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2. Kapitel NICHT JEDER WUNSCH KANN SICH ERFÜLLEN

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Im Vorraum des Stalls bleibt Ole stehen und sagt: „Zieh den Overall, die Stiefel und diese Handschuhe an, wegen der Keime, verstehst du? Außerdem würdest du ohne Schutzkleidung anfangen schrecklich zu stinken.” Ole nimmt einen Overall vom Haken an der Wand. Er reicht mir auch Gummihandschuhe, die über den Gummistiefeln direkt neben der Eingangstür zum Schweinestall liegen und bekleidet sich ebenfalls.

Ich pruste laut los, hopse vor Lachen um Ole herum. Wir sehen aus wie die Spusi in dem Krimi, den ich gestern heimlich in der Nacht gesehen hatte. Meine Mutter und meine Schwestern schliefen fest und tief und mein Vater war zu einem Vorstellungsgespräch in Bayern. So ist er für uns ein paar Tage lang nicht wirklich greifbar …

Ole hebt den Arm. Wir stapfen noch einmal kräftig auf der Desinfektionsmatte herum, die vor der Eingangstür des Schweinestalls liegt. Vorsichtig öffnet Ole die Tür, und plötzlich fangen die Schweine gewaltig an zu grunzen, zu schmatzen und zu quieken. Das ist ein so höllischer Lärm, lauter als in einem Popkonzert, wenn die Mädchen anfangen zu schreien und zu kreischen. Ich bleibe stehen, halte mir die Ohren zu, doch das Gequieke dringt durch die Hände hindurch und vernebelt mir den Verstand.

Ole aber stiefelt voran. Er grüßt die Schweine gelassen zurück, bis er sie endlich beruhigt hat und sie nur noch ein bisschen schmatzen und grunzen. Ich nehme die Hände von den Ohren und folge ihm wieder dicht auf den Fersen.

Vor einer Schweinebucht bleibt Ole stehen und sagt völlig rot im Gesicht: „Siehst du die kleinen rosa Ferkelchen da? Das sind genau zwölf Stück. Die hat unsere Melanie vorgestern geworfen. Sind die nicht süß?” Ole glüht vor Begeisterung und zieht mich am Ärmel.

Neugierig trete ich zur nächsten Bucht, über der eine große Rotlichtlampe hängt, welche die Ferkel und ihre Mutter wärmen, klärt mich Ole auf. Alle liegen auf frischem Stroh und die Ferkel trinken von den Zitzen der Muttersau schmatzend ihre Milch.

„Haben alle deine Schweine einen Namen?”, frage ich, denn Melanie nennt man kein Schwein, saust es mir immerfort durch den Kopf … „Melanie heißt doch unsere Klassenbeste in der Schule.”

„Ja”, sagt Ole, als sei es das Allernormalste auf der Welt, dass ein Schwein den Namen unserer Klassenbesten trägt.

Ich schaue Ole empört an.

„Alle Schweine bekommen von mir einen Namen”, sagt Ole und zuckt mit den Schultern, was so viel heißt wie: Mir doch wurscht, wenn auch unsere Streberin dabei ist.

Ich trete zur nächsten Bucht. Neugierig beäugen uns mehrere Schweine. Ich zeige auf ein besonders dickes Schwein mit kleinen Stoßzähnen, das vergnügt mit seinem Ringelschwanz wedelt und frage: „Und wie heißt das da?”

„Das ist ein Eber, der Vater von den Ferkelchen, und der heißt bei mir Kalle”, sagt Ole jetzt so rot wie das Schwein.

„Kalle? Wie unser Kalle, der mit dem Irokesenschnitt?”

„Ja, Kalle ist doch mächtig verknallt in Melanie”, antwortet Ole mit Schweißperlen auf der Nase und Stirn.

„Wie viele Schweine habt ihr eigentlich?”, frage ich und wechsle ständig von einem Bein auf das andere.

„Sieben. In einer Schweinemastanlage sind manchmal weit über hundert oder über tausend. Siehst du, dort draußen dürfen unsere Schweine sogar im Schlamm wühlen, also sich suhlen, wenn sie das wollen. – Das können die Schweine in vielen Mästereien nämlich nicht, sagt mein Vater. – Wir wollen ja nur ein bisschen Geld nebenbei verdienen. Für eine Solaranlage, verstehst du?”, und Ole schaufelt weichgekocht zerstampfte Kartoffeln in den Futtertrog der Bucht.

Ich habe verstanden, schaue den aufgeregt grunzenden und mit ihrem Rüssel im Kartoffelmatsch wühlenden und fressenden Schweinen unruhig zu und frage Ole so leise, dass ich meine Frage selbst kaum hören kann: „Heißt eines deiner Schweine hier vielleicht auch so wie ich, also Karl oder Hartzer oder gar Hieferle?”

Ole schabt erschrocken mit seinen Stiefelspitzen auf dem blankgescheuerten Betonfußboden herum. Nach einer langen Pause sieht er mich entsetzt an: „Du bist doch mein Freund! Ich würde nie ein Schwein nach dir benennen.”

„Na, dann ist ja gut”, beruhige ich Ole und lege eine Hand auf seine Schulter.

Zwischen Ole und mir ist es still geworden. Nur die Schweine sind noch zu hören. Wir schauen ihnen beim Fressen zu, streicheln hin und wieder ihre borstigen Rücken, was sie uns mit einem mächtigen Grunzen danken.

„Na, wie findest du meine Schweine?”, fragt Ole plötzlich, um das Schweigen zu beenden.

„Soll ich ehrlich sein?”

„Ja, sag schon.”

