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Prolog
ОглавлениеMontag, 08. August
Wie schnell kann sich eine glückliche Verheißung zum unerwarteten Alptraum wenden...
Reiß dich zusammen! Es ist nur der Regen, das geht vorbei.
Feine Wassertropfen flogen nach allen Seiten, als er den Kopf schüttelte. Blonde Haare hingen in wirren Strähnen durch sein Gesicht. »Verdammtes Scheißwetter!«
Niemand war da, der seine meteorologischen Verwünschungen hätte wahrnehmen können. Doch er fühlte sich besser, wenn er fluchen konnte. Tatsächlich regnete es im Grunde seit Wochen. Es war ein sehr deutscher Regen, der in seiner unvergleichlichen Tristesse Selbstmordgefährdeten vermutlich die Entscheidung erleichterte. Fetzen bedrohlicher Kumuluswolken erstickten auch an diesem Tag die liebliche Landschaft in schwermütigem Dunkelgrau. Mit einiger Phantasie betrachtet schienen sie sich für einen kurzen Moment zu einer hämisch grinsenden Fratze zu vereinen, bevor sie von der nächsten Böe wieder auseinander gerissen wurden. Die gesamte Natur schien in eine Depression verfallen zu sein, die die Wärme verdrängt hatte. In der einsetzenden Dämmerung dieses Tages begannen Nebelschwaden durch die Hügel mit sorgsam angelegten Rebstöcken und die Bäume des nahen Waldes zu kriechen. An den höheren Zweigen riss wütend ein kühler Wind. Es war die schlechte Karikatur eines Sommers, der sich zudem bereits seinem Ende zuneigte. Selbst ältere einheimische Bauern konnten sich nicht an Vergleichbares erinnern. Sie rechneten bereits mit einem miserablen Jahrgang ihres namhaften Rieslings. Möglicherweise wäre den erschreckend kleinen Trauben noch eine passable Spätlese zu entlocken. Sollte die durch ständigen Regen einsetzende Fäulnis nicht auch diese Hoffnung im feuchtgrauen Dunst ersticken. Das Wetter übertrug sich allmählich auf die Menschen, ließ selbst robuste Gemüter mürrisch und missmutig werden.
Mirko Harnisch war ein Mensch ausgesprochen sonnigen Gemüts. Allmählich verdüsterte das Wetter jedoch ebenfalls seine Stimmung. Innerlich verfluchte er zusätzlich den Job, den er über die freien Monate seiner Semesterferien angenommen hatte. Als er den Aushang in einem Café der Koblenzer Innenstadt nahe der Universität gesehen hatte, war ihm das Angebot fast wie ein Hauptgewinn erschienen.
»Werden Sie Verwalter von Burg Rothenfels! Arbeiten und leben Sie eine Zeit lang auf einer der ursprünglichsten Burgen im Südwesten Deutschlands. Verdienen Sie ihr Geld, wo andere Menschen Urlaub machen! Entlohnung auf Verhandlungsbasis.«
Noch in derselben Minute wählte er die angegebene Telefonnummer. Der ältere Mann am anderen Ende sagte sofort zu. Laut dem Gespräch sollte sich seine Aufgabe darauf beschränken, zu den Besuchszeiten Eintrittskarten an Touristen zu verkaufen, die den Weg zu dem recht einsam gelegenen Bauwerk fänden. Ansonsten müsste er einfach nur anwesend sein, als eine Art Hausmeister.
Ein echter Traumjob.
Darüber hinaus würde sich viel Freizeit bieten, die er zum Lernen für die anstehenden Examensklausuren gut gebrauchen konnte. Als er zwei Wochen später das mächtige Burgtor durchschritt, konnte er sich erster Zweifel nicht erwehren, ob das Angebot tatsächlich ein Glücksfall gewesen sei. Mehrmals verpasste er den kleinen Waldweg, der von der Landstraße abzweigte. Er fragte sich, wie potenzielle Besucher das winzige Hinweisschild »Zur Burg« im Vorbeifahren wahrnehmen sollten. Harnisch nahm sich vor, auf diesen Marketingfehler aufmerksam zu machen. Die Bedenken verstärkten sich in den folgenden Tagen. Nur wenige Menschen interessierten sich für das unscheinbare Festungsbauwerk. Es lag zu weit abseits ausgetretener Touristenpfade. Die Tage verliefen monoton.
