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KAPITEL SECHS

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Gwendolyn saß mit Guwayne in ihren Armen in einem Rollstuhl und nahm alle ihre Kräfte zusammen, als die Diener die Tür öffneten und Thor sie in die Kammer ihrer kranken Mutter schob. Die Wachen der Königinmutter verneigten sich und traten beiseite, und Gwendolyn drückte ihr Baby fester an sich, als sie die dunkle Kammer betraten. Die Kammer war ruhig, stickig und finster. Fackeln flackerten an den Wänden. Sie konnte den Tod spüren.

Guwayne, dachte sie. Guwayne, Guwayne.

Sie sagte immer und immer wieder seinen Namen still vor sich hin, im Versuch, sich auf etwas anderes zu konzentrieren, als ihre sterbende Mutter. So wie sie gehofft hatte, brachte ihr sein Name Trost und füllte sie mit Wärme. Guwayne. Das Wunderkind. Sie liebte dieses Baby mehr, als sie in Worte zu fassen vermochte.

Gwendolyn wollte, dass ihre Mutter ihn sah, bevor sie starb. Sie wollte, dass sie stolz auf sie war, wünschte sich den Segen ihrer Mutter. Sie musste es zugeben: trotz ihrer schwierigen Vergangenheit, wollte Gwendolyn Frieden mit ihrer Mutter schließen, bevor sie starb. Sie war in einem verletzlichen Zustand, und die Tatsache, dass sie ihrer Mutter in den letzten Monaten näher gekommen war, trug nur dazu bei, dass sie noch verzweifelter war.

Gwendolyn spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, als sich die Türen hinter ihr schlossen. Sie sah sich im Raum um und sah ein Dutzend Wachen um ihre Mutter herumstehen, Angehörige der alten Wache, die früher ihren Vater beschützt hatten. Der Raum war voller Menschen, die Totenwache hielten. Neben ihrer Mutter saß natürlich Hafold, ihre treue Dienerin bis zum Ende, die über sie wachte und niemanden an sie heranlies, so wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte.

Als Thor Gwendolyn an das Bett ihrer Mutter heranschob, wollte sie aufstehen und ihre Mutter umarmen. Doch sie hatte immer noch schreckliche Schmerzen und schaffte es nicht.

Stattdessen griff sie die Hand ihrer Mutter. Sie war kalt.

Im selben Augenblick, öffnete ihre Mutter langsam die Augen. Sie sah sie überrascht und erfreut an, und versuchte zu sprechen.

Sie formte Worte mit ihren Lippen, schaffte es jedoch nicht, mehr als ein Keuchen hervorzubringen. Gwendolyn konnte nicht verstehen, was sie sagen wollte.

Ihre Mutter hustete und winkte Hafold herbei.

Hafold beugte sich sofort über sie und hielt ihr Ohr dicht über den Mund ihrer Herrin.

„Ja, Mylady?“, fragte Hafold.

„Schick alle hinaus. Ich möchte mit meiner Tochter und Thorgrin alleine sein.“

Hafold sah die Königinmutter kurz widerwillig an, doch dann antwortete sie, „Wie Ihr wünscht, Mylady.“

Hafold scheuchte sofort alle anderen zur Tür und nahm schnell wieder ihren Platz an der Seite ihrer Herrin ein.

„Alleine“, wiederholte die Königin und nickte Hafold zu.

Hafold senkte überrascht den Kopf, warf Gwendolyn einen eifersüchtigen Blick zu, stürmte aus dem Raum und zog die Tür fest hinter sich zu.

Gwendolyn saß mit Thor neben ihrer Mutter und war froh, dass sie alleine waren. Der Tod lag schwer in der Luft. Gwendolyn konnte es spüren – ihre Mutter würde nicht mehr lange bei ihr sein.

Ihre Mutter drückte Gwendolyns Hand und Gwen erwiderte die Geste. Die Königinmutter lächelte und eine Träne rollte über ihre Wange.

„Ich freue mich, dich zu sehen“, sagte sie. Ihre Worte waren kaum mehr als ein Flüstern.

Gwendolyn kamen die Tränen, doch sie versuchte, stark zu sein und für ihre Mutter die Tränen zurückzuhalten. Doch sie schaffte es nicht, und die Tränen rollten unaufhörlich über ihre Wangen.

