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II

Harlequins Worte trafen Richard Ashley wie ein Fausthieb. Einen Augenblick lang wollte sich der amerikanische Reporter auf ihn stürzen, ihn ins Gesicht schlagen und von der Terrasse hinunterschleudern. Statt dessen aber lehnte er sich zurück, schloß die Augen und umklammerte das Geländer der Balustrade so fest, daß das rostige Metall in seine Handflächen schnitt. Er war krank vor Wut. Sein Magen krampfte sich zusammen.

Langsam und schmerzhaft faßte er sich wieder. Als er die Augen öffnete, stand George Harlequin noch immer vor ihm und musterte ihn mit düsteren Blicken. Endlich fand Ashley seine Stimme wieder.

«Du kaltblütiger Schweinehund! Du miserabler Dreckfink! Mehr als zehn Jahre habe ich Rossana nicht gesehen. Ich habe sie geliebt, jawohl! Ich liebe sie noch immer. Sie war meine Geliebte, und ich hätte sie auch geheiratet. Sie selbst hat sich für Orgagna entschieden. Ich habe ihr Glück gewünscht und versucht, sie zu vergessen. Mit dieser Geschichte hat sie nicht mehr zu tun als der Mann im Mond.»

«Als seine Frau ist sie immerhin in die Angelegenheit verwickelt.»

«Sie ist seine Frau, nicht meine.»

«Ich wünschte», sagte Harlequin feierlich, «ich wünschte wirklich, ich könnte meiner Motive immer so sicher sein wie Sie. Sie können sich glücklich preisen, Ashley. Es – es tut mir leid, daß ich das gesagt habe. Ich bitte um Verzeihung.»

Er streckte seine Hand aus. Ashley ergriff sie nicht. «Die können Sie für sich behalten!»

Harlequin zuckte die Schultern.

«Ich darf also annehmen», fragte er, «daß Sie die Story bringen?»

«Das dürfen Sie allerdings», sagte Ashley entschlossen. «Ich werde sie bringen. Absatz für Absatz, einschließlich Photokopien. Ich werde beweisen, daß in den Hinterhöfen von Neapel Kinder sterben müssen, weil Vittorio Orgagna amerikanische Hilfsgelder in seine eigene Tasche gesteckt hat. Ich werde beweisen, daß es zwischen Neapel und Eboli zweihunderttausend Arbeitslose gibt, weil Orgagna und seine feinen Freunde für dieses Gebiet bestimmte amerikanische Wiederaufbau-Gelder widerrechtlich in ihre Unternehmungen im Norden gesteckt haben. Ich werde beweisen, daß amerikanisches Saatgetreide an seine Parteigenossen verkauft, anstatt an Bauern verschenkt wurde. Und daß der Mann, der diesen Schwindel bewerkstelligt hat, Vittorio Orgagna war. Ich werde die Bilanzen seiner Unternehmungen veröffentlichen und die Höhe seiner geheimen amerikanischen Bankguthaben. Und Sie können meinetwegen zum Teufel gehen – Sie und die Leute, die Sie geschickt haben.»

«Sie spielen mit dem Feuer.»

«Ich spiele nicht.»

Der kleine Engländer ließ die Schultern fallen. Sein jungenhaftes Gesicht schien plötzlich grau und alt. Er wandte sich ab. Dann, als wäre ihm plötzlich ein neuer Gedanke gekommen, drehte er sich wieder zu Ashley um.

«Lassen Sie mich Ihnen einen Rat geben. Italien ist ein altes Land mit einer bewegten Geschichte. Voller Gewalttätigkeit, Korruption, Intrigen und politischer Morde. Die Familie Orgagna ist in vielen Jahrhunderten dieser Geschichte großgeworden. Seien Sie auf Ihrer Hut, lieber Freund! Seien Sie auf Ihrer Hut! Und wenn Sie sich’s überlegt haben, kommen Sie zu mir.»

«Eher treffe ich Sie in der Hölle.»

«Durchaus möglich», sagte Harlequin.