Was ihn jedoch mittlerweile an den Rand der Verzweiflung trieb, war die Einsamkeit, vor allem nachts. Als ängstlicher Typ galt der vierundzwanzig Jahre alte Mirko Harnisch gemeinhin nicht. Eher als einer, der auch allein gut zurechtkam. Seine von Natur aus große, kräftige Statur widersprach eher den Klischees eines Chemiestudenten. Man hätte ihn wahrscheinlich für einen Bauarbeiter oder Surflehrer gehalten. Die dunkelblonden Haare trug er etwas zu lang, sie verlangten eigentlich nach einem Schnitt. Doch irgendwie gab gerade das ihm eine verwegen-romantische Ausstrahlung. Er wusste um seine Wirkung und genoss sie. Die Aufgabe in der Burg brachte ihn erstmals seinen Grenzen näher. Nur anders, als er es sich vorgestellt hatte.
Wenn er um achtzehn Uhr das schwere, hölzerne Tor hinter dem letzten Besucher abschloss, begannen eintönige Stunden des Wartens. Des Wartens auf die Nacht. Zu seiner Verwunderung hatte Harnisch festgestellt, sich in der absoluten Ruhe und Einsamkeit nur schwer auf die komplexen Reaktionsgleichungen in seinen Aufzeichnungen konzentrieren zu können. Inmitten der unerträglichen Stille wurde er ständig durch Geräusche aufgeschreckt, deren Ursprung er nicht unmittelbar lokalisieren konnte. Von einigen glaubte er, sie noch nie vorher gehört zu haben. Oft setzte sich das fort, wenn er sich in sein karges, im Burgfried gelegenes Zimmer zurückzog. In dem schmalen, unbequemen Bett empfand er die Ruhe als quälende Belastung. Für die Zerstreuung durch einen Fernseher hätte er mittlerweile einiges gegeben. Doch der fehlte und wäre mangels Empfang höchstwahrscheinlich nutzlos gewesen. Ein Knarren oder Knirschen irgendeiner jahrhundertealten Holztür ließen ihn dann alsbald wieder hochschrecken, um einen späten Kontrollgang einzulegen. Auch die Treppen führten ein reges Eigenleben und hatten es auf seinen Schlaf abgesehen.
In der ersten Nacht – im Rückblick erschien es ihm lächerlich – entwendete er einer der aufgestellten Rüstungen das Schwert. Schlagbereit postierte er sich hinter einem antiken Holzschrank. Jemand schien in den verwinkelten Gängen unterwegs zu sein. Die Minuten verstrichen und der junge Student musste sich alsbald eingestehen, vergeblich aufgestanden zu sein. Eichenbohlen knarrten und die uralten Eisenscharniere der Holztüren gaben von Zeit zu Zeit jaulende Laute von sich. Der imaginäre Eindringling blieb jedoch im Dunklen.
Am Ende dieses zweiten Montags im August hätte Mirko Harnisch eigentlich besserer Stimmung sein müssen. Der Besuch eines befreundeten Kommilitonen lag nur wenige Stunden zurück. Silvio war bisher der einzige, der seine Ankündigung einhielt, ihn an seinem abgelegenen Arbeitsplatz zu besuchen. Es war eine enttäuschende Erfahrung, dass kaum einer der Bekannten zu den bierselig abgegebenen Zusicherungen stand. Zugegeben, der Weg war selbst mit dem Auto beschwerlich. Andererseits lag die Universitätsstadt Koblenz nicht weit entfernt. Man musste nur wollen.
Schöne Freunde, dachte er mit einem Anflug von Bitterkeit. Der Besuch ließ ihn an den verbleibenden Zeitraum von anderthalb Monaten denken, die ihm noch bevorstanden. Sarkastisch redete er sich selbst ein, bis dahin dem Wahnsinn anheimgefallen zu sein. Nachdem sein Freund aufgebrochen war, fühlte er sich unwohl und noch einsamer als vorher. Aufzugeben wäre allerdings eine zu große Blöße gewesen.
Ich werde durchhalten.