„Mutter“, weinte sie. „Es tut mir Leid, so schrecklich leid!“

Gwendolyn war überwältigt vom Bedauern, dass sie sich ihr ganzes Leben lang nicht näher gestanden waren. Sie hatten einander nie vollkommen verstanden. Ihre Persönlichkeiten waren immer in starkem Kontrast zueinander gestanden, sie hatten kaum jemals dieselben Ansichten vertreten. Gwendolyn tat es leid um ihre Beziehung, auch wenn sie nicht diejenige war, die sich die Schuld dafür geben musste. Rückblickend wünschte sie sich, dass sie irgendetwas hätte sagen oder tun können, um ihre Beziehung zu verbessern. Doch mit allem, was sie jeweils in ihren Leben getan hatten standen sie an unterschiedlichen Enden des Spektrums. Und es schein, als ob jegliche Anstrengung, das zu ändern, egal von welcher Seite sie kam, vergeben Liebesmüh war. Sie waren einfach zwei vollkommen verschiedene Menschen, die zufällig in dieselbe Familie hineingeboren worden waren, vom Schicksal in eine Mutter-Tochter-Beziehung geworfen. Gwendolyn war nie die Tochter gewesen, die ihre Mutter gewollt hatte, und die Königin war für Gwendolyn nie die Mutter gewesen, die sie sich gewünscht hätte. Gwendolyn fragte sich, warum das Schicksal sie zusammengebracht hatte.

Die Königinmutter nickte, und Gwen konnte sehen, dass sie sie verstanden hatte.

„Nein, mir tut es leid“, antwortete sie. „Du bist eine ganz außergewöhnliche Tochter. Und eine außergewöhnliche Königin. Eine weitaus bessere Königin als ich es je gewesen bin. Und eine weitaus bessere Herrscherin, als es dein Vater jemals war. Er wäre stolz auf dich. Du hast eine bessere Mutter als mich verdient.“

Gwendolyn wischte ihre Tränen ab.

„Du warst eine gute Mutter.“

Die alte Frau schüttelte den Kopf.

„Ich war eine gute Königin. Und eine aufopferungsvolle Ehefrau. Doch ich war keine gute Mutter. Zumindest nicht für dich. Ich denke, ich habe zu viel von mir in dir gesehen. Das hat mir Angst gemacht.“

Gwendolyn drückte ihre Hand, und während ihr wieder die Tränen über die Wangen rollten, wünschte sie sich, dass ihnen mehr Zeit bliebe und dass sie früher so miteinander gesprochen hätten. Nun, wo sie selbst Königin war, nun, wo sie beide älter waren und sie selbst ein Kind hatte, wollte Gwendolyn ihre Mutter um sich haben. Sie wünschte sich, sie um Rat fragen zu können. Doch ironischerweise wurde ihr das eine Mal in ihrem Leben, wo sie sie wirklich um sich haben wollte, dieser Wunsch nicht gewährt.

„Mutter, ich möchte, dass du mein Kind kennenlernst. Mein Sohn. Guwayne.“

Die Königinmutter riss überrascht die Augen auf, hob ihren Kopf ein wenig von den Kissen und sah zum ersten Mal, dass Gwendolyn Guwayne in ihren Armen hielt.

Die Königin keuchte, setzte sich weiter auf und begann zu schluchzen.

„Oh Gwendolyn“, sagte sie. „Er ist das hübscheste Baby, das ich je gesehen habe.“

Sanft strich sie Guwayne über den Kopf, legte ihre Fingerspitzen auf seine Stirn und schluchzte noch mehr.

Langsam wandte sie sich Thor zu.

„Du wirst ein guter Vater sein“, sagte sie. „Mein Gemahl hat dich geliebt. Ich habe zwischenzeitlich auch verstanden, warum. Ich habe mich in dir getäuscht. Vergib mir. Ich bin froh, dass Gwendolyn dich hat.“

Thor nickte ernst und drückte die Hand der Königinmutter die sie ihm entgegenstreckte.

Es gibt nicht zu vergeben“, sagte er.

Die Königinmutter wandte sich wieder Gwendolyn zu und ihre Augen wurden hart; es war, als ob sich plötzlich etwas in ihr verändert hatte und die alte Königin wieder zum Leben erwacht war.

