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KAPITEL EINS

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Oliver Blue blickte sich in dem düsteren, schmuddeligen Raum um. Er seufzte. Dieses neue Haus war etwa so schäbig wie das letzte. Er drückte seinen Koffer fester an sich.

„Mom?“, sagte er. „Dad?“

Beide drehten sich um und sahen ihn mit ihren stets finsteren Blicken an.

„Was, Oliver?“, sagte seine Mutter. Sie klang genervt. „Wenn du sagen wolltest, dass dir das Haus nicht gefällt, dann lass es. Etwas Besseres können wir uns nicht leisten.“

Sie schien noch angespannter als sonst. Oliver presste die Lippen aufeinander.

„Nicht so wichtig“, murmelte er.

Er drehte sich um und ging auf die Treppe zu. Oben hörte er seinen älteren Bruder Chris, der bereits durch das Haus donnerte. Er stürmte immer sofort durch alle Zimmer eines neuen Hauses, um das Beste für sich zu beanspruchen, bevor Oliver die Gelegenheit dazu hatte.

Langsam schleppte er seinen Koffer hinauf. Oben gab es drei Zimmer: ein Badezimmer, ein großes Schlafzimmer mit Doppelbett und ein Zimmer, in dem sich Chris wie ein Seestern auf das Bett geworfen hatte.

„Wo ist mein Zimmer?“, fragte Oliver laut.

„Es gibt nur ein Zimmer, ihr müsst es euch teilen“, schallte die Stimme seiner Mutter die Treppe hinauf.

Panik machte sich in Olivers Magen breit. Teilen? Das Wort würde Chris überhaupt nicht gefallen.

In der Tat schoss dieser wie eine Rakete in die Luft. Er schnappte Oliver und drückte ihn schwungvoll gegen die Wand. Oliver gab ein lautes Uff von sich.

„Ich teile überhaupt nichts“, zischte er zwischen den Zähnen hindurch. „Ich bin dreizehn Jahre alt, ich teile mein Zimmer nicht mit einem BABY!“

„Ich bin kein Baby“, protestierte Oliver. „Ich bin elf Jahre alt.“

„Ganz genau“, spottete Chris. „Ein Winzling. Du geht’s jetzt zu Mom und Dad und sagst ihnen, dass du nicht mit mir teilen willst.“

„Sag es ihnen doch selbst“, knurrte Oliver, „schließlich hast du ein Problem damit.“

Chris funkelte ihn finster an. „…und meinen Ruf als Lieblingssohn beflecken? Auf keinen Fall. Du gehst!“

Oliver wusste, dass er seinen Bruder nicht provozieren durfte. Manchmal bekam er schon wegen Kleinigkeiten richtige Wutanfälle. Er hatte bereits lange genug das Pech, Chris‘ jüngerer Bruder zu sein, und so hatte er gelernt, seinen Launen besser aus dem Weg zu gehen. Er versuchte es mit Logik.

„Aber es gibt keinen anderen Platz zum Schlafen. Wo soll ich denn hin?“

„Das ist nicht mein Problem“, erwiderte Chris und schubste Oliver noch einmal. „Von mir aus kannst du unter dem Spülbecken in der Küche schlafen, bei den Mäusen. Aber in mein Zimmer kommst du nicht.“

Dann hob Chris seine geballte Faust drohend in die Luft, eine Geste, die keine weitere Erklärung brauchte. Es gab nichts mehr zu sagen. Mit einem resignierten Seufzen sammelte Oliver sich, strich seine Kleidung glatt und trottete wieder die Treppe hinab.

Sein riesiger Bruder rauschte an ihm vorbei und stieß ihm den Ellbogen in die Seite.

„Oliver sagt, dass er nicht teilen will“, bellte er und grinste seinen Bruder dabei breit an.

Oliver hörte zu, wie seine Eltern und sein Bruder begannen, über die Zimmerverteilung zu diskutieren. Wenig begeistert, in diesen Streit hineingezogen zu werden, verlangsamte er seine Schritte.

