch hoffend, dass er auftauchen würde. Null Ahnung warum. Im Grunde entsprach er in keinster Weise ihren Vorstellungen von einem attraktiven Jungen. Seine schmalen Lippen verschwanden fast durch seine übergroße Nase. Die Haare trug er so kurz geschoren, dass sie ihm igelig vom Kopf standen. Ständig kam er in dieser unmöglichen grauen Knickerbockerhose und roten Kniestrümpfen, dazu Latschen von Schuhen an.
„Kommst du mit?“, fragte Emi. Keine zehn Pferde konnten sie mehr zurückhalten, herauszufinden, ob Viktor gewillt war zurückzukommen. Doch Lea zog es vor zu bleiben. Ein Entschluss, den Emi nicht gelten ließ. Sie packte Lea am Arm und zischte: „Jetzt komm schon!“, und zog sie mit.
Lea sträubte sich wie ein bockiger Esel, die ganze Halle hindurch; und was sie sonst von der unsanften Methode der Freundin hielt, bekundete sie lautstark mit: „Spinnst du?“
Lukas machte sich seinen eigenen Reim, von der Art, wie die Mädchen sich aufführten und schüttelte
den Kopf. Schorsch ging es ähnlich.
Außerhalb der Halle angekommen zischte Lea: „Bist du verrückt geworden? Wieso ziehst du mich wie einen Sack durch die Gegend?“
Worauf Emi betreten wirkte und sich entschuldigte. „Es ist nur … ich muss kurz allein mit dir reden.“
„Auf eine Liebeserklärung von dir kann ich verzichten“, spottete Lea, noch immer verärgert.
„Erzähl niemandem von Walter ... ich geniere mich sonst vor ihm. Zum Schluss denkt er, ich würde mich ihm an den Hals werfen wollen. Wenn das Thaddäus erfährt … nicht auszudenken.“
Während ihrer Bitte und Erklärung durchstreiften ihre Blicke den Gang, wo nichts war, außer montierte Garderobenhaken an der Wand und die Treppe nach oben, die zum Ausgang auf die Straße führte.
Irritiert folgte Lea ihrem Rundblick. „Suchst du was?“
„Nicht was – wen!“
Lea verstand nur Bahnhof. „Ja, und wen suchst du?“
Plötzliches Schuhgetrappel, von oben nach unten hallend, übertönten Leas zuletzt gesagte Wortsilben. Männliche Laute, unterbrochen von Gelächter, echoten durch den kahlen Stiegenaufgang in einer Weise, dass keines der Worte zu verstehen war. Aber den Stimmen nach erkannte Lea einwandfrei, dass es sich um Naz und Erik handelte. Die Treppe hinter sich gebracht, im Blickfeld der Mädchen angekommen, begrüßten sie sich. Im Anschluss fragten die Jungs: „Ihr wollt gehen?“
„Wie kommst du darauf?“, erwiderte Lea lahm.
„Dann spielen wir doch eine runde ‚Vierer’ zusammen“, meinte Erik erfreut.
Ein Vorschlag, der Lea nicht begeisterte, wo sie vorhin schon nur wegen Emi gespielt hatte. Zum Glück fiel ihr ein, dass Lukas und Schorsch Minuten vorher den letzten Tisch ‚besetzten’ und erwähnte es.
„Außerdem schmerzt unser Handgelenk schon, nicht wahr, Lea?“, setzte Emi drauf, die im Moment lieber nach Viktor suchte. Ein abwartender Blick … und als Lea nicht wie gewünscht reagierte, ein sanfter Stoß. Lea verstand den Wink dennoch nicht und antwortete ehrlich: „So lang haben wir auch wieder nicht ...“
„Pschscht!“
Schlagartig verstummte sie. Obgleich sie nach wie vor nichts begriff, was ihr fragender Blick auf Emi deutlich zeigte. Letztendlich tat sie ihr aber den Gefallen und schüttelte übertrieben, mit schmerzverzerrtem Gesicht, ihren rechten Arm.
Erik und Naz begaben sich lachend in die Halle. Die beiden waren sich einig: Die Mädchen hatten einen Vogel.
Als Viktor unverhofft um die Ecke schoss, schleuderte das Emi für Sekunden aus ihrem selbstbewussten Takt. Wieder stieg es heiß in ihr auf. Scheinbar aus dem WC gekommen, putzte er mit einem Papiertaschentuch bedächtig rubbelnd seine Brille in der Hand. Vertieft in seinem Tun, schritt er an den beiden Mädchen vorbei, in die Halle zurück. Emi starrte ihm nach. Hatte es getäuscht oder war sein Gesicht gerötet gewesen?
Bei den vielen Unreinheiten auf seiner Haut und dem geringen Lichteinfall, den die Glühbirne in diesem Keller erzeugte, war das schwer zu erkennen gewesen.