Kurz überlegte er, zum Auto zu laufen und ins nächste Dorf zu fahren. Er könnte dort wenigstens einkaufen gehen. Es würde ihn ablenken. Nach einem Blick auf seine digitale Armbanduhr verwarf er die Idee wieder. Es war bereits nach neunzehn Uhr. Kein Geschäft in der näheren Umgebung würde noch geöffnet sein. Nicht, dass er dringend an diesem Abend etwas hätte besorgen müssen. Er suchte einfach nach einer Chance, Burg Rothenfels zumindest vorübergehend zu verlassen. Der Ort übte eine eigenartige, tief beklemmende Wirkung auf ihn aus. Manchmal fühlte er sich hinter den dicken Mauern, die einst Angriffen von außen standhalten sollten, als Gefangener. Sobald er die immer gleichen Handgriffe verrichtete, die immer gleichen Türen abschloss, spürte er etwas, das nur als Endgültigkeit zu beschreiben war. Es war ein Gefühl, als müsste er für immer hier verharren.
Resigniert lief er über den gepflasterten Innenhof, steuerte das Tor an. Eine bleierne Regenwolke hing schwer über ihm am Himmel, der bereits in Dämmerung begriffen war. Sie schien nur auf eine Gelegenheit zu warten, die nächsten Wassermassen gen Erde fallen zu lassen. Er beschleunigte seine Schritte.
Bloß nicht schon wieder nass werden.
Hektisch zog er an der mächtigen Holztür, hielt aber plötzlich inne. Im lehmigen, vom dauernden Regen aufgeweichten Erdboden vor dem Portal zeichneten sich vom Wald her deutliche Fußabdrücke ab. Sie waren ihm zugewandt, führten demnach zur Burg.
Die letzten Besucher hatte er am frühen Nachmittag verabschiedet: Eine holländische Touristin, die mit ihren zwei schlecht erzogenen Söhnen heillos überfordert zu sein schien. Den älteren der beiden schätzte er auf höchstens dreizehn Jahre.
Skeptisch betrachtete er einen der Abdrücke. Grobes Profil hatte seine Spuren im Boden hinterlassen. Sie konnten unmöglich von den Niederländern stammen. Im Übrigen hätte der Regen sie seitdem längst beseitigt. Beunruhigt ließ er den Blick durch den Wald schweifen. Unter den dichten Zweigen war nur noch wenig zu erkennen. In höchstens einer Stunde würde hier tiefes Dunkel herrschen. »Denk nach!«, zwang er sich zur Ruhe. »Es gibt für alles eine Erklärung, auch hierfür.« Nach einem Moment der Überlegung atmete er erleichtert aus, merkte dabei erst, dass er den Atem angehalten hatte. »Idiot, Silvio ist doch eben erst gegangen«, entfuhr es ihm fast lachend. Der Wald beantwortete sein Eingeständnis mit dem kehligen Schrei einer Eule.
Bald konnte sie lautlos von ihrem Ast gleiten, um im Schutze nahender Dunkelheit zu jagen. Sie würde nicht zurückkehren, ohne ihren spitzen Schnabel in das Fleisch einer Feldmaus oder einer Ratte geschlagen zu haben. Mit erbarmungsloser Geduld würde der Raubvogel den Körper mit scharfen Krallen am Boden halten, bis die letzten Zuckungen des Opfers erstarben. Unbemerkt wäre es möglich, sich mit der toten Beute zurückzuziehen. Nicht etwa als Flucht, nur als Rückzug. Bis der Instinkt das Tier erneut auf die Jagd schickte.
Tatsächlich war Silvio erst vor weniger als einer halben Stunden diesen Weg zu seinem Auto gelaufen. Harnisch grübelte weiter, fühlte sich aber schon entspannter, nachdem er der Meinung war, die Spuren annähernd plausibel erklären zu können.
Doch warum führen die Schuhabdrücke zur Burg, nicht zum Parkplatz?
Der Zweifel hielt an. In diesem Augenblick öffnete sich die Regenwolke wie eine Schleuse, während gleichzeitig der Wind auffrischte. Nach wenigen Momenten stand Wasser in den Fußspuren, verwischte sie. Innerhalb von Minuten würde nichts mehr auf denjenigen hindeuten, der sie hier hinterlassen hatte. Fröstelnd zog er das Tor zu und drehte den Schlüssel wie jeden Abend zweimal. Mit einem metallischen Geräusch schob sich der Riegel ins Schloss. Er hatte es nicht mehr eilig, war er dank der großen Wassertropfen, die der Wind aus allen Richtungen auf ihn einprasseln ließ, doch inzwischen ohnehin völlig durchnässt. Der Regen schien nur der Anfang zu sein. In einiger Entfernung zuckten bereits kleinere Blitze. Schwacher Donner deutete auf ein nahendes Gewitter hin. Die meisten Fenster der Burg waren noch hell erleuchtet. Der graue Himmel zwang ihn dazu, die überwiegende Zeit des Tages die Beleuchtung eingeschaltet zu lassen. Schon aufgrund der spärlichen Besucher. Da Harnisch bisher keinen Hauptschalter gefunden hatte, musste er nun am Abend überall manuell das Licht ausschalten. Ihm war das eigentlich egal. Auch die Stromkosten interessierten ihn kaum.
