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TEIL EINS
KAPITEL DREI

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Sechs Monde später

Rea lag neben ihrer kleinen prasselnden Feuerstelle auf einem mit Fellen bedeckten Lager. Sie war ganz und gar allein, und sie stöhnte und schrie vor Schmerzen, denn die Geburtswehen hatten eingesetzt. Draußen blies der Winterwind und ein unerbittlicher Sturm schlug die Fensterläden gegen die Wände ihrer Hütte, Schneewehen brachen immer wieder hinein. Der wütende Sturm entsprach ihrer eigenen Stimmung.

Reas Gesicht glänzte vom Schweiß, während sie neben dem kleinen Feuer saß. Trotz der sich auftürmenden Flammen und des tretenden und sich windenden Drängens des Kindes in ihrem Leib wurde ihr nicht warm. Sie war nass und fror, sie zitterte am ganzen Körper und sie war sich sicher, dass sie in dieser Nacht sterben würde. Eine neue Wehe fuhr durch ihren Körper und der Schmerz war so groß, dass sie sich wünschte der Ritter hätte sie in jener Nacht einfach getötet; das wäre der größere Gnadenakt gewesen. Diese sie dahinraffende Folter, diese Nacht voller Qualen war tausendfach schlimmer als alles andere, was man ihr jemals hätte antun können.

Über ihre Schreie und die Windböen erscholl plötzlich ein anderer Laut – vielleicht das einzige Geräusch, dass ihr jetzt noch einen Schauer über den Rücken schicken konnte.

Es war das Geräusch des Mobs. Ein verärgerter Pulk Dorfbewohner, der kamen, um ihr Kind zu töten, da war sie sich sicher.

Rea nahm all ihre Kraft zusammen, Kraft von der sie nicht einmal wusste, dass sie sie noch besaß, und setzte sich zitternd auf. Keuchend und schreiend landete sie auf wackligen Knien. Sie griff nach dem hölzernen Griff in der Wand und kam mit letzter Kraft und einem Schrei zum stehen.

Sie wusste nicht, ob die Schmerzen im liegen oder stehen größer waren. Aber sie hatte keine Zeit darüber nachzusinnen. Der Mob wurde lauter, kam näher und sie wusste, dass er bald hier sein würde. Sie musste dieses Kind in Sicherheit bringen, was auch immer es kostete. Es war merkwürdig, doch erschien ihr das Leben des Ungeborenen wichtiger als das eigene.

Rea gelang es, zur Tür zu stolpern, sie lehnte sich gegen sie und stützte sich dabei am Türknopf ab. Dort stand sie, atmete mehrere Sekunden schwer ein und aus, verschnaufte und sammelte Kraft. Schließlich drehte sie den Türknopf herum. Sie griff nach einer Heugabel, die an der Wand lehnte, stützte sich auf sie und öffnete die Tür.

Rea schlug ein plötzliches Schneegestöber entgegen, das so kalt war, dass ihr der Atem stockte. Der Wind trug die lauter werdenden Schreie zu ihr hinüber, und ihr sank der Mut, als sie in der Ferne die Fackeln erblickte, die sich ihren Weg wie in Aufruhr geratene Leuchtkäfer zu ihr bahnten. Sie blickte in den Himmel und erhaschte einen Blick auf den riesigen Blutmond zwischen den Wolken, der den Himmel erfüllte. Sie hielt den Atem an. Das war nicht möglich. Sie hatte noch nie einen roten Mond gesehen und erst recht nicht während eines Sturms. Sie spürte einen scharfen Tritt in ihrem Bauch und plötzlich wurde ihr klar, dass dieser Mond zweifelsohne ein Zeichen war. Es war ein Zeichen für die Geburt ihres Kindes.

Wer ist er, fragte sie sich.

Rea umfasste ihren Bauch mit beiden Händen und spürte das Drängen und Winden einer anderen Person in ihr. Sie konnte seine Macht spüren, seinen Willen ans Licht zu brechen, als wäre er selbst gewillt, diesen Mob zu bekämpfen.