Emi starrte ihm noch verzückt nach, als er längst in der Halle verschwunden war. Schließlich sagte sie: „Du, Lea, ich denk, ich hab ein Problem.“
Die kapierte endlich. „Du meinst, erst Walter und nun Viktor?“
Emi wirkte elend. „Was soll ich machen, mir gefallen beide.“
Lea lachte. „Das Pickelgesicht und du?“ Ihr Lachen wurde schriller.
„Es ist einfach über mich gekommen.“
Lea spottete: „Besser wär es, wenn sich der Junge zuerst in das Mädchen verguckt, nicht umgekehrt, meinst du nicht auch?“
„Ja, mach dich ruhig lustig über mich. Viktor hat
mich vorhin die ganze Zeit beobachtet, was mir gute Chancen einräumt, dass es ihm ergeht wie mir.“
„Sag, hast du nichts anderes als nur diese Idioten von Jungs im Kopf?“
„Das musst gerade du sagen, wo du selbst nur an Fabio denkst.“
Die Glocke der Kirche schlug sieben Uhr und Emi erschrak. „Ich muss nach Hause, wenn ich nicht wieder eine Ohrfeige abbekommen will.“ Thaddäus stand unausgesprochen im Raum. „Gehst du auch?“
Lea schüttelte den Kopf. Sie musste erst um acht zu Hause sein. Bis dahin wollte sie jede Minute nützen und nach Fabio Ausschau halten. Vielleicht kam er ja noch.
Emi bedauerte, sich von Viktor trennen zu müssen, ohne dass Entscheidendes passiert war. Sie begab sich zum Treppenansatz und stieg die Treppe hinauf. Bevor sie aus Leas Sichtfeld verschwand, drehte sie sich um und hob die Hand.
„Tschüss dann.“
„Bis morgen“, antwortete Lea.
„Und verrate keinem von …, du weißt schon, wegen Viktor und Walter und so.“
„Was denkst du von mir?“, entrüstete sich Lea ein wenig beleidigt. Noch dazu wo sie annahm, dass die Neuigkeit spätestens morgen sowieso überholt wäre, da Emis Herz dann wieder für einen anderen schlagen würde, so wankelmütig, wie sie sich in letzter Zeit gab.
Emi war fort, und Lea begab sich in die Tischtennishalle zurück. Sie setzte sich auf eine seitlich an der Wand stehenden Bank und sah den anderen gelangweilt beim Spiel zu. Dabei ließ sie die Tür nicht außer Acht, stets in der Hoffnung, dass Fabio einträte.
Erik, Nazareth – genannt Naz, Lukas und Schorsch spielten verbissen ihren „Vierer“.
Lukas fühlte sich mit Naz als Partner immens benachteiligt. Wegen dessen Glasauge, das ihm einst ein Unfall bescherte.
Fremde bemerkten seine Augenprothese auf den ersten Blick meist nicht. Und wenn sie sie bemerkten, behandelten ihn manche oft als Mensch zweiter Klasse, wobei Naz sich verhielt, als mache ihm das nichts aus. Er gab sich cool, jedoch in Wahrheit schlug er sich deswegen mit Komplexen herum.
„Im nächsten Satz wechseln wir“, bestimmte Lukas unsensibel, „ich spiele mit Erik zusammen und Naz mit Schorsch.“
Was Naz veranlasste, mitten im Spiel den Schläger wegzulegen und zu murmeln: „Ich wollt sowieso aufhören.“
„Sei kein Spielverderber!“, rief Erik verärgert über
den drohenden Entzug seiner Gewinnphase. Denn ohne Naz gab es keinen fortsetzenden „Vierer“.
Der setzte sich unbeirrt neben Lea auf die Bank und schlug vor: „Vielleicht will Lea spielen.“
Die wollte nicht.
Schon öfter war Naz´s Glasauge unausgesprochen Thema gewesen in der Clique, deshalb mutmaßte Erik, was in ihm vorging und beschwichtigte: „Lukas hat es bestimmt nicht so gemeint.“
„Stimmt“, bekräftigte der nickend, obwohl er nach wie vor lieber mit Erik als Partner spielte.
Lea empfand Mitleid für Naz. Und Lukas, diesem Gewinnertyp würde sie am liebsten eine runterhauen, so wütend war sie auf ihn. Besser, sie ging nach Hause. Es musste kurz vor acht sein.
„Kommst du mit, Naz?“
Dem war nichts lieber als das. Im Freien angekommen fragte Lea: „Begleitest du mich nach Hause?“
Er hatte nichts Besseres vor und so schlenderten sie eine Weile schweigsam nebeneinander her.
Es war bereits dunkel. Die vereinzelten Menschen auf der spärlich beleuchteten Straße beachteten die beiden nicht und umgekehrt verhielt es sich genauso. Lea war bewusst: Mit jedem Schritt der sie vom Jugendzentrum entfernte, schwand die Möglichkeit mehr, Fabio noch zu begegnen. Fest zog sie die Jacke um ihren Körper, sie fröstelte. Am Tag wärmte die Frühlingssonne die Luft zwar schon bedeutend, doch abends stieg die kühle Feuchtigkeit des vergangenen Winters noch aus dem Boden.
„Du bist so still“, meinte Naz leise.