Das ist ja wohl Sache der Eigentümer dieser gottverlassenen Festung. Die müssen bestimmt nicht auf den Cent schauen.
Ihm wurde bewusst, dass er keine Ahnung davon hatte, wem die Burg eigentlich gehörte. Ein Bevollmächtigter hatte ihn in Empfang genommen, kurz eingewiesen und war sogleich wieder verschwunden.
Egal, Hauptsache jemand wird mir diese Tortur hier bezahlen.
Er betrat die Burg durch den Seiteneingang, schloss hinter sich ab und lenkte seine Schritte durch die Eingangshalle der kleinen Wendeltreppe zu. Sie führte zu seinem Zimmer im Turm. Modriger Geruch von feuchten Steinen und alten Teppichen stieg ihm in die Nase. Nachdem er das Schlüsselbund und die schwere Stabtaschenlampe aus seinem Zimmer geholt hatte, begann die Runde wie jeden Abend. Die Lichter waren auszuschalten und die Türen abzuschließen. Während er routiniert die immer gleichen Handgriffe durchführte, dachte er daran, wie lächerlich das alles war.
Wer sollte schon hier sein? Selbst die paar Touristen verschwinden nach den obligatorischen Erinnerungsfotos schnell wieder.
Es gab imposantere Bauwerke in dieser an Burgen und Schlössern reichen Region. Zu stehlen gab es kaum etwas. Der größte Teil des Interieurs hatte bestenfalls ideellen Wert. Sein Weg führte ihn durch die beiden Stockwerke der Festung, die vor mehreren Jahrhunderten einem Angehörigen des niederen Adels Unterkunft geboten hatten.
Dessen Name überdauerte die Zeiten. Der Grund dafür lag weniger in seinem nicht allzu beachtlichen Besitz als vielmehr in der berüchtigten Grausamkeit gegen Feinde als auch Untergebene. Mirko Harnisch hatte das in der großen Halle auf einem hölzernen Ständer ausgelegte Buch inzwischen fast ausgelesen. Die Mixtur aus uralten Chroniken und mündlichen Überlieferungen ließ jeden Leser schaudern. Eindringlich wurden die ausgeklügelten Folterpraktiken beschrieben, die während der Herrschaft des ehemaligen Burgherrn zu einer schrecklichen Kunst erhoben worden waren. Dabei hatte er stets große Mühe darauf verwendet, die Unglücklichen möglichst lange am Leben zu lassen, während einer seiner Folterknechte das Opfer langsam ausweidete. Gliedmaßen und Zunge wurden bei dieser Prozedur bevorzugt. Sie waren am leichtesten zu entfernen, ohne das Opfer unmittelbar zu töten. Das eigene Schicksal ereilte den Tyrannen schließlich im Jahre des Herrn 1456. Wer die Tat letztendlich fertiggebracht hatte, war umstritten geblieben. Lediglich ein dunkler Blutfleck blieb der Legende zufolge nach seiner Enthauptung an der Außenmauer haften. Harnisch hatte tatsächlich eine Verfärbung am fraglichen Stein gefunden, ohne sich über den wahren Ursprung sicher zu sein.
Nachdem alle Lampen ausgeschaltet und alle Türen geschlossen waren, lag wie jeden Abend eine düstere Verlassenheit über dem Gemäuer. Dieser Zustand war Mirko Harnisch aus der Stadt unbekannt. In den ersten Tagen hatte er die Stille als unerträglich empfunden. Mittlerweile stellte sich eine gewisse Gelassenheit ein. Zusätzlich erhellte ein Gedanke sein Gemüt.
Ein frisches Bier.
Er dachte daran, wie sehr er die einfachen Annehmlichkeiten des Lebens zu schätzen gelernt hatte. In seinem Zimmer angekommen setzte er sich an den wackligen Holztisch am Fenster. Er stellte neben dem Bett und einem kleinen Schrank das einzige Mobiliar im Raum dar. Die Tischplatte war abgenutzt und zerkratzt.