Dann kamen sie. Die entzündeten Fackeln erleuchteten die Nacht als der Mob aus den Gassen brach und sich vor ihr aufbaute. Wenn sie ihr altes Selbst gewesen wäre, stark und unnachgiebig, dann hätte sie ihnen die Stirn geboten. Doch sie konnte kaum laufen – kaum stehen – und sie konnte ihnen so nicht gegenübertreten. Nicht so kurz vor der Geburt.

Auch wenn Rea eine tiefe Wut verspürte, war da auch eine tiefe Stärke, eine Stärke, die von ihrem Baby kam, das wusste sie. Adrenalin schoss durch ihren Körper und die Wehen ließen augenblicklich nach. Für einen kurzen Moment war sie wieder sie selbst.

Der erste der Dorfbewohner, ein kleiner dicker Mann, kam mit einer Sichel in der Hand auf sie zu gerannt. Als er sich näherte, griff Rea nach hinten und umfasste die Heugabel mit beiden Händen. Sie trat einen Schritt zur Seite und stieß einen Urschrei aus, als sie sie ihm in den Magen stieß.

Der Mann erstarrte und sank in sich zusammen. Auch der Mob hielt inne und blickte sie erschrocken und verwundert an.

Rea vergeudete keine Sekunde. Mit einer schnellen Bewegung zog sie die Heugabel aus dem leblosen Körper, schwang sie über ihren Kopf und rammte sie dem nächsten Dorfbewohner ins Gesicht, als dieser versuchte, mit einem Stock auf sie loszugehen. Auch er taumelte und landete vor ihren Füßen im Schnee. Rea durchzuckte ein furchtbarer Schmerz in ihrer Seite, als ein anderer Mann nach vorn stürmte, sich auf sie stürzte und sie im Schnee zu Fall brachte. Sie schlidderten einen Meter über den Boden. Rea keuchte vor Schmerzen als sie die Tritte des Kindes in sich spürte. Sie rang mit dem Mann im Schnee. Es ging um ihr Leben und als sich sein Griff für einen Moment lockerte, vergrub Rea verzweifelt ihre Zähne in seiner Wange. Er schrie, als sie ihre Zähne tiefer in ihn versenkte. Sie sog das Blut ein, sie schmeckte es, sie würde nicht von ihm ablassen, denn das Baby in ihr gab ihr Kraft.

Schließlich ließ er von ihr ab, griff sich an die Wange und Rea sah ihre Gelegenheit gekommen. Sie kam rutschend zum Stehen und war bereit davonzulaufen. Sie hatte es fast geschafft, als sie plötzlich jemand von hinten beim Schopfe griff. Derjenige riss ihr beinahe das Haar vom Kopf als er sie zurück auf den Boden zerrte und sie davon schliff. Sie blickte nach oben und sah Severn, der finster zu ihr herabblickte.

„Du hättest auf uns hören sollen, als du die Chance hattest“, zischte er. „Jetzt werden wir dich zusammen mit deinem Baby töten.“

Rea hörte bereits die jubelnde Menge und sie wusste, dass es vorbei war. Sie schloss ihre Augen und betete. Sie war nie eine religiöse Person gewesen, doch in diesem Moment fand sie Gott.

Ich bete mit jeder Faser meines Körpers, dass dieses Kind gerettet wird. Nimm mich. Nur rette dieses Kind!

Als würden ihre Gebete erhört, spürte sie plötzlich wie das Zerren an ihren Haaren nachließ und gleichzeitig ertönte ein dumpfer Schlag. Sie blickte erschrocken auf und fragte sich, was passiert war.

Sie erkannte überrascht, wer ihr zur Hilfe geeilt war. Es war ein Junge – Nick – einige Jahre jünger als sie. Der Sohn eines Bauers, so wie sie. Er war nie besonders klug gewesen und die Anderen hatten immer auf ihm herumgehackt, doch sie war immer freundlich zu ihm gewesen. Vielleicht erinnerte er sich daran.

Sie sah, wie Nick einen Stock hob, und Severn damit seitlich gegen den Kopf schlug. Der ließ von ihr ab.

Nick trat der Menge entgegen, den Stock in Bereitschaft stellte er sich schützend vor sie.