„Ich bin müde“, schwindelte Lea, denn ihre Scheu Gefühle zu zeigen verbot ihm zu sagen, dass sie Mitleid mit ihm hatte, wegen Lukas vorhin. Sie hätte ihn gern getröstet, aber sie hatte keine Ahnung, wie. Dazu war sie todunglücklich, weil sich Fabio nicht blicken ließ. Und zu allem Übel fiel ihr die Mathe-Schularbeit ein, die der Vater noch unterschreiben musste.
Umgeben von Hochhäusern und dicht aneinandergereiht parkenden Autos seitlich der Straße, blieben sie an einer Wegkreuzung stehen. Gleich um die Ecke wohnte sie.
„Es ist besser, wir trennen uns“, meinte sie, befürchtend, mit Naz so nahe an ihrem Zuhause von einem Elternteil oder ihrem Bruder, gesehen zu werden. Die Mutter hätte sie geistig wieder schwanger visioniert und auf eine erneute Moralpredigt von ihr war sie auch nicht scharf.
„Kommst du morgen wieder zum Spielplatz, in die Laube?“, fragte Naz.
„Vielleicht“, antwortete Lea. Gleichzeitig kam ihr in den Sinn: und Fabio? Ob er auch kommt? „Danke
fürs Heimbegleiten.“
Es schien, als wolle Naz etwas antworten, doch dann besann er sich anders und schwieg.
Bevor sie um die Ecke aus seinem Sichtfeld kam, drehte sie sich um und winkte ihm. Sein Glasauge störte sie nicht im Geringsten. Im Gegenteil. Sie konnte ihn sich ohne gar nicht vorstellen. Es machte ihn aus. Nachdem er zurückgewunken hatte beeilte sie sich.
Zu Hause erwartete sie Trubel.
Bernd lief wie ein Wahnsinniger in der Wohnung umher, schob alles weg, hob alles hoch und fauchte Lea an, als er sie erblickte: „Willst du nicht suchen helfen?“
Desinteressiert zuckte sie die Schultern. „Wenn du mir sagst, was ich suchen soll?“
Der Vater lag im Wohnzimmer auf der Couch und starrte in den Fernseher. Er vermittelte den Eindruck, als hätte er die Welt um sich herum vergessen. Das Gerät war neu, die Möbel sahen aus, wie vom Flohmarkt gekauft. Lea störte sich nicht daran. Die meiste Zeit vergrub sie sich ohnehin in ihrem Zimmer und hörte Musik.
Die Mutter hastete hinter Bernd durch die Wohnung und plärrte: „Wer Ordnung hält, findet seine Sachen!“ Null Bock auf dieses familiäre Fiasko strebte Lea an, sich in ihre vier Wände zu verdrücken, denn nach der Enttäuschung mit Fabio brauchte sie Ruhe und Zeit zum Nachdenken.
Die Stimme der Mutter hielt sie zurück: „Du bist spät dran heute. Wo warst du denn so lange?“
Lea zögerte mit der Antwort. Mit bewusst unbeteiligtem Gesichtsausdruck bog sie die Mundwinkel nach unten und antwortete, so gelassen wie möglich und ohne lügen zu müssen: „Mit Emi zusammen, wie immer.“
„So“, erwiderte die Mutter, in einem Ton, der besagte: Ich glaube kein Wort. Sie deutete auf Vater. „Weiß er es schon?“
Steine purzelten auf Leas Brust, die drückten, denn sie verstand auf Anhieb, was die Mutter meinte. Sie schüttelte den Kopf.
„Dann wird es Zeit.“
Auf diesen Befehl hin, fiel ihre ohnehin düstere Stimmung ins bodenlose. Was das Bedürfnis in ihr erweckte, erst mal tief ein- und auszuatmen. Okay. Jetzt oder nie. Lustlos begab sie sich in ihr Zimmer, um das verhasste Mathe-Heft zu holen. Währenddessen hörte sie Bernds Freudenschrei, der durch die Mauern scholl; endlich hatte er seine Autoschlüssel gefunden. Gleich darauf schwirrte er ab.
Erst kürzlich bestand er die Gesellenprüfung zum Goldschmied. Das Geld für seinen Führerschein verdiente er selbst. Für die alte Blechkarosse, die er seitdem sein Eigen nannte, reichte sein Gespartes auch noch. Seine Leidenschaft zum Edelmetall erkannte man an der Vielzahl seiner Kettchen und Ringe, die er blasiert präsentierend an sich trug. Alles selbst angefertigt. Heikel genug ging er damit um. Niemandem erlaubte er, das Geglitzer anzufassen oder gar zu tragen.
Lea war froh, dass fort war. Dadurch brauchte sie seine hämischen Bemerkungen nicht zu hören, zumal er ihr gegenüber immer tat, als wäre er Klassenbester gewesen.