Dann war er fort, und Ashley blieb allein zurück auf der Terrasse hoch über dem sommerlichen Meer. Durch die Entfernung gedämpft, wehten die Geräusche vom Strand her zu ihm herauf. Die Rufe der braungebrannten Jungen, das schrille Gelächter der Mädchen, das Aufklatschen der Springer, die blecherne Musik aus Kofferradios und das Tucktuck eines kleinen Ausflugdampfers. Es war Ferienzeit im Süden – die Zeit für Sirenengesänge, die Zeit für Tänze der Faune. Wer klug war, verbrachte seine Tage in der Sonne und seine Nächte mit einer schönen Frau unter den Orangenbäumen oder auf dem warmen Sand vor den Klippen. Nur ein Narr wie er vertat seine Tage und Nächte damit, in den Sünden eines anderen zu wühlen.

Er fragte sich, wer von den vor sich hin dösenden Tausenden dort unten am Strand wohl die Geschichte lesen würde, die er für sie alle geschrieben hatte. Und wer würde ihm, wenn er sie gelesen hatte, dafür danken?

Wozu soll ich sie also erst schreiben? Wozu soll ich mein Leben riskieren und mein Seelenheil im geheiligten Namen der Wahrheit? Ist eine Unterzeile ein Leben wert? Lohnt es sich, für eine Revolution auch nur eine einzige Stunde am Strand mit einer aufregenden Frau zu opfern?

Was ist schon Wahrheit? Eine heilige Verpflichtung, die einem niemand dankt. Und Gerechtigkeit? Eine blinde Göttin, deren Waagschalen nie ganz richtig ausbalanciert sind. Und Stolz – Ehrgeiz – Eitelkeit? Sie alle treiben einen Mann vorwärts.

Einen Beruf habe ich gewählt, in dem ich etwas Besonderes zu leisten hoffte. Er hat mir auch Freude gemacht, und ich habe mich schließlich mit seinen Grenzen abgefunden. Und die Verantwortung für seine Sünden geteilt. Die Leistungen eines Mannes kann nur beurteilen, wer die Grenzen seiner Persönlichkeit kennt. Selbst der allmächtige Gott im Himmel mildert die Wirkung unfehlbarer Gerechtigkeit durch unendliche Gnade.

Wenn ich mich also selbst mit soviel Milde beurteile – warum dann nicht auch Vittorio, den Herzog von Orgagna?

Auch er ist nur ein Mensch, gefangen in den Grenzen seiner

Persönlichkeit, seiner Vergangenheit und seiner Aufgabe. Als Kind tausendjähriger Intrigen wurde er in einem traditionsreichen Land geboren. Sein Beruf und seine Aufgabe sind Politik und Geldwirtschaft. Auch er kann nur aus seinem Milieu heraus und im Schatten seiner eigenen Geschichte beurteilt werden. Mit welchem Recht kann ich ihn verdammen?

Es war ein ganz neuer, durchaus beunruhigender Gedanke. Doch noch ehe er sich weiter damit beschäftigen konnte, klingelte das Telephon, Ashley ging zurück in die luftige Kühle der Halle. Roberto telephonierte an der Portiersloge.

«Pronto! Come si chiama? Garofanoaspett’ un moment’.»

Er sah Ashley an. «Signor Ashley? Ein Herr möchte Sie sprechen. Ein Herr namens Garofano.»

«Bitten Sie ihn hierher.»

Roberto sprach wieder in das Telephon:

«II signore aspetta nella salone. Si, si, subito!» Er legte den Hörer auf und wandte sich Ashley zu. «Er kommt jetzt, Signore. Wünschen Sie Drinks? Ich habe nebenan noch Gäste zu bedienen, und ...»

«Nein. Nur zwei Kaffee.»

«Zwei Kaffee? Das wird ein paar Minuten dauern, Signore

«Wir werden warten.»

Roberto verbeugte sich und zog sich zurück. Einen Augenblick später trat Enzo Garofano ein.

Er war ein dünner, dunkelhäutiger, schäbig wirkender Bursche mit einem schmalen Gesicht und unruhigen, zu dicht beieinander stehenden Augen. Angezogen war er in der gerade modernen neapolitanischen Manier, mit einer kurzen, engen Jacke, Röhrlhosen und hochglänzenden überspitzen Schuhen. Er ging schnell und ruckartig, und alle seine Bewegungen wirkten nervös und gehetzt. Unter dem Arm trug er eine reichlich abgenutzte Aktentasche.

«Freut mich, Sie zu sehen, Garofano», sagte Ashley heiter. Er streckte ihm die Hand entgegen. Garofano schüttelte sie ohne Begeisterung und sagte nichts.