„Geh schnell!“ rief er ihr zu. „Bevor sie dich umbringen!“

Rea blickte ihn voller Dankbarkeit und Schrecken an. Dieser Mob würde ihm dafür jeden Knochen brechen.

Sie sprang auf ihre Füße und begann zu rennen. Sie rutschte aus, doch sie war entschlossen, so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Meute zu bringen. Sie floh in eine der Gassen, doch bevor sie darin verschwand, blickte sie sich noch einmal nach Nick um, der wie wild mit den Dorfbewohnern kämpfte und einige von ihnen bereits niedergeknüppelt hatte. Doch einige der Männer preschten nach vorne und rangen ihn zu Boden. Nachdem sie ihn aus dem Weg geräumt hatten, folgten sie ihr.

Rea rannte. Nach Atem ringend, wand sie sich durch die Gässchen auf der Suche nach einem Unterschlupf. Von schrecklichem Schmerz heimgesucht, wusste sie nicht, wie lange sie noch durchhalten würde.

Sie erreichte schließlich das eigentliche Dorf mit seinen eleganten Steinhäusern und sie blickte sich ängstlich um. Sie kamen näher und waren keine sechs Meter mehr von ihr entfernt. Sie keuchte, stolperte mehr als sie rannte. Sie wusste, dass sie bald an ihre Grenze kommen würde. Eine neue Wehe nahte.

Plötzlich vernahm sie ein scharfes Krächzen und Rea sah wie sich eine alte Eichentür vor ihr auftat. Sie erschrak als sie Fioth erblickte, den alten Apotheker, der mit weit aufgerissenen Augen aus seiner kleinen Steinfestung lugte und sie zu sich hineinwinkte. Fioth streckte seine Hand nach ihr aus und griff sie mit einem für sein Alter überraschend festen Griff und schon stolperte Rea über die Schwelle in das prächtige Innere seiner Bleibe.

Er schlug die Tür zu und verriegelte sie hinter ihr.

Einen Moment später trommelten Hände und Sicheln dutzender wütender Dörfler gegen die Tür. Doch sie hielt zu Reas Erleichterung den Angriffen stand. Sie war fast einen halben Meter dick und hatte wohl einige Jahrhunderte mehr auf dem Buckel als Rea. Ihre schweren Eisenbolzen krümmten sich keinen Deut.

Rea atmete tief durch. Ihr Baby war in Sicherheit.

Fioth drehte sich zu ihr und sah sie eingehend an. In seinem Gesicht stand Mitgefühl, und die Sanftheit seiner Züge beruhigten sie. Niemand in diesem Dorf hatte sie in den letzten Monaten so liebevoll angesehen.

Er nahm ihr die Felle ab als sie erneut eine Wehe überkam. Es war ruhig hier drinnen, denn das Schneegestöber, das über das Dach fegte, dämpfte allen von außen kommenden Lärm, und es war wohlig warm.

Fioth führte sie zur Feuerstelle und legte sie auf eine Ansammlung Pelze. Erst jetzt verstand sie, was passiert war: das Davonrennen, der Kampf, der Schmerz. Auch wenn eine Tausendschaft diese Tür niederreißen würde, sie wäre nicht mehr im Stande sich zu rühren.

Sie schrie als eine spitze Wehe sie zerriss.

„Ich kann nicht mehr rennen“, keuchte Rea und begann zu weinen. „Ich kann einfach nicht mehr.“

Er tupfte ihr mit einem kühl-feuchten Lappen über die Stirn.

„Das wirst du auch nicht müssen“, sagte er mit beruhigender Stimme als wäre er Zeuge der Geschehnisse gewesen. „Ich bin jetzt hier.“

Sie schrie und stöhnte als ein neuer Schmerz sie durchfuhr. Es fühlte sich an, als würde sie entzweigerissen.

„Lehn dich zurück!“ ordnete er an.

Sie sagte wie ihr gesagt – und eine Sekunde später spürte sie den enormen Druck zwischen ihren Beinen.

Dann folgte ein Geräusch, das sie erschreckte.

Ein Wimmern.

Der Schrei eines Babys.

Ihr wurde vor Schmerz fast Schwarz vor Augen.