Mit dem Gesicht einer reuigen Sünderin kam sie mit dem Schularbeitsheft ins Wohnzimmer zurück. Kommentarlos stellte sie sich vor die Couch und den Vater, sah auf ihn nieder und hielt ihm das Heft vor die Nase. Als er zu ihr aufsah, erkannte sie an seiner Miene, dass er sich beim Fernsehen gestört fühlte. Eine Atemwolke von halb verdautem Alkohol benebelte seine Gestalt und kam ihr in die Nase. Willkürlich hielt sie den Atem an. Nur ungern überließ sie ihm das aufgeschlagene Heft, das er dann eine Weile stumm begutachtete. Und während er darin herumblätterte, wuchs in ihr der Wunsch, wieder auszuatmen. Sie atmete; aber nur kurz. Der abstoßende Geruch ließ sie erneut die Luft anhalten. Es war unmöglich, in seinem Gesicht abzulesen, wie sie in seiner Gunst dran war, darum stellte sie sich gleich auf eine unschöne Debatte mit ihm ein. Schließlich sagte er: „Das nächste Mal wird es besser, okay?“
Lea horchte dem Klang seiner eben gesagten Worte nach und staunte. „Das nächste Mal wird es besser.“ Dieser Satz wirkte sich wie Balsam auf ihre verkrampfte Seele aus. In aufwallender Erleichterung hätte sie den Vater liebend gern gedrückt und geküsst, wie früher, aber eine innere Scheu hielt sie davor zurück. Stattdessen nahm sie einen tiefen Atemzug von der nach Alkohol stinkenden Luft. Der Mutter war anzusehen, dass sie mit seiner Reaktion alles andere als einverstanden war. Doch das war Lea so was von egal. Im Moment empfand sie beinahe wie früher für den Vater, als er noch mit ihr lachte und mit ihr Späße trieb. Schon immer hing sie mehr an ihm, wie an der Mutter. Die Mutter zeigte meist Strenge – der Vater dagegen verstand sie. Bis zu jenem Tag zumindest, als das Unglück geschah. Keiner war darauf vorbereitet gewesen, es traf sie alle wie ein Schlag. Als Lokführer einen verantwortungsvollen Posten innegehabt, war er seiner Arbeit jahrelang gerecht nachgekommen. Nur einmal übersah er ein rotes Signal und prallte mit seinem auf einen entgegenkommenden Zug. Personen kamen zu Schaden, man warf ihm menschliches Versagen vor. Seine eigenen Vorwürfe aber zerrten mehr an ihm, als die darauffolgende Gerichtsverhandlung und die bedingte Gefängnisstrafe. Nach Meinung der Bundesbahnchefs als Lokführer nun untauglich, empfand er eine andere angebotene Tätigkeit als diskriminierend und kündigte. Seitdem war er arbeitslos. Inzwischen vier Jahre. Mit seiner Freizeit wusste er mittlerweile nichts Rechtes mehr anzufangen. Er verbrachte sie entweder vor dem Fernseher – am Tag – oder immer öfter in allen möglichen Kneipen – nachts.
Nachdem er seine Unterschrift ins Heft gekritzelt und sie ihm dafür gedankt hatte, verzog sich Lea ins Bett. Sie wollte nachdenken. An Naz und sein Glasauge, an Emi, der in letzter Zeit jeder zu gefallen schien, und an Fabio, der sich nicht mehr blicken ließ. Zum x–ten Mal an diesem Abend fragte sie sich, warum er wieder nicht zur Laube gekommen war. Sie gab sich Antworten, die nur Wahrscheinlichkeiten darstellten und sie nicht wirklich befriedigten. Zur fortgeschrittenen Stunde gähnte sie herzhaft und räkelte sich schläfrig in ihr abgenütztes Kissen. Und sie hoffte: Vielleicht kommt er ja morgen. Dann schlief sie ein.
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Der Wecker klingelte pünktlich. Gleichzeitig wurde die Tür aufgerissen.
„Sieben Uhr!“, plärrte die Mutter ins Zimmer und zog sie wieder zu.
Unmutig brummend wälzte Lea sich im Bett auf die andere Seite und zog sich die Decke über den Kopf. Nichts hasste sie so sehr, wie diese Tageszeit. Das morgendliche Aufstehen wurde täglich mehr zum Martyrium für sie. Und warum die Mutter immer „sieben Uhr“ rufen musste, obwohl der Wecker klingelte, war ihr ein Rätsel. Sie gähnte. Noch halb im Schlaf drückte sie die Schlummertaste. Es kehrte wieder Ruhe ein. Eine Wahnsinnswohltat ließ ihre Lider abermals schwer werden. Gleich wollte sie aufstehen, nur noch eine Minute die wohlige Wärme genießen.
Und langsam segelte sie wieder in das Land der Träume hinein.
„Lea, es ist halb acht!“
Sie schnellte hoch. Die überlaute Stimme der Mutter war ihr durch Mark und Bein gefahren. Noch mehr die Worte „halb acht“.