Vor kurzem hatte er sich eine neue Strategie ausgedacht. Wenn es zu größeren Diskussionen in der Familie kam, schickte er seinen Geist einfach an einen anderen Ort, eine Art Traumwelt, in der alles still und friedlich war, und in der seine Vorstellungskraft die einzige Grenze war. Dort wünschte er sich jetzt auch hin. Er schloss die Augen und stellte sich eine große Fabrik vor. Sie war aus Backstein und dort gab es unglaubliche Erfindungen. Fliegende Drachen aus Messing und Kupfer, riesige Maschinen mit Zahnrädern, die sich leise bewegten und dampfenden Motoren. Oliver liebte Erfindungen, weswegen eine große Fabrik voller magisch wirkender Maschinen für ihn genau der richtige Rückzugsort war. Viel besser als die Realität, dieses schreckliche Haus mit dieser schrecklichen Familie.

Doch die schrille Stimme seiner Mutter holte ihn schnell zurück.

„Oliver, was soll das Tamtam?“

Oliver schluckte schwer und ging die letzten Schritte ins Wohnzimmer. Dort standen alle drei mit verschränkten Armen und sahen ihn düster an.

„Du weißt, dass es nur zwei Zimmer gibt“, begann sein Vater.

„Warum kannst du nicht einmal nett sein und mit deinem Bruder teilen?“, fügte Mom hinzu.

„Was erwartest du denn von uns? Wir haben einfach nicht genug Geld für ein größeres Haus“, fuhr Dad fort.

Oliver wollte ihnen am liebsten entgegenschreien, dass es Chris war, der nicht teilen wollte, aber er wusste, was sein Bruder dann mit ihm machen würde. Chris stand nur da und starrte ihn bedrohlich an. Also blieb Oliver nichts anderes übrig, als die Schimpftirade seiner Eltern über sich ergehen zu lassen.

„Also?“, fragte Mom herausfordernd. „Wo genau gedenkt eure Hoheit dann zu nächtigen?“

Oliver sah seinen Bruder fragend an, aber der grinste nur fiese zurück. Soweit er gesehen hatte, war das Erdgeschoss L-förmig angelegt. Das Wohnzimmer mündete in eine Art Esszimmer – im Prinzip eine kleine Ecke mit einem klapprigen Esstisch – und von dort aus ging es in die Küche. Ansonsten gab es unten keine Räume. Alle waren miteinander verbunden.

Oliver konnte es nicht glauben. Alle Häuser, in denen sie gewohnt hatten, waren heruntergekommen und schäbig, aber wenigstens hatte er bisher immer seine eigene kleine Kammer gehabt.

Oliver sah sich um und bemerkte eine Nische, vielleicht eine ehemalige Feuerstelle, die vor Jahren entfernt worden war. Ein Bett würde wohl kaum hineinpassen, aber hatte er eine Alternative? Er musste in einer Ecke im Wohnzimmer schlafen! Ohne jegliche Privatsphäre!

Was sollte jetzt aus seinen geheimen Erfindungen werden, an denen er Nacht für Nacht arbeitete, wenn alles endlich ruhig wurde und niemand ihn störte. Wenn Chris davon erfuhr, würde er sie sofort kaputt machen. Er würde so lange auf ihnen herumtrampeln, bis sie vollkommen unbrauchbar waren. Ohne eigenes Zimmer konnte er seine geheimen Sachen nirgends verstecken und er konnte auch nicht mehr daran arbeiten!

In diesem Moment überlegte er, ob er nicht vielleicht doch lieber in den Küchenschrank ziehen sollte. Der hatte wenigstens Türen. Andererseits würden dort die Mäuse an seinen Sachen nagen und das wäre fast genauso schlimm wie Chris. Also beschloss er, dass er mit einem Vorhang, ein paar Regalen, einer Leselampe und einer Matratze die Nische zu einer Art Zimmer machen konnte.

„Da“, sagte er und zeigte auf die Nische.

„Da drüben?“, rief seine Mutter.

Chris lachte bellend. Oliver sah ihn wütend an. Dad schüttelte den Kopf.

„Merkwürdiger Junge“, sagte er gleichgültig, ohne jemanden direkt anzusprechen. Dann seufzte er übertrieben laut, als wäre jede Mühe an diesem Kind vergebens. „Aber wenn er unbedingt in der Ecke schlafen will, soll er doch in der Ecke schlafen. Ich weiß nicht mehr, was ich noch mit ihm machen soll.“

„Schön“, sagte seine Mutter entnervt, „lassen wir ihn. Er wird wirklich jeden Tag merkwürdiger.“

Damit wandten sich alle drei von ihm ab und gingen in die Küche. Chris grinste ihn noch einmal über die Schulter an und flüsterte, „Freak“.