Sie beobachtete die geschulten Griffe des Apothekers während sie zwischen Wachsein und Bewusstseinsverlust pendelte. Er zog das Kind aus ihr und griff nach etwas Scharfem, um die Nabelschnur zu durchtrennen. Sie beobachtete wie er das Baby mit einem Tuch abrieb, Lunge, Nase und Hals öffnete.

Das Wimmern und Schreien wurde lauter.

Rea brach in Tränen aus. Dieses Schreien brachte ihr so viel Erleichterung, drang in ihr Herz und trug sogar über das Hämmern der Dorfbewohner hinweg. Ein Kind.

Ihr Kind.

Er war am Leben. Gegen alle Widrigkeiten hatte er das Licht der Welt erblickt.

Rea nahm kaum noch wahr, wie der Apotheker ihn in eine Decke wickelte. Doch dann spürte sie seine Wärme als er ihr ihn in den Arm legte. Sie spürte sein Gewicht auf ihrer Brust und sie drückte ihn an sich während er schrie und weinte. Sie hatte noch nie solche Freude gespürt, Tränen quollen ihr aus den Augen und rannen ihr das Gesicht hinab.

Plötzlich ein neues Geräusch: das Getrappel von Pferden. Das Klirren von Rüstungen. Dann Schreie. Der blutlechzende Mob verstummte – jetzt waren sie es, auf die man es abgesehen hatte.

Rea lauschte, verblüfft versuchte sie zu verstehen. Dann spürte sie eine Welle der Erleichterung. Natürlich. Der Adlige war zurück, um sie zu retten. Um sein Kind zu retten.

„Gott sei dank“, sagte sie. „Die Ritter kommen zu meiner Rettung.“

Rea spürte Zuversicht in sich aufkeimen. Vielleicht würde er sie schützen können. Vielleicht würde sie ein neues Leben beginnen können. Ihr Junge würde in einem Schloss aufwachsen, ein ehrbarer Herr werden und vielleicht würde sie das auch. Ihr Kind würde ein gutes Leben haben. Sie würde ein gutes Leben haben.

Rea überkam eine Flut der Erleichterung und Tränen strömten ihr über die Wangen.

„Nein“, korrigierte sie der Apotheker mit schwerer Stimme. „Sie kommen nicht, um dein Kind zu retten.“

Sie blickte ihn verwirrt an. „Warum sonst würden sie kommen?“

Er blickte sie grimmig an.

„Um es zu töten.“

Sie starrte ihn angewidert an, ein kalter Schauer des Schreckens überkam sie.

„Sie vertrauen nicht darauf, dass die Dorfbevölkerung imstande ist, es zu Ende zu bringen“, fügte er hinzu. „Sie wollten sicherstellen, dass es richtig getan wird und mit ihren eigenen Händen.“

Es war als würde ihr Eis durch die Adern schießen.

„Aber…“ stammelte sie und versuchte zu verstehen, „… mein Kind gehört dem Ritter. Ihrem Befehlshaber. Warum? Warum würden sie es töten wollen?“

Fioth schüttelte finster dreinschauend den Kopf.

„Diese Männer dort draußen gehören nicht zu ihm. Sie sind seine Rivalen. Sie wollen den Tod des Kindes. Sie wollen deinen Tod.“

Sie sah die Dringlichkeit in seinem Blick und erkannte mit Grauen, dass er die Wahrheit sprach.

„Ihr müsst beide von hier fliehen!“ drängte er. „Jetzt!“

Er hatte seine Worte kaum ausgesprochen, da erscholl das dumpfe Geräusch einer Eisenstange, die gegen die Tür gerammt wurde. Dieses Mal waren es nicht die harmlosen Sicheln der Bauern, sondern ein zu diesen Zwecken gebauter Rammbock der Ritter. Als er gegen die Tür donnerte, bebte sie.

Fioth drehte sich zu ihr mit vor Panik geweiteten Augen.

„GEH!“ rief er.

Rea blickte mit Panik im Blick zu ihm zurück und fragte sich, ob sie in ihrem Zustand überhaupt stehen konnte.

Er griff jedoch nach ihr und stellte sie auf ihre Füße. Sie schrie vor Schmerzen, jede Bewegung war die reinste Qual.