Der Italiener ließ sich vorsichtig in einen Stuhl sinken, lehnte seine Aktentasche gegen ein Tischbein und begann, sein Gesicht mit einem Taschentuch zu reiben. Dann steckte er das Taschentuch weg und suchte nach einer Zigarette. Ashley hielt ihm seine Schachtel hin und gab ihm Feuer. Garofano nahm ein paar tiefe Züge. Seine Hände zitterten.

«Nur Ruhe, mein Freund», sagte Ashley obenhin, «es ist ja alles vorüber. Wir werden einen Kaffee trinken, und in fünf Minuten sind wir fertig. Äh – haben Sie die Photokopien?»

«Nein.»

Ashley sprang beinah von seinem Stuhl auf.

«Was?»

«Bitte, bitte!» Garofano bewegte beschwörend die Hände. «Verstehen Sie mich nicht falsch. Ich will sagen, daß ich sie nicht hier bei mir habe. Ich kann sie sofort holen. Es ist ... es ist eine reine Vorsichtsmaßnahme, Sie versteh’n?»

«Sie haben Angst, wie?»

«In geschäftlichen Dingen – besonders bei solchen Geschäften – kann man nicht vorsichtig genug sein. Sie ... Sie haben von Ihren Vorgesetzten gehört?»

«Das habe ich. Sie sind einverstanden.»

«Wieviel?»

«Was Sie verlangt haben – zweitausend Dollar in amerikanischer Währung.»

«Hm.»

Es entstand eine Pause. Enzo Garofano musterte seine Handrücken und beobachtete dann den Rauch, der von der Zigarette zwischen seinen schmutzigen Fingern aufstieg.

Ashley sah ihn an, verwirrt und beunruhigt. Garofano blickte auf. Seine Hände zitterten nicht mehr. Seine Augen blickten stetig, und er lächelte – das selbstzufriedene, leise Lächeln des Gauners, der sich in einer vorteilhaften Lage weiß.

«Es tut mir leid, mein Freund», sagte er milde, «aber der Preis ist gestiegen.»

Ashleys Augen waren ausdruckslos.

«Wieviel?»

«Zehntausend.»

«Aus welchem Grund?»

«Das Geschäft ist rege. Ich habe ein besseres Angebot bekommen.»

«Von wem?»

Wieder musterte Garofano seine Handrücken. Ashley konnte seine Augen nicht sehen, aber er konnte den ironischen Unterton in seiner Stimme nicht überhören.

«Es ist nicht klug, bei diesem Geschäft die Namen der Kunden zu verraten.»

«Geschäft!» brüllte Ashley. Er sprang auf, packte Garofano bei den Rockaufschlägen und stieß ihn gegen die Wand. Er war außer sich vor Wut. «Geschäft sagst du! Geschäft! Und dann kommst du mir mit deinen billigen Gaunertricks! Wir haben einen Vertrag gemacht – zweitausend Dollar! Ich hab’ meinen Teil erfüllt, das Geld ist da. Und, bei Gott, du sollst deinen Teil erfüllen, und wenn ich dich dafür umbringen muß ...»

Roberto kam in den Raum gestürzt, ließ ein Tablett mit Kaffeetassen fallen, stand da, rang die Hände und jammerte vor Verzweiflung, während Ashley den hilflosen Burschen abwechselnd ins Gesicht schlug und gegen die Wand stieß.

«Signore! Um Gottes willen! Basta! Genug! Genug!»

Aber Ashley war wie blind und taub. Er ließ den zappelnden, kreischenden Gauner nicht aus, bis eine weibliche Stimme befahl: «Schluß damit, Richard, Schluß!»

Als Ashley zusammenzuckte, gelang es Garofano, sich loszureißen. Er ergriff seine Tasche und stürzte aus dem Raum.

Ashley wandte sich um. Dunkel und schön stand sie in der Tür zur Terrasse – Rossana d’Orgagna. Keuchend und fassungslos starrte er sie an – seine Geliebte aus alten, vergessenen Zeiten.

«Rossana!»

Mit offenem Mund stand Roberto zwischen den Scherben seiner Kaffeetassen.

«Kellner!» befahl Rossana. «Räumen Sie das weg, und lassen Sie uns allein!»

«Subito, Signora!»

Roberto beeilte sich, der Stimme der Autorität zu gehorchen. Er sammelte die Scherben auf, wischte die dunklen Flecken vom Teppich und eilte hinaus. Ashley stand immer noch da, als träume er.