Hastig hüpfte sie aus dem Bett und suchte, so rasch es ihr träumender Zustand erlaubte, ihre Kleider zusammen. Wie ein Schlafwandler in Eile tappte sie sich durch den Schrank zur Unterwäsche hin. Die Mutter stand daneben und schimpfte: „Jeden Tag dasselbe Theater, kannst du nicht einmal pünktlich aufstehen?“
Traumwandlerisch verschwand Lea stumm im Bad. Gedanklich schon auf dem Weg zur Schule, in die sie mit Sicherheit zu spät kommen würde. Vor ihren geistigen Augen tauchten ihre hämisch grinsenden Mitschüler auf. Was für eine Blamage! Ihr innerer Stress erhöhte sich noch, als die Mutter erwähnte, zu frühstücken.
„Keine Zeit!“ Rasch schnappte sie sich den Schulbeutel.
„Trink wenigstens einen Schluck Kakao“, riet die Mutter und hielt ihr eine volle Tasse hin.
Null Beachtung.
„Dein Pausenbrot!“
„Ich will sowieso abnehmen“, rief Lea – schon im Treppenhaus – die Treppe immer zwei Stufen auf einmal hinunterhüpfend.
Hundegebell hallte durchs Stiegenhaus.
Im Erdgeschoss angekommen, öffnete sich Frau Müllers Wohnungstür. Sie steckte den Kopf heraus und keifte: „Jetzt hör mal, wie mein Struppi sich wieder fürchtet.“
Wahrhaftig, der Hund quietschte, dass es in den Ohren schmerzte.
Lea „überhörte und übersah“. Zurzeit stellten die ewig griesgrämige Nachbarin und ihr kläffender
Köter das geringere Übel für sie dar.
Mitten im Verkehrsgeschehen, ein beachtliches Stück Weg hinter sich gebracht, wurden die Hefte im Schulbeutel auf einmal schwer wie Steine. Ein Fahrradfahrer fuhr vorbei und Lea bedauerte, dass ihres im Keller stand und sie es in der Eile vergaß.
Prustend erreichte sie den menschenleeren Schulkorridor. Vor der Klassentür stehend versuchte sie, nicht mehr so heftig zu atmen. Keiner sollte mitbekommen, wie sehr sie sich abgehetzt hatte. Durch die Tür hörte sie die gedämpfte Stimme des Klassenvorstandes Herrn Häubl. Geografie stand also auf dem Stundenplan. Inzwischen einigermaßen erholt, mobilisierte sie ihren Mut, indem sie ein paar Mal tief durchatmete, dann drückte sie entschlossen die Türklinke und trat ein.
Wie erwartet richteten sich dreißig Augenpaare auf sie, mit hämisch grinsenden Mündern. Herr Häubl verstummte und schob seine Nickelbrille zurecht, was er immer tat, wenn er seine Ungeduld demonstrierte.
Tadelnden Blickes verfolgte er, wie Lea mit schuldvoller Miene den Kopf senkte und sich daran machte die Klassentür zu schließen. Die Augen der Mitschüler starrten sie an, als wäre sie ein entsprungener Häftling, der endlich gefasst worden war. Derart im Mittelpunkt zu stehen behagte ihr gar nicht. Gesenkten Blickes murmelte sie: „Entschuldigung, ich hab verschlafen.“
Sie erwartete nichts, als Häubls Standardsatz, den er in solchen Situationen, in Haltung eines gespreizten Pfaus, von sich zu geben pflegte. Und prompt kam er: „Natürlich. Wer ist wieder zu spät? Die Wagner.“
Gemurmel der Mitschüler stellte sich ein, deren Augen nicht von ihr abließen. Herrn Häubls Körpergröße belief sich auf nur einen Meter achtundfünfzig. Viele in der Klasse überragten ihn bereits um Haupteslänge, weswegen sie ihm eines Tages den Spitznamen „Bonsai“ verliehen: nach japanischen Baumzüchtungen, wo sämtliche Pflanzen maximal vierzig Zentimeter groß wurden.
Seine zu kurz geratenen Beine wusste er auszugleichen, indem er seine gehässige Zunge einsetzte, wobei er teilweise den Verstand wegließ. Zumindest sah Leas das so.
„Deinen Noten nach scheinst du den Unterricht auch zu verschlafen“, machte Herr Häubl auf boshaft. Für Leas Begriffe einem Lehrer gemäß höchst unautoritär. Aber die meisten Schüler fanden das komisch und brüllten lauthals los.
Lea sah sich zum Gespött aller an den Pranger gestellt und hätte ihn dafür erwürgen können. Stattdessen holte sie tief Luft, kniff die Lippen zusammen und beherrschte sich. Nachdem sie sich gesetzt hatte, nahm sie brav ihr Heft aus dem Schulbeutel und war bereit, den weiteren Anmerkungen des Klassenvorstandes aufmerksam zu folgen.