„Ich finde sie zwar höllisch laut aber ansonsten nett, wenn sie nicht so stinken täten. – Ach, weißt du, Pferde sind eigentlich meine Lieblingstiere. Habt ihr auch Pferde?”

„Na, ihr Schweinemeister, wie steht es mit eurem Hunger?”, lacht hinter uns unerwartet eine freundliche Frauenstimme.

„Mutti, wo kommst du denn her, und warum hast du gar keinen Overall an, sondern nur Stiefel?! Sollen die Schweine krank werden?!”, schreit Ole empört und wäre vor Schreck bald umgefallen.

„Ich geh ja gleich wieder. Kommt ihr mit? Es gibt leckere Schweineschnitzel mit Mischgemüse und Kartoffeln aus dem eigenem Garten und anschließend Himbeereis mit einem kräftigen Klacks Schlagsahne darauf. Das magst du doch auch alles, Karl, oder?”

Ich kann gar nicht anders, ich muss nicken. Der Kopf fällt mir sozusagen von selbst nach vorn. Oles Mutter, die dicht vor mir steht, hält mich zwischen ihren von der Gartenarbeit kräftigen Händen bei den Schultern und blickt auf mich herab wie ein grinsendes Pferd. Ich muss plötzlich so heftig lachen, dass Oles Mutter ebenfalls zu lachen beginnt, und ihre großen schneeweißen Zähne blitzen wie auf einer Werbung für Zahnpasta. Ich schaue Oles Mutter an, und in mir wächst wie aus heiterem Himmel ein Wunsch zu einem wunderschönen Traum und wird stark und immer stärker ...

Ich sattle im Traum mein Pferd; ich tätschle ihm den Hals, springe auf und reite los wie im Western. Oder wie ein Jockey, stromlinienförmig und ganz verschmolzen mit dem Pferd pfeilschnell fliegen …


Gewicht und Größe habe ich, um mit Old Shatterhand oder Winnetou durch die Weite der Prärie galoppieren zu können oder wenigstens wie unsere Urlauber am Strand auf einem Pony reiten, das möchte ich jetzt …, aber ihr wisst ja, dass ich Hartzer bin, und die besitzen sicher nur in Ausnahmefällen ein Pferd oder können sich keine teuren Reitstunden leisten …

Ich schäme mich jetzt wieder einmal ein bisschen meiner Wünsche wegen, da ich von meinen Eltern weiß, dass ich Maß halten soll und muss, denn zwischen Traum und Wirklichkeit sei ein gewaltiger Unterschied. Nicht alles geht, was man möchte, also sich wünscht. Das sagte mein Vater mal beim Abendbrot auch zu meiner Mutter, als meine Mutter wenigstens einmal im Jahr ins Kino, Museum oder Theater gehen wollte. Meine Mutter will nicht vorm Fernseher versauern. – Solange wir von Hartz IV leben, geht das nicht, brüllte mein Vater damals meine Mutter an. Wir alle müssten den Gürtel ein paar Löcher enger schnallen. Welchen Gürtel, fragte ich mich. Mein Vater und meine Mutter tragen doch gar keine Gürtel … Ich lasse es jetzt erst einmal mit dem Träumen, blicke zu Oles Mutter auf und habe das Gefühl, dass sie mich versteht. Auf einmal knurrt mir lautstark der Magen.

„Du bist doch Karl, Oles Freund? Ole hat mir schon viel von dir erzählt. Du hast Hunger und schaust so blass wie ein Gespenst aus.”

„Mutti, schon gut!”, unterbricht Ole seine Mutter, die vor Mitleid wegen meiner sehr hageren Erscheinung und des knurrenden Hundes in meinem Magen fast in Tränen ausbricht.

Ich schaue auf den Fußboden, trete von einem Bein auf das andere und sage: „Danke, Schnitzel hatte ich zwar erst gestern, aber heute könnte so ein Schnitzel auch nicht schaden und das Himbeereis obenauf im Magen erst recht nicht, Frau Auerhahn”, und ich mache eine kleine Verbeugung.

Mutti hatte mir geraten, es zu tun, wenn ich ein Geschenk bekomme oder mir Worte gefielen. Das würde Respekt ausdrücken, meinte meine Mutter. Mein Vater hingegen nannte eine Verbeugung daraufhin grimmig: Dienern oder Eindruck schinden bei den Leuten, nennt man das!

Da ich jetzt aber ungern auf ein leckeres Schnitzel verzichten will, verbeuge ich mich heute sogar ein bisschen tiefer, denn seit vierzehn Tagen (oder war es schon länger her?), habe ich kein Fleisch mehr gegessen.

Ole bricht in ein schallendes Gelächter aus, sodass die Schweine wieder laut anfangen zu quieken und zu grunzen.

Seine Mutter aber legt ihren Arm behutsam um meinen Nacken und spricht über das Lachen von Ole und das Quieken der Schweine hinweg: „Komm, Karl. Mein Ole ist ein Kindskopf. Nur Dummköpfe lachen über die Notlage der anderen. Du kannst öfter zu uns kommen? Unser Keller ist voll mit Schinken, Speck und eingemachter Blut- und Leberwurst. Es ist vom Hausschlachten im vergangenen Jahr viel zu viel noch da. Ole, meinem Mann und mir quellen die Würste, Schinken und das Fleisch schon aus den Ohren. Du merkst, wir brauchen Verstärkung.”

Ich schaue zu Ole, der mich pausbäckig angrinst, besehe mir noch einmal seine fleischigen Hände und dann die meinigen und sage: „Wenn ‘s sein muss, da kann ich helfen”, und folge Ole und seiner Mutter ins Haus.

Ich bin Karl

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