„Bitte!“ rief sie. „Es tut so weh! Lass mich sterben!“

„Sieh an, was in deinen Armen lieg!“ erwiderte er. „Willst du, dass er stirbt?“

Rea blickte zu dem weinenden Kind in ihren Armen und als ein neuer Stoß die Tür erschütterte, wusste sie, dass er Recht hatte. Sie konnte ihn hier nicht sterben lassen.

„Was ist mit Ihnen?“ stöhnte sie. „Sie werden Sie auch töten.“

Er nickte resigniert.

„Ich habe viele Sonnenzyklen gelebt“, antwortete er. „Wenn ich so ein wenig Zeit für dich gewinnen kann, sodass du einen sicheren Ort finden kannst, werde ich gerne das geben, was mir von meinem Leben noch bleibt. Geh jetzt! Lauf in Richtung des Flusses. Nimm eines der Boote und flieh von hier! Schnell!“

Er zerrte sie hinaus noch bevor sie die Chance hatte darüber nachzudenken. Er führte sie zu einem Seiteneingang seiner Festung und enthüllte eine hinter der Wandverkleidung verborgen liegende Tür, die in den Stein gehauen worden war. Er lehnte sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen und sie öffnete sich mit einem Krächzen. Muffige und kalte Luft schlug ihnen entgegen.

Kaum hatte er sie geöffnet, da stieß er sie und das Baby auch schon hinaus.

Rea befand sich nun wieder mitten im Schneegestöber. Sie stolperte ihr Kind fest an sich gedrückt das steile, schneebedeckte Ufer entlang. Sie schlitterte und rutschte, glaubte die Welt würde jeden Augenblick unter ihr zusammenbrechen und war kaum im Stande, sich zu bewegen. Als sie so voranstolperte, schlug in einem nahegelegenen Baum der Blitz ein. Flammen loderten auf.

Rea fiel zu Boden, und als sie sich zusammenrollte, um so ihr Kind vor dem harten Aufprall schützen zu können, spürte sie, wie sich die Kette, die der Ritter ihr für das Kind gegeben hatte, von ihrem Hals löste und in die Flamen fiel. Rea griff nach einem Zweig, um sie aus den Flammen zu retten. Der Zweig fing Feuer und doch gelang es ihr, die Kette aus den Flammen zu ziehen. Einen Moment lang baumelte sie an dem Stöckchen in der Luft. Mit Grauen musste sie mitansehen, wie der Arm ihres Kindes sich nach der Kette ausstreckte.

Das Baby schrie auf, und Rea warf die Kette zur Seite ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, wer sie ihr gegeben hatte. Ensetzt erblickte sie den makellosen Umriss des Anhängers auf dem Arm des Kindes. All das erschien ihr ein weiteres Vorzeichen zu sein.

Rea stolperte ein weiteres Mal und rutschte den Abhang hinab. Dieses Mal landete sie auf ihrem Hintern. Sie flog ein Stück und schrie als der Abhang sie geradewegs zum Ufer hinab beförderte.

Sie atmete erleichtert auf, denn sie erkannte, dass es ihr ohne die Rutschpartie wohl nicht gelungen wäre, den ganzen Weg hinabzulaufen. Sie blickte ehrfürchtig den Hang hinauf, erschrocken über den weiten Weg, den sie bereits zurückgelegt hatte und musste entsetzt feststellen, dass die Ritter Fioths Festung in Brand gesteckt hatten. Die Flammen schlugen trotz des Schnees bereits hoch und eine furchtbare Welle der Schuld überkam sie bei dem Gedanken, dass der alte Mann sein Leben für sie gelassen hatte.

Einen Moment später strömten Ritter durch die Hintertür und Pferde galoppierten um die Festung herum auf sie zu. Sie sah, dass sie entdeckt worden war und sie auf sie zustürmten ohne auch nur eine Sekunde Luft zu holen.

Rea drehte sich herum und versuchte davonzulaufen, doch es ging nicht weiter. Ihr Zustand machte das Davonrennen außerdem sowieso unmöglich. Das einzige was sie tun konnte, war es, am Ufer auf ihre Knie zu sinken. Sie wusste, dass sie hier sterben würde. Es gab keinen anderen Ausweg mehr.