Das Gelächter legte sich und Herr Häubl setzte seinen Vortrag von Spanien fort. Um sich Minuten später mit ungeduldigem Blick auf Lea wieder zu unterbrechen und zu mahnen: „Ich finde, du hast den Unterricht nun genug gestört.“
Sie hatte in ihrem Beutel nach dem Füllhalter gekramt. Als sie ihn endlich gefunden hatte, war er ihr aus der Hand auf den Boden gefallen und irgendwohin gerollt. Sekunden unentschlossen, wie sie sich verhalten sollte, war sie dann unter das Pult gehuscht und dem Füllhalter nachgekrochen. Während ihres Herumrutschens auf den Knien bemerkte sie nicht, wie ein Mitschüler ihn verstohlen aufhob und hämisch grinsend in seinem Fach versteckte.
Lea hechtete sich unter sämtliche Bänke und untersuchte deren Ecken. Was zur Folge hatte, dass ein Schüler nach dem anderen die Füße hob und unter die Tische sah, sobald er Widerstand an seinen Beinen spürte.
Die Anmerkungen von Herrn Häubl über die spanische Landwirtschaft, versanken unter dem anschwellenden Tumult. Um sich Gehör zu verschaffen, erhöhte er sein Sprachdezibel, war aber bald an einem Lautstärkepegel angekommen, wo eine Steigerung nicht mehr möglich war, und er brüllte: „Ja, sind wir hier im Kindergarten!?“
Darauf war keiner gefasst gewesen. Auch Lea nicht. Erschrocken hielt sie mit ihrer Sucherei inne. Augenblicklich wurde es still in der Klasse. Sie steckte den Kopf unter dem Tisch hervor, in Richtung „Bonsai“, und erklärte für ihre Begriffe ziemlich beherrscht: „Ich such nur meinen Schreiber.“
Herr Häubl nickte mehrmals. Deutlich genervt. „Merkst du nicht, dass hier unterrichtet wird?“
Lea hielt den Atem an. Erst denken, dann reden, ging es ihr durch den Sinn, ganz nach einprogrammierten Mahnungen der Mutter. „Ohne Füllhalter kann ich nicht schreiben und ich hab nur den einen.“
Wie auf Kommando verschwanden einige Mitschüler unter den Tischen, um ihr bei der Suche zu helfen, was Herrn Häubl noch mehr erzürnte.
„Ich verlange auf der Stelle Disziplin und Ordnung in der Klasse!“
Das wirkte. Hurtig begab sich die Mehrheit auf ihre Plätze zurück. Nicht Lea, denn „Bonsai“ bestand darauf, mit Tinte ins Geografieheft zu schreiben. Ohne Füllhalter war es ihr unmöglich, die Stunde im Heft festzuhalten, und auf Nachsitzen hatte sie null Bock. Borniert kämpfte sie sich suchend auf allen vieren zur anderen Seite der Klasse.
Herr Häubl wurde rot im Gesicht. „Wagner!“, rief er, aufgebracht mit seinen Händen herumfuchtelnd. „Du begibst dich augenblicklich auf deinen Platz!“
Aber Lea kurvte gedanklich in anderen Bahnen. Es war ja seine eigene Schuld, wenn sie noch auf dem Boden herum kroch. Hätte er mitgesucht, wäre der Füllhalter bestimmt längst aufgetaucht. Einer plötzlichen Eingebung folgend griff sie sich mit verdrehten Augen an die Stirn und stöhnte: „Wär ich bloß im Bett geblieben!“ Kaum ausgesprochen, bereute sie ihre vorlaute Äußerung. Zu spät. Das heftige Gelächter der Mitschüler war voll im Gang. Herr Häubl bemühte sich um Fassung, indem er an seiner Brille zerrte. Lea wusste, sie war erneut zu weit gegangen und erhob sich, ohne den Schreiber gefunden zu haben. Um ihren guten Willen zum Ausdruck zu bringen, begab sie sich brav an ihren Platz. Mit der Hoffnung in sich, „Bonsai“ damit wieder milde stimmen zu können.
„Noch ein Wort und du landest beim Direktor!“
Hab ja gar nichts gesagt, begehrte sie inwendig auf.
Immerhin tat sie, was er von ihr verlangte, was wollte er noch? Äußerlich cool und innerlich tobend fragte sie sich, warum die Erwachsenen ständig provozierten, wenn sie dasselbe umgekehrt nicht vertrugen.
Herr Häubl konnte die Sachlage im Angesicht der Mitschüler nicht so ohne weiteres im Raum stehen lassen, ohne Gefahr zu laufen, sein autoritäres Gesicht zu verlieren. Deshalb verlangte er: „Wagner, so geht es nicht weiter. Ständig kommst du zu spät, bist frech und vorlaut, störst den Unterricht, kurz und gut, ich verlange deine Eltern zu sprechen.“
Oh je. Leas Lider senkten sich. Die Blicke der gesamten Klasse spürend, bemühte sie sich, Gelassenheit zu zeigen.
Coolheit pur vorspielend erwiderte sie: „Soll ich es ausrichten oder schreiben Sie es ins Mitteilungsheft?“
Herr Häubl nickte. Zuerst energisch, dann resignierend. Er nahm seine Brille ab und suchte Leas Blick. Die wich ihm aus, indem sie die Lider weiterhin gesenkt hielt. „Du hast es nicht anders gewollt.“ Für ihn war die Sache erledigt. Und um dem Nachdruck zu verleihen, setzte er seine Brille auf seine Nase und fuhr mit dem Unterricht fort.