Oliver atmete tief durch. Er ging zu seiner Nische und stellte den Koffer neben seinen Füßen ab. Es gab dort nichts, wo er seine Kleidung hineinräumen konnte; kein Regal, keine Schubladen. Und es gab auch kaum Platz für ein Bett – wenn seine Eltern ihm überhaupt eines besorgen würden. Aber Oliver würde schon zurechtkommen. Er würde sich ein Regal aus Brettern bauen und irgendwie einen Vorhang als Raumteiler aufhängen. Dann konnte er noch eine Schublade unter das Bett schieben, das er hoffentlich bekam, um dort seine Erfindungen zu lagern.

Und wenn er das Positive an der Situation sehen wollte, worum er sich stets bemühte, dann hatte er wenigstens ein großes Fenster, das ihm viel Licht bot und aus dem man nachts die Sterne beobachten konnte.

Auch jetzt legte er die Ellbogen auf das Fensterbrett und blickte hinaus in den grauen Oktobernachmittag. Der Wind wehte in den Baumkronen und pustete eine leere Plastiktüte über die Straße. Am gegenüberliegenden Straßenrand stand ein verbeultes Auto neben einer verrosteten Waschmaschine. Es war offensichtlich ein armes Viertel. Vielleicht das ärmste, in dem sie je gewohnt hatten, überlegte Oliver.

Bei jedem Windstoß knackten und knarrten die Fenster und ein kalter Luftzug ließ Oliver frösteln. Für Oktober hatte hier in New Jersey schon spürbar abgekühlt. Vorhin im Radio hatten sie sogar eine Sturmwarnung gegeben. Doch Oliver fürchtete sich nicht. Er liebte es, wenn es draußen stürmte. Besonders, wenn es blitzte und donnerte.

Der Geruch von frisch gekochtem Essen machte sich von der Küche her breit. Er drehte sich weg vom Fenster und schlich um die Ecke in die Küche. Mom stand am Herd und rührte in einem großen Kochtopf.

„Was gibt es zum Abendessen?“, fragte er.

„Fleisch mit Kartoffeln und Erbsen“, sagte sie.

Olivers Magen knurrte voller Vorfreude. In seiner Familie gab es immer schlichte Mahlzeiten, aber das machte Oliver nichts aus. Er mochte es schlicht.

„Jungs, Hände waschen“, sagte Dad, der bereits am Tisch saß.

Aus dem Augenwinkel konnte Oliver seinen Bruder boshaft grinsen sehen. Damit war ihm klar, dass dieser sich schon die nächste Gemeinheit für ihn ausgedacht hatte. Das letzte, was Oliver jetzt wollte, war Chris im Badezimmer in die Arme zu laufen, aber Dad sah ihn auffordernd an.

„Muss ich dir immer alles zweimal sagen?“, beschwerte er sich.

Es gab kein Zurück. Oliver ging aus der Küche, dicht gefolgt von seinem großen Bruder. Er rannte die Treppen hinauf so schnell er konnte, in der Hoffnung das Badezimmer wieder verlassen zu können, bevor sein Bruder ihn eingeholt hatte.

Aber Chris war ihm dicht auf den Fersen. Sowie sie außer Hörweite der Eltern waren, packte er Oliver am Pullover und drückte ihn gegen die Wand.

„Jetzt pass mal gut auf, du Würstchen“, begann er. „Ich habe heute Abend einen Bärenhunger.“

„Na und?“

„Ich brauche eine doppelte Portion – deine Portion! Du wirst Mom und Dad sagen, dass du nichts essen willst.“

Oliver schüttelte den Kopf. „Ich habe dir schon das Zimmer überlassen!“, protestierte er. „Lass mich wenigstens meine Kartoffeln essen!“

Chris lachte. „Vergiss es. Morgen müssen wir in eine neue Schule und ich brauche Kraft, um andere Würstchen wie dich auseinandernehmen zu können.“

Bei dem Wort Schule erfasste Oliver eine Woge der Beklommenheit. Er hatte in seinem Leben schon oft auf neue Schulen gehen müssen – und jedes Mal wurde es ein bisschen schlimmer. Es gab immer einen Typen wie Chris, der seine Angst riechen konnte und ihn fertig machte, egal was er tat. Verbündete hatte er nie. Oliver hatte die Hoffnung auf Freunde schon längst aufgegeben. Nach ein paar Monaten würden sie ohnehin wieder umziehen.