Dann kam sie zu ihm. Sie küßte ihn flüchtig und begann sein Gesicht abzuwischen, sein Hemd zurechtzuzupfen und ihn in altvertrauter Weise zu schelten.

«Richard! Richard! Immer noch der alte Kampfhahn und Unruhestifter! Wer war nur dieser schreckliche kleine Kerl? Was war denn jetzt wieder los? Hier, nun setz dich erst mal und komm zu dir. Heilige Mutter Gottes, du hast dich wirklich nicht ein bißchen verändert.»

Sie drückte ihn in seinen Stuhl, nahm Zigaretten aus ihrer Handtasche, steckte ihm eine an und ließ ihn rauchen, bis seine Augen klar wurden und seine Hände zu zittern aufhörten.

«Jetzt erzähle, Richard.»

Ashley strich sich über die Augen und lächelte bekümmert.

«Ach – es spielt ja keine Rolle. Ich wollte Material von ihm kaufen. Wir hatten uns über einen Preis geeinigt, und jetzt, in letzter Minute, hat er ihn erhöht. Da bin ich auf ihn losgegangen.»

Lächelnd legte sie ihre Hand auf die seine.

«Ganz der alte Richard! Immer noch der alte Dickkopf, der sich über die Mißstände der Welt und ihre Skandale nicht beruhigen kann. Geduld hast du nie viel besessen, nicht wahr?»

«Jetzt habe ich jedenfalls bestimmt keine.»

«Was für eine Geschichte ist es denn diesmal?»

«Was für eine Geschichte ...?»

Erst jetzt fiel ihm ein, daß sie selbst in die Geschichte verwickelt war – weil sie nicht mehr die Geliebte von Richard Ashley war, sondern die Frau von Vittorio, Herzog von Orgagna.

Es wurde Ashley plötzlich klar, daß er ohne die Photokopien gar keine Geschichte hatte. Er dachte an Robertos dunkle Warnung und an die Begegnung mit Elena Carrese.

Er wußte jetzt, daß Rossanas Auftauchen kein Zufall sein konnte, sondern Teil eines wohlüberlegten Planes zur Verhinderung der Veröffentlichung seiner Geschichte sein mußte. Wieweit sie selbst in diesen Plan verwickelt war, wußte er nicht. Er mußte es sofort erfahren – oder zusehen, wie sein Triumph ihm im letzten Moment entrissen wurde.

«Die Geschichte? Was spielt die jetzt, wo du da bist, schon für eine Rolle? Wieso bist du hier? Wann bist du angekommen? Und warum?»

«Ich lebe hier, Richard», sagte sie. «Mein Mann hat eine Besitzung auf der Halbinsel. Drüben am Kap haben wir einen Sommersitz.»

«Oh! Ist dein Mann auch hier?»

«Er kommt heute abend von Rom. Wir essen hier, bleiben über Nacht im Hotel und fahren morgen früh in unser Haus.»

Sie sahen einander über den Tisch an. Ihre Augen waren sanft, ihre Lippen weich. Alte Erinnerungen bewegten sein Herz. Aber er war Vierzig und hatte gelernt, vorsichtig zu sein.

«Dann hast du vielleicht ein oder zwei Stunden für mich Zeit?» fragte er.

«Gewiß. Wenn du willst», antwortete sie lächelnd.

Er dachte: Nicht hier im Hotel, wo Roberto ist, und Elena Carrese. Nicht nach dem skandalösen Auftritt mit Garofano. Nicht hier, kurz bevor Orgagna kommt, und wo das Personal in Besenkammern oder auf den Korridoren tuschelt.

«Hast du einen Wagen, Rossana?»

«Ja.»

«Dann laß uns irgendwohin fahren.»

«Auf den Berg? Es ist einsam dort und still. Wir können reden und uns erinnern.»

«Komm, fahren wir!»

Als Roberto durch die Halle zurück zur Bar ging, sah er die beiden hinausgehen. Er beobachtete, wie Ashley an der Portiersloge haltmachte, sein Manuskript in einen großen Umschlag steckte und im Hotelsafe deponierte. Ihm entging auch nicht, daß sie Hand in Hand hinaus in die Sonne traten, wie ein Liebespaar.

Rasch ging Roberto hinter die Bar und hob den Telephonhörer ab.