Wie viele frustrierte, gelangweilte Menschen haben an diesem Tisch gesessen?
Er entfernte den Kronkorken. Zischend entwich Kohlensäure aus der Flasche. Das Bier hatte ihm sein Kommilitone Silvio Meier mitgebracht. Der tiefe Schluck war eine Erlösung. Er sah aus dem kleinen Fenster über die Baumwipfel, um die wie immer zu dieser Tageszeit unermüdlich einige Fledermäuse kreisten. Inzwischen war die tiefschwarze Nacht hereingebrochen, während der Regen mit gleichbleibender Intensität vom Himmel rauschte. Die unablässige Geräuschkulisse wirkte gleichzeitig beruhigend und bedrückend. Das Gewitter, das sich am Horizont angekündigt hatte, war wider Erwarten in der Ferne vorbeigezogen. Im Wald hätte man die Hand vor Augen nicht erkennen können.
Schnell leerte er die erste Flasche. Im Begriff, die zweite zu öffnen, hielt er unvermittelt inne. Bereits in den letzten Minuten war er das Gefühl nicht losgeworden, etwas vergessen zu haben. Er hatte es nicht vergessen, er hatte es verdrängt. Der Keller war von Beginn an ein Ort des Unbehagens für ihn geblieben. Harnisch überlegte kurz. Es war eine Sache, das Licht die Nacht über brennen zu lassen. Der Keller verfügte jedoch mittels einer Treppe über einen separaten Ausgang zum Hof. Diese stand tagsüber für die Besucher offen. Da er sie nicht geschlossen hatte, musste sie das auch jetzt noch sein. Nein, es half nichts. Er musste noch einmal dort hinuntergehen.
In den Keller.
Seufzend stellte er die Bierflasche auf den Tisch, griff nach Schlüssel und Taschenlampe. Die weichen Gummisohlen der Sportschuhe dämpften die Geräusche der Schritte auf den engen Treppenstufen. Im Erdgeschoss angekommen tauchte der Lichtschein aus dem Kellerabgang die eine Seite der dunklen Eingangshalle in mattes Licht. Es wurde von den aufgestellten Rüstungen reflektiert. Die grob gezimmerte Tür stand offen. Harnisch blieb stehen. Er hatte fest geglaubt, die Tür an diesem Tag nicht geöffnet zu haben, konnte sich aber nicht genau erinnern. Doch, er war sich sicher. Kein Besucher hatte sich die Gewölbe heute angesehen. Das konnte er nachvollziehen, waren es doch hauptsächlich Familien gewesen. Kurz neben der Tür war in Augenhöhe ein unauffälliges Schild angebracht. Darauf wurde empfohlen, diese Räumlichkeiten mit Kindern nicht zu besichtigen.
Unsägliches Leid hatte sich dort unten zugetragen. Viele große und kleine, inzwischen verrostete Instrumente unterschiedlicher Form lagen ordentlich aufgereiht. Sie waren intelligent konstruiert, um den Opfern bei möglichst lang ausgedehnter Lebensdauer Schmerzen zuzufügen, die den Bereich der Vorstellungskraft überschritten hatten. Wahnsinn oder Ohnmacht mussten die wie von einem Metzger aufgeschnittenen, anschließend von grausamen Spezialisten gequälten Opfer bereits lange vor dem gnädigen Moment des Todes in eine andere Welt geführt haben. Allerlei Pressen und Zangen zeugten von scheußlichem Einfallsreichtum. Vor Hunderten von Jahren waren wahrscheinlich entsetzliche Schreie von den dicken Wänden widergehallt. Zur morbiden Faszination der Touristen war alles weitgehend im Originalzustand belassen. Sogar das tief in den Kellerboden eingelassene Loch, in dem die vermeintlichen Verschwörer verdurstet oder bei lebendigem Leib verfault waren, war unversehrt.
Harnisch war im Begriff die steinerne Kellertreppe zu betreten, als er von unten ein leises, metallisches Geräusch wahrzunehmen glaubte. Unsinn, dachte er, spürte aber wie sich sein Magen zusammenzog. Er stand am Rand der Treppe und lauschte angestrengt in die Tiefe. Nichts als Stille und das kaum hörbare Rauschen des Regens, der unablässig gegen das massive Mauerwerk peitschte. Er blickte hinunter, sah aber nur eine andere Steinwand, da die Treppe halbkreisförmig nach unten führte. Sekunden verharrte er in dieser Position. So sehr er die Sinne anstrengte, konnte er doch keinen Laut mehr ausmachen.