Chris verzog sein Gesicht. „Weißt du was, Oliver? Heute will ich nicht so sein. Ich gönne dir doch etwas.“ Schon machte sich sein gehässiges Grinsen wieder breit. „Du darfst meine Faust fressen!“

Damit holte er aus. Oliver duckte sich und rannte los. Er stürzte vor Chris, dessen Schlag er nur knapp entkommen war, die Treppen hinunter.

„Komm zurück, du armseliges Würstchen!“, rief Chris.

Doch Oliver konnte schnell rennen und war bereits im Wohnzimmer angekommen. Sein Vater sah ihn vorwurfsvoll an.

„Müsst ihr schon wieder streiten?“, seufzte er. Oliver war von seinem Sprint noch außer Atem, als Chris neben ihn schlitterte. „Worum geht es denn jetzt schon wieder?“

„Nichts“, sagte Chris rasch.

Plötzlich spürte Oliver ein Stechen in seiner Hüfte. Chris bohrte die Fingernägel in seine Haut und sah triumphierend auf ihn hinab. Oliver wusste, was er zu tun hatte.

Hoffnungslos holte er Luft. „Ich habe nur gerade gesagt, dass ich heute gar keinen Hunger habe.“

Dad sah ihn prüfend an. „Deine Mutter steht seit einer Stunde am Herd und jetzt sagst du, dass du nichts essen willst?“

Auch sie drehte sich überrascht zu ihm um. „Isst du auf einmal kein Fleisch mehr? Oder sind die Kartoffeln das Problem?“

Chris‘ Nägel bohrten sich noch etwas tiefer in Olivers Hüfte.

„Es tut mir Leid, Mom“, sagte er leise. „Ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du für uns kochst, aber ich habe keinen Hunger.“

„Was soll ich nur mit dem Jungen machen?“, rief seine Mutter. „Erst die Faxen mit dem Zimmer, jetzt das. Meine Nerven halten das nicht mehr aus.“

„Ich esse gerne seine Portion“, sagte Chris zuckersüß. „Ich will doch nicht, dass du dir umsonst die Mühe gemacht hast, Mom.“

Die Eltern sahen ihren Erstgeborenen zufrieden an. Chris war schon immer ein stämmiger Junge gewesen, aber in letzter Zeit hatte er noch etwas mehr zugelegt. Sie schienen sich deswegen keine Gedanken zu machen. Oder vielleicht wollten sie ihren Bully von Sohn einfach nicht verärgern.

„Na schön“, sagte sie seufzend. „Aber jeden Abend lasse ich mir dieses Theater nicht gefallen, Oliver.“

Oliver fühlte, wie Chris seinen Griff lockerte. Erleichtert rieb er die wunde Stelle.

„Ja, Mom“, sagte Oliver traurig. „Tut mir leid, Mom.“

Als die anderen sich an den Tisch setzten und anfingen zu essen, wandte Oliver sich mit knurrendem Magen ab und ging zurück in seine Nische. Um sich von seinem Hunger abzulenken, packte er seinen einzigen wertvollen Besitz aus dem Koffer: ein Buch über die großen Erfindungen der Menschheit. Eine liebe Bibliothekarin hatte es ihm vor einigen Jahren geschenkt, nachdem er zwei Wochen lang jeden Tag in die Bibliothek gekommen war, um darin zu lesen. Inzwischen hatte es unzählige Eselsohren von den Millionen von Malen, die er darin herumgeblättert hatte. Oliver wurde es dabei nie langweilig. Im Gegenteil, dieses Buch war einer der wenigen Gründe, warum es Oliver egal war, in welcher Gegend und in welchem Haus sie wohnten. Er hatte sogar gelesen, dass einer seiner Lieblingserfinder, Armando Illstrom, seine großen Erfindungen in einer nahegelegenen Fabrik erschaffen hatte. Dass Armando Illstrom unter den Verrückten Erfindern angeführt war und die meisten seiner Apparate angeblich nicht richtig funktionierten, störte Oliver nicht. Oliver fand ihn trotzdem sehr inspirierend, besonders fasziniert war er von Armandos selbstschießender Waschbärenfalle. Oliver wollte nach diesem Vorbild eine eigene Version nachbauen, um sich seinen Bruder vom Leib zu halten.