Ashley manövrierte den großen blauen Isotta aus der Hotelauffahrt und steuerte ihn durch die engen, kopfsteingepflasterten Straßen zur Stadtmitte von Sorrent. Auf dem Platz entstiegen gerade Schwärme von Touristen den Nachmittags-Omnibussen, und die Droschkenkutscher stürzten sich auf sie. Das Klappern der Pferdehufe und das Klingeln der silbernen Glöckchen mischte sich mit dem Lärm der Hupen und dem Geschrei der Hotelportiers, die sich um das Gepäck stritten. Langsam fuhr Ashley durch die dichtgedrängte Menge und den Korso hinauf zum Grat des Kaps.

Erst als sie die erste Anhöhe hinter sich gelassen hatten und sich auf der schmalen Straße durch Olivenhaine emporschlängelten, während die Dörfer und das Meer hinter ihnen zurückblieben, begann Rossana zu sprechen.

«Es ist ganz wie früher, Richard.»

«Wie früher. Ja.»

Früher – das war vor zehn Jahren, als der Krieg noch ziemlich frisch in der Erinnerung war, als der Reporter Richard Ashley noch seine Milchzähne hatte und Rossana Benedetto ein kleines Mädchen war, froh über ihre erste Anstellung, dankbar für die Umarmung eines Mannes und für eine Essensmarke nach dem Hunger während der mageren Jahre.

Früher – das waren die guten Zeiten: ein luftiges kleines Appartement, noch ehe die Mietwucherer an die Macht kamen. Nachmittage in den Tivoli-Gärten, Abendessen in den Straßenrestaurants, Sonntagsausflüge nach Frascati und Ostia und ein gelegentliches Wochenende in Florenz oder Venedig. Früher – das waren die Tage der Leidenschaft, als Liebe allein mehr als genug und ein Trauschein eine ganz überflüssige Ausgabe zu sein schien ...

Dann hatte man Ashley nach Berlin geschickt. Zur Aushilfe, hieß es. Aber man behielt ihn länger als ein Jahr dort. Und während er fort war, kam der Brief von Rossana, in dem sie ihm sagte, daß die alten Zeiten vorüber seien, daß sie an ihre Zukunft denken müsse und einen Mann mit einem Einkommen und einem Namen zu heiraten gedenke. Er hatte ihr damals keine Vorwürfe gemacht, und er machte ihr auch jetzt keine Vorwürfe. In Italien gab es zu viele Faulenzer, zu viele wurzellose Burschen wie ihn selbst, die zwar die Leidenschaftlichkeit der Italienerinnen zu genießen, aber nicht zu heiraten bereit waren.

Alte Zeiten ... alte Gespenster. Doch die Gespenster waren noch nicht gebannt, und die alte Liebe saß ihm zur Seite, windzerzaust und wunderschön, auf der Fahrt zum Grat der Halbinsel von Sorrent.

«Hast du mich damals gehaßt, Richard?»

«Dich gehaßt? Nein. Ich glaube, ich bin immer noch ein bißchen in dich verliebt.»

«Nett, das zu hören.»

Nett zu hören. Leicht zu sagen. Aber auch gefährlich. Du magst sie wohl lieben, du darfst dich ihr aber nicht ergeben. Jetzt nicht, und niemals wieder. Sie ist der Schlüssel zu großen Geheimnissen. Du mußt dich ihrer gegen Orgagna bedienen, wie Orgagna sich ihrer gegen dich bedienen würde.

Plötzlich schämte er sich.

Ein kleiner Eselskarren kam um die Spitzkehre geholpert, und Ashley riß den großen Wagen zur Seite, um einen Zusammenstoß zu vermeiden.

Rossana schrie leise und klammerte sich an ihn. Die Nähe ihres Körpers und der Duft ihres Haares wurden ihm schmerzhaft bewußt. Dann hatten sie die Kurve hinter sich und sahen auf dem Gipfel die Ruine einer Kapelle inmitten alter Olivenbäume.

«Laß uns hierbleiben, Richard.»

«Wo immer du willst.»

«Die Einheimischen nennen diesen Platz die ‹Zuflucht›. Sehr passend, meinst du nicht auch?»

«Sehr.»