Bei dem Gedanken, dass ihre Eltern von „Bonsai“ wieder einmal in die Schule vorgeladen wurden, war Lea zumute, als spüre sie die Peitschenschläge ihrer Moralpredigt bereits. Daran änderte auch ihre Banknachbarin nichts, die ihr bewundernd zuzischte: „Dem hast du es aber gegeben!“
Scheinbar triumphierend nickte sie, in Wirklichkeit richtete sie dieser Beifall nicht groß auf, denn sie fragte sich: Warum passieren mir immer Sachen, die ich nicht will?
Für „Bonsai“ war sie fortan Luft. Dafür umso weniger bei den Klassenkameraden in der Pause, die teils anerkennend, teils neidisch fragten: „Woher nimmst du nur den Mut? Tust du nur so cool oder bist du wirklich so?“
Einerseits schmeichelte Lea diese unvorhergesehene Aufmerksamkeit, andererseits ging sie ihr auf den Keks.
„Ich würd mich das nie trauen“, gab ihre Banknachbarin zu.
Worauf Lea eine verächtliche Miene aufsetzte. „Der ‚Bonsai’ kann mir mal mit dem Direktor und der ganzen Schule gestohlen bleiben.“
„Und wenn er dir dafür schlechte Noten ins Zeugnis schreibt?“
„Die muss er schließlich begründen können.“
„Wagner!“
Lea zuckte zusammen. Vor ihr stand der Direktor.
„Bitte folge mir.“
Nach der ersten Schrecksekunde gehorchte Lea hocherhobenen Hauptes, innerlich bewappnet mit
einer gehörigen Portion Trotz.
Im Konferenzzimmer saßen sie sich eine Weile stumm gegenüber, wobei der Direktor sie durchdringend musterte. Seine dunkle Brille ließ ihn strenger wirken, als er war. Das weiße, korrekt geschnittene Haar und der runde, gewölbte Bauch vermittelten Lea trotzdem keine Behaglichkeit.
„Ich denke, du bist dir klar darüber, dass du dich bei Herrn Häubl zu entschuldigen hast.“
Lea schnaubte, denn sie meinte, sich verhört zu haben.
Alles, was sie sich zuschulden kommen ließ, war, ihren Füllhalter zu suchen und ehrlich zu sein. Nichts also, was eine derartige Direktorensitzung ihrer Meinung nach gerechtfertigt hätte.
„Ich nehme an, ‚Bonsai’ … ich meine, Herr Häubl hat Ihnen seine Wahrheit erzählt.“
„Seine Wahrheit?“
Lea verstummte.
„Wenn du dich weiterhin in dieser Art daneben benimmst, ist es unumgänglich, deine Eltern zu informieren. Willst du das?“
Natürlich nicht.
Gleichzeitig sah Lea aber nicht ein, warum Lehrer für alles und jedes einen Freibrief bekamen und die Schüler immer die beknackten blieben dabei.
Und wie sie den Direktor einschätzte, war er ohne-
hin auf „Bonsai´s“ Seite, egal, was sie ihm erzählen würde.
„Hast du wirklich nichts zu sagen?“
Trotzig kniff Lea die Lippen aufeinander.
Der Direktor und „Bonsai“ konnten ihr den Buckel runterrutschen. Auf eine Entschuldigung durften sie lange warten! Da ihre aufeinandergepressten Lippen sich auch nach einigen Minuten nicht öffneten, meinte der Direktor: „Ich hab dich für klüger gehalten.“
Lea erhob sich. „Kann ich jetzt gehen?“ Er nickte. „Es ist wohl alles gesagt.“ Flugs war sie an der Tür. Froh, der dicken Luft hier drin entkommen zu können.
Als sie hörte: „Wenn du meine Tochter wärst, wüsste ich, was ich täte“, erwiderte sie: „Ich bin aber nicht Ihre Tochter.“
Wieder einmal vorschnell. Shit! Während sie den „Gerichtssaal“ verließ, in dem sie ihrem Gefühl nach kurz davor gewesen war, zum „Tode“ verurteilt zu werden, läutete die Schulglocke das Ende der Pause ein. Die zweite Geografiestunde mit „Bonsai“ stand an. Deutlich genug hatte der sie merken lassen, dass sie für ihn nicht mehr existierte. Zudem hatte sie ihren Füllhalter nicht gefunden. Warum also in die Klasse zurückgehen? Auch verspürte sie keine Lust, die neugierigen Fragen ihrer Mitschüler zu beantworten, die mit aller Wahrscheinlichkeit wissen wollten, was der Direktor mit ihr zu reden hatte. Sie schlug den Weg zur Garderobe ein; vertauschte ihre Hausschuhe mit den Straßenschuhen, zog hastig ihre Jeansjacke über und verließ im Eiltempo die Schule. Wobei ihr zum Glück niemand begegnete, der peinliche Fragen stellte. Erst auf der Straße wurde ihr klar, wohin sie sich mit ihrem unüberlegten Handeln manövriert hatte. Und wer war schuld? In ihr brodelte es. Eine steigenden Wut auf „Bonsai“ und den Direktor, die sie in diese Lage gebracht hatten, kam in ihr auf. Das mulmige Gefühl, das sie empfand, sobald sie an die Eltern dachte, die ihr Verhalten schwer, wenn überhaupt verstünden, gelang ihr ebenfalls nicht zu unterdrücken. Denn: Dass „Bonsai“ ihnen alles brühwarm mitteilen würde, war so sicher, wie sie jetzt auf der Straße stand. In diesen Dingen war er äußerst zuverlässig. Leider.