Oliver hörte das Besteck klappern und sah zu seiner Familie hinüber. Chris war gerade dabei, Olivers Abendessen in sich zu schaufeln.

Oliver schüttelte den Kopf über die Ungerechtigkeit und nahm heimlich die Bestandteile seiner Falle aus dem Koffer. Vorsichtig breitete er sie vor sich auf dem Boden aus. Er war beinahe fertig.

Die Falle bestand aus einer Art Steinschleudermechanismus, der von einem Hebel ausgelöst wurde. Wenn der Eindringling mit dem Fuß dagegen stieß, wurde ihm eine Eichel an den Kopf geschleudert. Natürlich musste Oliver die Waschbär-Variante von Armando entsprechend an die Größe seines Bruders anpassen. Anstatt der Eicheln benutzte er einen kleinen Soldaten aus Plastik mit einem spitzen kleinen Gewehr. Er hatte sowohl den Mechanismus, als auch den Auslöser verblüffend gut hinbekommen, aber aus irgendeinem Grund funktionierte die Falle noch nicht zuverlässig. Anstatt durch die Luft zu fliegen, stand der kleine Soldat mit seinem Gewehr im Anschlag in der Schleuder und rührte sich nicht.

Da seine Familie gerade abgelenkt war, konnte er weiter daran arbeiten. Er setzte alle Teile zusammen und versuchte die Falle auszulösen. Oliver konnte einfach nicht begreifen, wo der Fehler lag. Er seufzte enttäuscht. Armando Illstrom musste das gleiche Problem gehabt haben. Vielleicht hatte man ihn deswegen für verrückt erklärt. In dem Buch stand, dass keine seiner Erfindungen den großen Durchbruch gebracht hatte.

Im Hintergrund hörte Oliver, wie seine Familie zu streiten begann. Er presste die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um ihre Stimmen auszublenden und sich in seine geheime Welt zu wünschen.

Schon war er wieder in der Fabrik. Er sah Armandos Falle direkt vor sich. Sie funktionierte perfekt. Die Eicheln flogen nach rechts, nach links und geradeaus, wie man sie gerade ausrichtete. Aber Oliver verstand nicht, was an seiner Falle anders war.

„Magie“, flüsterte eine Stimme hinter ihm.

Oliver sprang vor Schreck in die Luft. Noch nie waren andere Menschen in seiner Traumwelt erschienen!

Doch als er sich umsah, war keiner da.

Schließlich öffnete er die Augen, um sich wieder in die echte Welt zu holen. Nach wie vor saß er in der kleinen Nische des düsteren Raumes. Warum hatte seine Phantasie ausgerechnet das Wort Magie als Lösung zu seinem Problem heraufbeschworen? Eigentlich interessierte er sich nicht besonders dafür, sonst hätte er sich ein Buch über Zaubertricks besorgt. Er bevorzugte praktische, handfeste Dinge, die einen Zweck erfüllten. Er liebte Wissenschaft und Physik, nicht unbedingt unerklärliche Phänomene.

Der Duft des Abendessens lag immer noch in der Luft. Von seinem Platz aus blieb ihm nichts anderes übrig, als zum Esstisch hinüber zu schauen. Chris sah ihn an und steckte sich eine große Kartoffel in seinen großen Mund. Er grinste breit, während ihm das Öl am Kinn herunterlief.

Oliver wurde wütend. Das war seine Kartoffel! Am liebsten wäre zum Tisch hinübergegangen und hätte mit einer großen Armbewegung alles auf den Boden geworfen. Er sah es richtig vor sich. Es würde sich so gut anfühlen!

Plötzlich verwandelte sich seine Wut in etwas anderes, etwas, das Oliver noch nie zuvor gespürt hatte. Er wurde ruhig. Er wusste genau, was er tun würde. Schon ertönte ein lautes Knacken, das vom Esstisch kam. Eines der Tischbeine war durchgebrochen, genau in der Mitte. Die Tischplatte sackte weg und alles, was sich darauf befand, kam ins Rutschen. Mit lautem Scheppern landeten Teller, Gläser und Topf auf dem Boden.