Dennoch hegte sie noch Hoffnung für ihr Kind. Sie blickte sich um und sah einen Haufen kleiner Stöcke, vielleicht das Nest eines Bibers, der so gebaut worden war, dass er einem Körbchen ähnelte. Sie griff danach und legte flink ihr Kind hinein. Sie testete es und stellte erleichtert fest, dass es schwamm.

Rea holte aus und bereitete sich darauf vor, das Körbchen auf die sanften Wogen des Flusses zu setzen. Wenn der Strom es fing, würde er es von hier forttragen. Den Fluss hinab. Wie weit und wie lang er es tragen würde, das wusste sie nicht. Doch war eine kleine Chance das Leben ihres Babys zu retten besser als keine.

Rea weinte und beugte sich hinab, um die Stirn ihres Kindes zu küssen. Sie weinte bitterlich und drückte die kleinen Händchen ihres Sohnes.

„Ich liebe dich“, sagte sie schluchzend. „Vergiss mich nicht.“

Das Baby stieß einen Schrei aus, als würde es verstehen. Es war ein markerschütternder Schrei, der über das Grollen von Blitz und Donner erscholl und sogar das herannahende Pferdegetrappel übertönte.

Rea wusste, dass sie nicht länger warten durfte. Sie gab de Körbchen einen Schubs und kurz darauf trug der Strom es davon. Sie blickte ihm weinend nach während die Dunkelheit es langsam verschluckte.

Sie hatte es gerade aus den Augen verloren, da tauchten hinter ihr die Rüstungen auf – sie wandte sich um und erblickte mehrere Ritter, die nicht weit von ihr entfernt gerade von ihren Pferden stiegen.

„Wo ist das Kind?“ fragte einer. Sein Visier war nach unten geklappt und seine Stimme schnitt durch den Sturm. Sein Visier war nicht wie das jenes Mannes, der sie in jener Nacht genommen hatte. Der Mann trug eine rote Rüstung, die eine andere Form hatte und nichts liebliches Schwang in seiner Stimme mit.

„Ich…“ begann sie.

Dann spürte sie Wut in sich aufsteigen – die Wut einer Frau, die wusste, dass sie sterben würde. Die nichts zu verlieren hatte.

„Er ist weg“, spie sie ihn herausfordernd an. Sie grinste. „Und ihr werdet ihn niemals haben. Niemals.“

Der Mann grunzte verärgert, tat einen Schritt auf sie zu, zog sein Schwert und erstach sie.

Rea spürte den ungeheuerlichen Schmerz des Stahls in ihrer Brust und sie keuchte atemlos. Die Welt um sie wurde lichter und sie spürte wie sie Teil dieses Lichts wurde und sie wusste, dass es der Tod war.

Doch war da keine Angst. Vielmehr spürte sie Zufriedenheit. Ihr Kind war sicher.

Sie landete mit dem Gesicht im Fluss. Das Wasser färbte sich rot und sie wusste, dass es vorbei war. Ihr kurzes und schweres Leben war vorbei.

Doch ihr Junge würde für immer leben.

*

Die Bäuerin Mithka kniete am Ufer des Flusses neben ihrem Ehemann. Beide waren ganz in ihre Gebete versunken, denn diese erschienen ihnen die einzige Zuflucht in diesem unheimlichen Sturm. Es fühlte sich an, als sei das Ende der Welt gekommen. Der blutrote Mond allein war wie ein denkwürdiges Omen – doch in Verbindung mit solch einem Sturm war er mehr als nur unheimlich. So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben. Etwas Bedeutsames war auf dem Weg, das wusste sie.

Sie knieten zusammen dort, Wind und Schnee schlug ihnen ins Gesicht und sie beteten, dass ihre Familie den Sturm sicher überstehen würde. Um Gnade. Für die Vergebung ihrer Sünden.