Sicher, sich getäuscht zu haben, setzte er den Fuß auf die erste Stufe. Alles wirkte normal. Tastend setzte er den Weg fort, bis sich der Blick auf die beiden Kellerräume öffnete. Das helle Licht der Neonröhren war ihm schon beim ersten Mal unpassend erschienen, ermöglichte den Besuchern aber die Wahrnehmung jedes grausamen Details der Folterstätte. Das gleichmäßige Flackern im hinteren Raum erschreckte ihn nicht. Es deutete lediglich auf den notwendigen Austausch einer der Leuchtstoffröhren hin. Er würde es morgen erledigen, sofern irgendwo Ersatz zu finden wäre.
Ein leichter Luftzug erinnerte ihn daran, weshalb er hier war. Die Tür zum Hof befand sich am Ende des zweiten Raumes. Er durchquerte den kurzen Gang zwischen den beiden Verliesen, fand sie erwartungsgemäß geöffnet vor. Im Gegensatz zu den übrigen Türen der Burg war sie nachträglich eingebaut worden und bestand aus schwerem Metall. Für einen Moment trat er nach draußen. Der kurze, gemauerte Aufgang endete im Hof. Wassertropfen schlugen ihm scharf ins Gesicht. In der Schwärze konnte er gerade einmal die Umrisse der Burg erkennen. Schnell trat er in die Helligkeit zurück und zog die Tür zu, bis das Schloss einrastete. Ein Knall ließ ihn zusammenzucken. Der Luftzug hatte anscheinend die obere Kellertür zugeschlagen. Das war sonst nie geschehen, doch da hatte auch kein starker Wind geherrscht.
Nicht so schlimm.
Er hatte den Schlüsselbund bei sich und würde sie wieder öffnen können. Dennoch fühlte er sich augenblicklich wie gefangen. Als Harnisch sich umdrehte, um den Rückweg anzutreten, blieb sein Blick an einem der hölzernen Tische hängen. Sie muteten wie Werkbänke an. Nur dass sie vor Jahrhunderten einem anderen Zweck gedient hatten. Das zu bearbeitende Material war menschliches Fleisch gewesen. Zur Veranschaulichung waren darauf in regelmäßigen Abständen die eisernen Folterinstrumente gleich Werkzeugen ausgelegt. Manche ähnelten Messern. Andere schienen der Form von Zangen oder Korkenziehern entlehnt worden zu sein. Die Reihe der Grausamkeiten wies jetzt deutliche Lücken auf. Mehrere der Instrumente fehlten. Der Schreck fuhr Harnisch durch den gesamten Körper. Mühsam zwang er sich zur Ruhe. Das Wahrscheinlichste schien ihm, einer der Touristen hätte einige schaurige Erinnerungsstücke gestohlen.
Schließlich lagen sie lose auf den Tischen.
Er wünschte sich, die Erklärung würde ihn beruhigen. Leider konnte sie es nicht. Zu sicher war er sich, morgens alles an seinem Platz gesehen zu haben. Vielleicht hatte sich jemand heimlich tagsüber hier herunter geschlichen? Jeder Erklärungsversuch schien ihm unwahrscheinlich, ließ ihn nur nervöser werden.
Erst einmal hinaus hier, das Licht löschen.
Morgen würde sich schon alles klären lassen. Seine Hand berührte bereits den Lichtschalter, als eine plötzliche Eingebung ihn herumfahren ließ. Irgendetwas anderes schien ebenfalls nicht zu stimmen.
Sekundenlang ruhte sein Blick auf der Öffnung im Boden, die sich wenige Meter neben ihm auftat. Es war der Eingang zu der kleinen Höhle, in der vor Jahrhunderten die Gefangenen ihrem sicheren Tod entgegengesehen hatten. Normalerweise war das Loch mit einer runden Holzscheibe verschlossen. Damals sollten die absolute Einsamkeit und das Fehlen jeglichen Lichtes die Inhaftierten noch vor ihrem Todeskampf in den Wahnsinn treiben.