Mom und Dad sprangen erschrocken auf. Erbsen und Kartoffeln rollten über den alten Teppich. Auch Oliver war aufgesprungen. Hatte er das getan? Hatte er den Tisch mit purer Willenskraft kaputt gemacht? Das konnte nur Zufall sein!

Während Mom in der Küche verschwand und ein paar Tücher holte, um die Sauerei aufzuwischen, inspizierte Dad auf Knien das gebrochene Tischbein.

„Billiges Ding“, knurrte er, „… ist glatt auseinander gebrochen!“

Chris hingegen starrte Oliver finster an. Ob er es getan hatte oder nicht, Chris machte ihn ganz offensichtlich dafür verantwortlich.

Langsam stand er auf. Erbsen rollten von seinem Schoß auf den Boden. Sein Gesicht wurde rot, wütend ballte er die Fäuste. Dann stürzte er wie eine explodierte Rakete auf Oliver zu.

Oliver sprang hinter seine Falle und zog den Auslöser.

Schieß! Bitte schieß! flehte er in Gedanken.

Alles geschah wie in Zeitlupe. Chris kam näher, Oliver hielt die Falle vor sich und stellte sich fest vor, wie der Soldat durch die Luft flog, genau wie er sich vor wenigen Augenblicken vorgestellt hatte, wie die Teller vom Tisch fielen.

Da geschah es. Der Soldat hob ab, schoss in hohem Bogen auf Chris zu und knallte mit der Gewehrspitze voran direkt gegen seine Stirn.

Oliver schnappte nach Luft. Er konnte kaum glauben, dass es funktioniert hatte.

Chris stand wie erstarrt vor ihm, der kleine Soldat fiel auf den Boden. Auf Chris‘ Stirn war ein kleiner, roter Abdruck.

„Du Dummkopf!“ schrie Chris und rieb fassungslos seinen Kopf. „Dafür mach‘ ich dich fertig!“

Aber zum ersten Mal zögerte er. Er ging nicht sofort auf Oliver los, um ihn am Ohr zu ziehen oder mit seinen Fingerknöcheln über den Kopf zu reiben. Stattdessen ging er einen Schritt zurück, fast als hätte er Angst.

Dann rannte er aus dem Wohnzimmer, die Treppen hinauf. Als er die Tür ins Schloss krachen ließ, vibrierte das ganze Haus.

Oliver starrte ihm mit offenem Mund hinterher. Er konnte kaum fassen, dass es wirklich funktioniert hatte! Nicht nur, dass sein Gerät in letzter Sekunde geschossen hatte – er hatte Chris‘ buchstäblich das Abendessen vom Tisch gefegt.

Er blickte auf seine Hände. Hatte er vielleicht geheime Kräfte? Gab es doch so etwas wie Magie? Oder war es am Ende wirklich nur Zufall? Tief in sich ahnte er, dass mehr dahinter steckte. Er fühlte sich auf einmal stark.

Aufgeregt setzte er sich wieder mit seinem Buch in die Ecke und las noch einmal das Kapitel über Armando Illstrom. Dank seiner Erfindung hatte Oliver sich zum ersten Mal gegen seinen Bruder schützen können. Der Wunsch, diesem Mann persönlich zu danken, wurde stärker als je zuvor. Die Fabrik war nicht weit von Olivers Schule entfernt. Vielleicht sollte er morgen nach dem Unterricht einen kleinen Ausflug machen.

Armando musste inzwischen ein sehr alter Mann sein. Vielleicht lebte er gar nicht mehr. Dieser Gedanke versetzte Oliver einen Stich. Es wäre furchtbar, wenn er sein Held gestorben wäre, bevor er ihn kennenlernen konnte!

Er las die Liste von Armandos fehlgeschlagenen Erfindungen. Oliver bemerkte, dass sie nicht gerade positiv beschrieben wurden.

Armando Illstrom hatte an einer Zeitmaschine gearbeitet, als der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war. Die Arbeit in seiner Fabrik war nach und nach zum Stillstand gekommen. Als der Krieg endete, hatte Armando seine Arbeit jedoch nicht zu Ende gebracht. Die meisten Zeitgenossen hatten ihn für seine fantastischen Ideen ausgelacht. Von einigen wurde er sogar ‚verkappter Edison‘ genannt. Oliver fragte sich, warum Armando nicht weitergemacht hatte. Ob es daran lag, dass niemand an ihn geglaubt hat?