„Du wirst dich von nun an vielen Prüfungen stellen müssen“, sagte ihre Mutter. „Ich weiß alles, was im Königreich vor sich geht, ich habe immer noch treue Gefolgsleute, die mich auf dem Laufenden halten. Ich mache mir Sorgen um dich.“

Gwendolyn tätschelte ihre Hand.

„Mutter bitte sorg dich jetzt nicht um mich. Das ist nicht die Zeit für Staatsangelegenheiten.“

Doch sie schüttelte den Kopf.

„Es ist immer Zeit für Staatsangelegenheiten. Und ganz besonders jetzt. Bestattungen sind Staatsangelegenheiten, das darfst du nicht bergessen. Es sind keine Familienangelegenheiten, sie sind hoch politisch.“

Ihre Mutter hustete und keuchte, dann holte sie tief Luft.

„Mir bleibt nicht viel Zeit, darum hör mir gut zu“, sagte sie, und ihre Stimme klang schwächer. „Nimm dir meine Worte zu Herzen. Selbst wenn du sie nicht hören willst.“

Gwendolyn nickte ernst.

„Was immer du sagst, Mutter.“

„Du darfst Tirus nicht vertrauen. Er wird dich betrügen. Vertraue seinen Leuten nicht. Diese MacGils sind nicht wie wir. Alles, was wir gemeinsam haben, ist der Name. Vergiss das niemals.“ Sie röchelte, und Gwendolyn versuchte die Bedeutung ihrer Worte zu verstehen.

„Sorge dafür, dass deine Armee stark ist und deine Verteidigungsanlagen noch stärker. Je eher du verstehst, dass Frieden nur eine Illusion ist, desto besser wirst du den Frieden sichern.“

Einerseits dachte Gwen, dass das vielleicht nur die Worte einer sterbenden Königin waren, die abgestumpft war; doch andererseits erkannte sie, dass eine gewisse Weisheit in ihnen lag, auch wenn sie es nicht gerne zugab.

Ihre Mutter öffnete wieder die Augen.

„Deine Schwester, Luanda“, flüsterte sie. „Ich möchte, dass sie zu meiner Bestattung kommt. Sie ist meine Tochter. Meine Erstgeborene.“

Gwendolyn holte überrascht Luft.

„Sie hat schlimme Dinge getan, für die sie das Exil verdient. Doch erlaube ihr dieses eine Mal, zurückzukehren. Ich möchte, dass sie dabei ist. Bitte lehne die Bitte deiner sterbenden Mutter nicht ab.“

Gwendolyn seufzte. Sie war hin und her gerissen. Sie wollte ihrer Mutter eine Freude bereiten, doch sie wollte nicht, dass Luanda zurückkam. Nicht nach allem, was sie getan hatte.

„Versprich es mir“, sagte ihre Mutter und drückte fest Gwendolyns Hand. „Versprich es mir.“

Schließlich nickte Gwendolyn, als sie erkannte, dass sie ihr diese Bitte nicht abschlagen konnte.

„Ich verspreche es dir Mutter.“

Ihre Mutter seufzte und nickte zufrieden. Dann lehnte sie sich zurück.

„Mutter“, sagte Gwendolyn und räusperte sich. „Ich wünsche mir, dass du mein Kind segnest.“

Ihre Mutter öffnete schwach die Augen und sah sie an. Dann schloss sie sie wieder und schüttelte langsam den Kopf.

„Dieses Baby hat bereits jeden Segen, den sich ein Kind wünschen kann. Er hat meinen Segen – doch er braucht ihn nicht. Du wirst sehen, meine Tochter, dass dein Kind weitaus mächtiger ist als du oder Thorgrin, oder irgendjemand anderer vor ihm oder nach ihm. Das ist schon vor Jahren prophezeit worden.“

Ihre Mutter röchelte, und gerade als Gwendolyn dachte, dass sie nichts mehr zu sagen hatte und gehen wollte, schlug ihre Mutter ein letztes Mal die Augen auf.

„Vergiss nicht, was dein Vater dir beigebracht hat, sagte sie mit einer Stimme, die so schwach war, dass Gwendolyn sie kaum hören konnte. „Manchmal herrscht der größte Frieden in einem Königreich, das sich im Krieg befindet.“

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