Lea sah nach links und rechts und überlegte: wohin um diese Zeit? Es war früher Vormittag und lausekalt. Nach Hause mochte sie auf keinen Fall, denn sie hatte null Ahnung, was sie der Mutter erzählen sollte und lügen wollte sie nicht.
Die Kälte kroch durch ihre Kleidung, weswegen sie sich in Bewegung setzte – nach irgendwohin. Fröstelnd zog sie die Schultern hoch und steckte die Hände in die Jackentaschen. Ein frostiger Schauder fuhr ihr über den Rücken. Irgendwann blieb sie mitten im Verkehrsgewühl vor einem Café stehen. Sie befühlte ihre Kleidertaschen genauer, ob etwa vergessene Euros für eine Tasse Kakao zum Vorschein kämen. Nachdem sie diese nach außen gestülpt hatte und nur Textilienstaub herausgebröselt war, blieb ihr wohl nur die Bank am Spielplatz als Zielort. Oder – um sich aufzuwärmen - das Jugendzentrum. Im Begriff diese Richtung zu nehmen, wurde sie unvermittelt von hinten angerufen: „Lea, bist du das? Was machst du denn hier, um diese Zeit?“
Lea erkannte die Stimme, fühlte sich ertappt und zuckte zusammen. Sie blieb stehen, als wäre sie gegen eine unsichtbare Wand gelaufen.
In zügigem Tempo radelte Frau Wagner heran. Neben Lea angekommen bremste sie ab, wodurch die auf der Lenkstange hängenden Einkaufstaschen hin und her pendelten. Sie hüpfte vom Rad und milderte ihr Tempo mit bremsenden Schritten ab. „Wieso bist du nicht in der Schule?“
Lea dachte an den Direktor und seine Moralpredigt.
„Mir war nicht gut.“ Halbe Wahrheiten zählten nicht als Lüge, oder?
Die Mutter betrachtete sie prüfend. „Du wirst doch nicht krank werden?“
Lea sagte nichts.
„Wo ist deine Schultasche?“
Da wurde ihr bewusst: „Hab ich in der Klasse vergessen.“
Das ferne Knattern eines Mopeds näherte sich. Instinktiv wandte Lea sich um. Sogleich lief eine tausend Volt Stromdosis durch ihren Körper. Fabio! Scheinbar ohne sie zu bemerken, fuhr er in rasantem Tempo an ihr und der Mutter vorbei. Mit dabei ein Mädchen auf dem Rücksitz, das ihre Arme um seine Hüften geschlungen hielt. Nicht zu erkennen, wer es war, da der Sturzhelm ihr Gesicht verdeckte und nur ihre langen blonden Haare im Fahrtwind sichtbar wirbelten. Entgeistert sah Lea ihnen noch nach, als sie hinter der Kurve längst verschwunden waren. Ihr fiel schwer, den plötzlichen Buchstabensalat in ihrem Kopf zu ordnen. Fabio um diese Zeit außerhalb der Firma? Mit einem Mädchen am Rücksitz?
Die verärgerte Stimme der Mutter wurde laut: „Sie fahren wie die Wilden, und wenn was passiert wundern sie sich!“
Lea wurde übel. „Lass uns heimgehen“, murmelte sie, nicht mehr in der Lage in normalen Bahnen denken zu können. Es schwirrte ihr der Kopf. Am liebsten wäre sie Fabio hinterhergelaufen. Zu gern hätte sie gewusst, wer das Mädchen auf dem Rücksitz war, warum er nicht mehr zum Spielplatz kam und warum er sie vergessen hatte. Aber er würde den Grund ihrer Fragen wissen wollen. Was die Überwindung verlänge, ihre Gefühle für ihn zu outen. Doch wenn sie etwas besaß, dann Stolz, und niemand brächte es je zustande, ihr den zu nehmen. Schon gar nicht Fabio.
Lea war froh, dass die Mutter keine Fragen mehr stellte. Sie hätte ohnehin nicht antworten können, so sehr schnürte ihr die Sprachlosigkeit über das eben Erlebte die Kehle zu. Bei alledem war sie aber froh, Fabio endlich wieder gesehen zu haben. Wenn auch nur kurz und mit diesem Mädchen. Eines stand für sie fest: Abends würde sie am Spielplatz sein. Vielleicht er ja auch?