Er fuhr von der Straße herunter und über einen löcherigen, ausgefahrenen Feldweg zu der alten Kapelle. Sie hielten. Er half Rossana aus dem Wagen, und sie standen nebeneinander auf dem hohen Grat des Berges und lauschten dem schrillen Chor der Zikaden und dem verlorenen Zwitschern eines Vogels. Es war atemberaubend schön. Auf der einen Seite breitete sich die Bucht von Neapel, mit den weißen Städten und den Orangenhainen, die sich vom Rand der Klippe den Hügel hinauf bis zum Wald erstreckten. Auf der anderen Seite sahen sie die Bucht von Salerno, wo die Hügel steiler und die Städte seltener waren und wo die blühenden Bäume aus den Gräbern toter Helden wuchsen.

«Richard?»

«Ja?»

«Ich – ich bin froh, daß du noch ein bißchen verliebt in mich bist.»

«Warum?»

«Ich – ich brauche Liebe so sehr.»

In alten Zeiten hätte er sie in die Arme genommen und ihren Mund mit seinen Küssen geschlossen. Doch war er jetzt klüger und mehr auf seiner Hut. Er legte den Arm locker um ihre Schultern und grinste ein bißchen schief.

«Ich hab’ sie dir schon einmal angeboten», sagte er.

«Damals war sie mir weniger wichtig.»

«Weniger als was?» Seine Stimme war rauh, und er fühlte, wie ihre Haltung sich versteifte. «Weniger als eine feine Heirat?»

«Weniger als die Sicherheit, etwas zu essen zu haben, falls der große Reporter einmal seiner kleinen römischen Geliebten müde werden sollte.»

Ihre Offenheit drängte ihn in die Defensive. Der Boden, den er zu gewinnen gehofft hatte, war wieder verloren. Sie zog sich von ihm zurück und sah ihn an.

«Du hast mir nie gesagt, daß du mich heiraten willst», sagte er leise, fast demütig.

Sie lächelte bitter.

«Hätte das etwas ausgemacht?»

«Später hat es etwas ausgemacht.»

Sie zuckte die Schultern und starrte über das blaue Wasser in die Ferne.

«Später ist immer zu spät. Auch für mich war es zu spät.»

Jetzt war er ihrer nicht mehr sicher. Das war keine sorgsam zum Schutz ihres Mannes geplante Verführungsszene. Sie war weit weg von ihm – verletzt und kalt. Er bückte sich, pflückte einen Grashalm und begann ihn mit ruhelosen Fingern in kleine Stücke zu reißen.

«Ich habe gehofft, du würdest glücklich werden.»

«Ich hab’ nicht weniger bekommen, als ich erwarten konnte.»

«Was hast du bekommen?»

Sie musterte ihn mit trotzigen Augen.

«Alles», antwortete sie spöttisch, «alles, was ein italienischer Edelmann seiner Frau bieten kann. Ausgenommen Liebe und Treue.»

«Da ist dir eine ganze Menge entgangen.»

«Nicht mehr als den meisten, die sich auf den gleichen Handel einlassen. Männer wie Vittorio haben einen besonderen Gerechtigkeitssinn. Sie verlangen Vergnügen und Kokotten, Leidenschaftlichkeit von ihren Geliebten und Diskretion von ihren Ehefrauen. Und sie sind durchaus bereit, für diese drei Dinge zu bezahlen.»

«Versuchen sie nie, diese Talente in einer Frau zu vereinen?» Er grinste traurig. «Das wäre bedeutend billiger.»

«Mein Mann behauptet, die amerikanische Scheidungs-Statistik beweise die Unmöglichkeit.»

«Ein bemerkenswerter Mensch.»

«Sehr.»

Ashley warf den Rest des Grashalms fort, ging zu ihr und küßte sie. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie durch die Pforte in die Kapelle.

Das Gras unter den uralten Olivenbäumen war grün und weich, und von der Stelle aus, an der sie später saßen, konnten sie durch ein Gitter und ein Loch in der alten Mauer den Hügel hinab auf die tief unten im Sonnenlicht glitzernde Bucht sehen. Die Luft unter den dichten Blättern summte von Insekten.

Rossana legte sich in das warme Gras, den Kopf auf die Hände gestützt. Ashley saß neben ihr, die Arme um die Knie geschlungen, geistesabwesend und beinah ängstlich der Eröffnung entgegensehend, die unfehlbar kommen mußte.

Sie versuchten, über die alten Tage in Rom zu sprechen. Doch die alten Tage waren wie alte Küsse – kalt und schmerzhaft in der Erinnerung. So schwiegen sie und ließen die Wärme in sich eindringen, zufrieden mit ihrer Gegenwart und der trauervollen Erinnerung an das verlorene Paradies – halb bitter und halb süß.