Mithka war eine fromme Frau und hatte viele Sonnenzyklen erlebt, zahlreichen Kinder das Leben geschenkt und ein gutes Leben gehabt. Ein armes doch gutes Leben. Sie war eine anständige Frau. Sie hatte sich um ihr Geschäft gekümmert, hatte sich um Andere gesorgt und hatte niemandem etwas zu Leide getan. Sie rief Gott an, damit er ihre Kinder, ihren Haushalt und ihre bescheidenen Habseligkeiten beschützen würde. Sie beugte sich nach vorne, platzierte ihren Handinnenflächen im Schnee, schloss ihre Augen und neigte ihr Haupt, sodass ihre Stirn den Boden berührte. Sie bat Gott, ihr ein Zeichen zu schicken.

Langsam hob sie ihren Kopf. Währenddessen weiteten sich ihre Augen und ihr Herz begann beim Anblick dessen, was sie vor sich erblickte, schneller zu schlagen.

„Murka!“ zischte sie.

Ihr Mann drehte sich zu ihr und blickte auf. Kniend und durchfroren starrten sie voller Erstaunen auf das, was sie dort sahen.

Das konnte nicht möglich sein. Sie blinzelte mehrere Male, sie bildete es sich nicht ein. Vor ihnen schwebte ein von der Strömung herbeigespültes Körbchen auf dem Wasser.

Und in dem Körbchen lag ein Baby.

Ein Junge.

Seine Schreie durchdrangen die Nacht, erhoben sich sogar über das Brausen des Sturms und das Krachen von Blitz und Donner und drangen ihr direkt ins Herz.

Sie sprang in den Fluss, watete durch das tiefe eisige Wasser, dessen messerartige Stiche ihr gleichgültig waren und angelte nach dem Körbchen. Sie blickte hinein und fand ein sorgfältig eingewickeltes Kind, das zu ihrer großen Überraschung völlig trocken war.

Sie untersuchte ihn eingehender und entdeckte das frische Brandmal auf seinem Arm – überrascht erkannte sie darin das Symbol zweier Schlangen, die einen Mond umkreisten. Ein Dolch rangte zwischen ihnen empor.

Sie hielt den Atem an; sie wusste sofort, was es zu bedeuten hatte. In alten Volksweisen und Legenden hatte sie von diesem Symbol gehört. Und sie fürchtete es.

Sie drehte sich zu ihrem Mann.

„Wer würde so etwas tun?“ fragte sie entsetzt als sie ihn fest an ihre Brust drückte.

Er konnte nur verwundert seinen Kopf schütteln.

„Wir müssen uns ihm annehmen“, entschied sie.

Ihr Mann legte seine Stirn in Falten und schüttelte den Kopf.

„Wie sollen wir das anstellen?“ erwiderte er. „Wir können ihn nicht durchfüttern. Wir können uns selbst kaum ernähren. Wir haben schon drei Söhne – wozu brauchen wir noch einen vierten? Wir sind zu alt noch ein Kind aufzuziehen.“

Mithka dachte blitzschnell nach und zeigte ihm das Brandmal auf dem Arm des Kindes. Nach all den gemeinsamen Jahren wusste sie, wie sie ihren Mann überzeugen konnte. Er sah überzeugt aus.

„Da“, erwiderte sie. „Da hast du dein Zeichen. Ein Zeichen für uns“, sagte sie ernst. „Ich werde dieses Baby retten – ob es dir gefällt oder nicht. Ich werde ihn nicht dem Tod überlassen.“

Er sah immer noch skeptisch drein, wenn auch weniger entschlossen, als ein weiterer Blitz durch den Himmel zuckte und der Himmel ihn mit Furcht erfüllte.

„Glaubst du, das alles ist reiner Zufall?“ fragte er. „Ein solches Kind, das in solch einer Nacht geboren wird? Hast du irgendeine Ahnung, wen du da in deinen Armen hältst?“

Er blickte ängstlich zu dem Kind. Dann stand er auf und trat einen Schritt zurück. Schließlich drehte er sich um und trottete besorgt davon.

Mithka würde nicht nachgeben. Sie lächelte das Baby an und wiegte es an ihrer Brust, um sein kaltes Gesichtchen zu wärmen. Langsam beruhigte sich sein Weinen.

„Ein Kind so anders als wir alle“, antwortete sie, auch wenn niemand sie hörte und hielt ihn fest. „Ein Kind das die Welt verändern wird und das Royce heißen soll.“

Ehre wem Ehre gebührt

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