Das Loch im Boden war allzu leicht zu übersehen. Es maß im Durchmesser ungefähr einen dreiviertel Meter. Jetzt lag die Holzscheibe neben dem Eingang. Mirko Harnisch fühlte seine Schläfen pulsieren, als er sich der schwarzen Öffnung näherte. Sein Herz schlug rasend. Die rechte Hand verkrampfte sich um die Stabtaschenlampe. Der Blick drang in den schmalen Abgrund, konnte in der dort herrschenden Dunkelheit aber nichts erkennen. Die Deckenbeleuchtung vermochte die enge, mehrere Meter nach unten führende Höhle nicht zu erhellen. Kurz überlegte er, was er dort zu sehen erwartete. Er fand keine Antwort und schaltete die Taschenlampe ein. Der fokussierte Lichtstrahl glitt über die unbearbeitete Wand in die Tiefe. Er beugte sich über die Öffnung. Das Licht erreichte ebenen Sand, den Boden der Höhle.
Der Blick auf die verzerrte Grimasse traf Harnisch wie ein Schlag in den Magen. Der Strahl fiel auf eine blutige Masse, die einmal ein Gesicht gewesen sein musste. Entsetzliche Verstümmelungen nahmen ihm alles Menschliche. Die fehlenden Lippen gaben ihm einen furchtbaren Ausdruck, der an ein teuflisches Grinsen erinnerte. Die Nase war als blutiger Brei in der Mitte des Kopfes nur noch zu erahnen. Die Ohren fehlten ebenfalls. Das Schrecklichste aber waren die leeren Augenhöhlen.
Schwer atmend kämpfte Harnisch mit aufkommender Übelkeit. Die Gedanken überschlugen sich. In seinen Emotionen vermischte sich der Ekel mit hämmernder Angst. Was war hier geschehen? Wer war in der Lage, so etwas zu tun?
Warum?
Widerwillig, aber von dem Drang getrieben alles zu sehen, richtete er die Lampe nochmals in die schwarze Leere. Erneut überkamen ihn Abscheu und Brechreiz beim Anblick der entstellten Leiche. Zitternd umklammerte er die Taschenlampe. Der Lichtkegel hüpfte in der Frequenz seines Zitterns. Er erkannte Kleidung und nackte Haut. Das Blut darauf war von Sand und Schmutz zu Klumpen geformt.
Ein Geräusch war leise, aber hörbar. Die Erkenntnis, möglicherweise nicht alleine im Gewölbe zu sein, ereilte ihn plötzlich und unvorbereitet. Lähmende Todesangst ließ klares Denken unmöglich werden. Der Laut schien von der Treppe zur Halle gekommen zu sein.
Dann war es auch nicht der Wind, der die Tür zufallen ließ.
Wie lange beobachtete die unbekannte Person ihn schon? Die Gedanken überschlugen sich. Angst rann als kalter Schweiß langsam seinen Rücken hinab. Der einzige Ausweg führte jetzt über die Stahltür in den Hof.
Bitte Gott, was auch immer hier passiert, lass mich entkommen. Ich will so nicht sterben.
Während er mit verzweifelter Schnelligkeit die Tür erreichte, schaute er kurz zurück. Er sah den Schatten im Halbkreis der Kellertreppe, der sich ohne Hast zu nähern schien. Instinktiv griff Harnisch den passenden Schlüssel und drehte ihn hastig herum. Während er die schwere Tür nach außen drückte, blickte er wiederum hinter sich. Im ersten Raum des Verlieses bewegte sich etwas Schwarzes in seine Richtung. Er zwängte sich durch die zur Hälfte geöffnete Tür nach draußen. Im gleichen Moment schob er sie mit ganzer Kraft zurück ins Schloss. Schnell verriegelte er sie, um anschließend abwartend zu verharren. Kein Laut war zu hören.
Die Regenwolken hatten sich vom dunklen Himmel verzogen. Nur von den Zweigen der Bäume fielen noch Wassertropfen. Er sah kaum seine eigenen Schuhe in der Schwärze, traute sich aber nicht, die Lampe zu benutzen. Endlich hatte er das Gefühl, wieder eine Chance zu haben, klar denken zu können. An dem großen Bund in seiner Hand war neben den Schlüsseln der Burg auch sein Autoschlüssel befestigt. Nur das Burgtor und der kurze Weg durch den Wald trennten ihn von seinem Wagen. Er konnte es schaffen. Nein, er musste es schaffen. Leise und zügig bewegte er sich auf das große Portal zu. Kurz bevor er das Holztor erreichte, hielt er inne. Für einen Moment hatte er geglaubt, Schritte zu hören.
Unsinn, unmöglich.