Nach langem Schweigen sah Ashley auf sie hinunter.

«Rossana, ich muß dir etwas gestehen», sagte er leise.

«Sag es, Richard.» Ihre Stimme war schläfrig und zufrieden.

«Die letzten sechs Monate arbeite ich an einer Geschichte über deinen Mann – einer Geschichte, die ihn mit großer Wahrscheinlichkeit ruinieren wird. Was du heute in der Halle gesehen hast, gehörte dazu.»

«Ich weiß, Richard.»

«Was?» Er setzte sich steil auf und musterte sie mit zusammengezogenen Brauen. Sie lag still und zufrieden da und lächelte ihn an.

«Ich weiß, mein Lieber. Audi mein Mann weiß es. Deswegen kommt er heute hierher. Deswegen hat er Elena geschickt.»

«Wer ist Elena?»

Sie lachte leise.

«Seine Sekretärin – und seine Geliebte natürlich. Attraktiv, nicht wahr?»

«Doch, durchaus.» Er sah weg von ihr, durch das Loch in der zerfallenen Mauer, auf den schmalen Ausschnitt von See und Himmel zwischen den rostigen Gitterstangen. Was sollte er jetzt sagen? In welche Worte sollte er die Frage kleiden, die, einmal gestellt, alles zerstören konnte? Sogar das kurze Glück der letzten Stunde!

«Ich werde sie beantworten, caro mio.»

«Was wirst du beantworten?»

«Die nächste Frage. Warum bin ich hier?»

«Nun ...»

Sie setzte sich auf, legte ihren Arm um seine Schultern und sah ihn voll an.

«Ich bin hier, weil mein Mann es wollte. Die Wahlen stehen vor der Tür. Ein gewisser Schein muß gewahrt bleiben. Ich bin vorausgefahren, weil ich wußte, du würdest hier sein, und weil ich diese – diese kurze Stunde mit dir für mich haben wollte.»

«Und das ist alles?»

«Was sollte sonst noch sein, Richard?»

«Nur eins: was soll ich mit meiner Reportage machen?»

«Was willst du damit machen, caro

«Veröffentlichen.»

«Dann veröffentliche sie, mein Lieber. Es beunruhigt mich nicht im geringsten.» Sie küßte ihn und zog ihn zu sich hinunter auf das warme, zertretene Gras. Und als es Zeit zum Gehen war, fühlte er sich glücklicher als jemals in den vergangenen zehn Jahren, die voll Ehrgeiz gewesen waren.

Die Zikaden waren verstummt, und die erste sanfte Abendbrise raschelte in den grauen Blättern, als Ashley den Wagen rückwärts auf die Straße fuhr, die sich in vielen Kurven hinab nach Sorrent wand. Sie war jetzt ganz leer. Die Nachmittagsausflügler waren längst zu Haus. Und weil sich Ashley schon verspätet hatte, weil er entspannt war und glücklich, weil Kraft in seinen Händen war und Macht unter seinen Füßen, fuhr er schnell und riskant. Mit kreischenden Reifen zog er den Wagen um die Kurven. Vor der letzten Spitzkehre bremste er ein wenig, und der Wagen schwang in eine lange Gerade hinein, auf deren einer Seite ein steiler, mit uralten Olivenbäumen bestandener Hang nach oben führte, während die andere Seite jäh zur See abfiel. Er trat den Gashebel durch, und der Isotta schoß vorwärts.

Plötzlich schrie Rossana auf: Direkt vor ihnen stand ein Mann, gefährlich schwankend, auf dem Steilhang über der Straße.

Ashley trat auf die Bremse.

Im gleichen Augenblick schien es, als spränge der Mann auf die Straße, direkt vor ihren Kühler. Die Reifen kreischten, die Räder blockierten. Zu spät! Die Stoßstange erfaßte ihn, stieß ihn vorwärts. Sie spürten den Ruck, als der Wagen ihn überfuhr und ihn dann wie eine Gliederpuppe über den Schotter rollte.

Verzweifelt kämpfte Ashley, um den Wagen auf der Straße zu halten. Fünfzig Meter weiter brachte er ihn zum Stehen. Er sprang heraus, ließ die zusammengesunkene, schluchzende Rossana zurück und rannte zu dem blutigen Bündel, das mitten auf der Fahrbahn lag. Als er es umdrehte, erkannte er Enzo Garofano.

Die Stunde des Fremden

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