Sein Interesse war geweckt. Morgen nach der Schule wollte er zu dieser Fabrik gehen und wenn Armando Illstrom noch am Leben war, würde er ihn nach seiner Zeitmaschine fragen.

Seine Eltern kamen aus der Küche.

„Wir gehen ins Bett“, sagte Mom.

„Was ist mit meinem Bett?“, fragte Oliver und blickte auf die leere Nische.

Dad seufzte. „Ich nehme an, ich soll dir dein Bettzeug aus dem Auto holen?“

„Das wäre sehr nett“, sagte Oliver leise. „Ich möchte morgen früh fit sein.“

Das unangenehme Gefühl, das der kommende Schultag in ihm hervorrief, wuchs mit jeder Minute, genau wie der Sturm, der sich draußen zusammenbraute. Er fürchtete, dass es der schlimmste Schultag seines Lebens werden könnte. Dabei hatte er schon eine ganze Menge richtig mieser Tage erlebt. Das Mindeste, was er jetzt noch tun konnte, war sich ausreichend auszuruhen.

Dad trotte abgeschlagen aus dem Haus. Durch die offene Haustür wehte ein Windstoß bis in alle Ritzen. Kurz darauf brachte er Olivers Kissen und Decke.

„In ein paar Tagen besorgen wir dir ein Bett“, sagte sein Vater, als er alles in der Nische ablegte. Von dem langen Tag im kalten Auto fühlte sich das Bettzeug eisig an.

„Danke“, sagte Oliver, der selbst für das kleinste bisschen Komfort dankbar war.

Seine Eltern löschten die Lichter und gingen die Treppe hinauf. Oliver blieb alleine in der Dunkelheit zurück. Das einzige Licht fiel von der matt erleuchteten Straßenlaterne durch Olivers Fenster.

Der Wind rüttelte an den Fenstern. Oliver spürte förmlich, wie der Sturm draußen an Kraft gewann. Etwas Merkwürdiges lag in der Luft. Er dachte an die Sturmwarnung im Radio. Es hatte ernst geklungen. Die meisten Kinder würden sich davor vielleicht fürchten, aber Oliver fürchtete nur den nächsten Tag in der neuen Schule.

Er setzte sich ans Fenster, legte die Ellbogen auf das Fensterbrett und blickte in den düsteren Himmel. Ein dürrer Baum neigte sich im Wind. Oliver fürchtete, dass er jeden Moment abbrechen könnte. Er konnte beinahe sehen, wie die dünne Barke brach und die schmale Krone vom Wind davongetragen wurde.

Da bemerkte er sie. Gerade als seine Gedanken ihn in seine Traumwelt entführen wollten, entdeckte er die zwei Gestalten, die neben dem Baum standen. Es waren ein Mann und eine Frau, die Oliver so ähnlich sahen, dass man sie für seine Eltern halten konnte. Hand in Hand standen sie da und lächelten ihn freundlich an.

Erschrocken machte Oliver einen Satz zurück. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass seine Eltern ihm kein bisschen ähnlich sahen. Beide hatten dunkles Haar und blaue Augen, genau wie Chris. Oliver hatte hingegen blondes Haar und dunkle Augen.

Plötzlich bezweifelte er, dass seine Eltern wirklich seine Eltern waren. Vielleicht liebten sie ihn deswegen nicht auf die gleiche Art, wie sie Chris liebten. Oliver blickte wieder aus dem Fenster, aber die beiden Gestalten waren verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sie sich nur eingebildet.

Aber sie hatten so echt gewirkt!

Und so vertraut.

Wunschdenken, sagte Oliver sich.

Oliver setzte sich auf den Boden und lehnte sich an die kalte Wand in seinem improvisierten Schlafzimmer. Dann zog er die Knie bis an die Brust und deckte sich zu. Er schloss die Augen.

Kurz vor dem Einschlafen überkam ihn ein Gefühl, nein, die Sicherheit, dass sein Leben sich sehr bald ändern würde.

Die Zauberfabrik

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