Alles blieb still. Einzig von den Blättern einer großen Eiche fielen in rhythmischer Folge Wassertropfen hinab. Am Tor angelangt, versuchte er schnell das Schloss zu öffnen, wählte aber diesmal den falschen Schlüssel. Auch der zweite passte nicht in das geschmiedete Schloss. Das Zittern der feuchten Hände nahm erneut zu. Alle Schlüssel sahen in der Dunkelheit so gut wie gleich aus. Während er weiter versuchte, den Richtigen zu finden, entglitt ihm das große Bund und fiel metallisch klirrend auf die Steine. Er entschloss sich, kurz die Taschenlampe zu Hilfe zu nehmen und betätigte den Schalter.
Beeil dich, schneller.
Die Schlüssel lagen unmittelbar vor seinen Füßen. Er hob sie nicht mehr auf. Die Einsicht, nicht schnell genug gewesen zu sein, hatte etwas grausam Existenzielles. Im Lichtschein erkannte er deutlich den Schatten der massiven Gestalt hinter sich. Sein Herz schien stehen zu bleiben. Während er sich umdrehte um davonzulaufen, fiel ein kurzer Blick auf den, der ihn tötete. Mirko Harnisch blieb kein Hauch einer Chance, dem blitzartigen Stoß auszuweichen.
Unbeschreibliche Schmerzen breiteten sich in seiner Brust aus. Das rostige Metall, das jetzt aus seinem Oberkörper ragte, kam ihm bekannt vor. Es erinnerte entfernt an die Form eines Korkenziehers. Blut lief warm über sein T-Shirt und tropfte auf die regennassen Steine. Schwindel breitete sich hinter seinen pochenden Schläfen aus. Er torkelte. Das Herz schlug weiter, als wolle es das Ende nicht hinnehmen. So einsam wie in diesem Augenblick hatte er sich noch niemals gefühlt. Mühsam drehte er sich um, vergeblich nach Rettung suchend.
Mit einem Mal starrte er in kalte, teilnahmslose Augen ohne Gesicht, in denen weder Wahnsinn noch Mitleid zu erkennen waren. Gleichsam war ein Leuchten darin. Menschliche Züge schienen dagegen ausradiert worden zu sein. Sie musterten ihn als ein Stück Fleisch, annähernd gelangweilt und ohne Reue. Beiläufig wurde er an die Mauer gedrückt. Mit einem Ruck riss ein schwarzer Handschuh an dem Instrument, das schrecklich vulgär aus ihm ragte. Kraftvoll sprudelte das Blut aus der Mitte seiner Brust. Eine Frage, die er sich einmal in der Kindheit gestellt hatte, zuckte durch sein Gehirn.
Wie viel Blut ist in einem Menschen?
Die Antwort verteilte sich in einer ständig größer werdenden Lache vor ihm, versickerte bereits zwischen den nassen Fugen der Steine. Seine letzten Atemzüge fühlten sich heiß und schwer an. Schließlich ließ die blutgefüllte Lunge das Atmen unmöglich werden.
Einmal streckte er noch den Arm aus, als wollte er fragen: »Warum ich?«, doch ungerührt wandte sich sein Mörder ab, lief mit ruhig kontrollierten Schritten zur Burg zurück. Aus seiner geballten Faust ragte noch die skurril gedrehte Klinge, mit der er wenige Momente zuvor den jungen Studenten getötet hatte. Braun-rot vermischte sich die Farbe des Rostes auf dem alten Metall mit frischem Blut. Nach jedem zweiten Schritt der Silhouette löste sich ein roter Tropfen und fiel auf den Hof.
Als Harnischs Beine nachgaben, fühlte er schon keine Schmerzen mehr. Der Himmel war fast klar, offenbarte helle Sterne, deren ewig gleicher Anordnung die Menschen den Namen Großer Wagen gegeben hatten. Es war das Letzte, was er sah. Sein erlöschendes Bewusstsein ließ ihn noch erkennen, dass, wenn der Morgen anbräche, er nicht mehr auf dieser Welt sein würde. Die unbeweglichen Himmelskörper nahmen keinen Anteil an seinem irdischen Leid. Scheinbar neutral, doch voller Trost blickten sie auf den sterbenden Menschen. Um ihn breitete sich helles Licht aus. In Leichtigkeit schien er zu schweben. Dann fühlte er gar nichts mehr.
Als kurze Zeit später in seinem Zimmer im Turm das Licht gelöscht wurde, lag in der Dunkelheit nur noch ein aufgerissener Körper auf blutnassen Steinen.