Читать книгу Insel der Seefahrer - Morris L. West - Страница 5
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ОглавлениеGunnar Thorkild hatte Aufklärung verlangt – und sie war ihm überreichlich zuteil geworden: Ihm wurde eine schonungslose Lektion über den Gebrauch und die Konsequenzen der Macht erteilt. Er bestand auf klaren Worten und Definitionen. Carl Magnusson gab sie ihm, in einem eindeutigen Satz nach dem anderen:
»...Was wir wollen und was wir sagen, daß wir es wollen, das sind zwei verschiedene Dinge... Warum? Weil wir uns zu einer Entdeckungsfahrt übers Meer aufmachen, um eine Insel zu finden, die bislang nur in der Legende existiert. Wenn wir unsere wirkliche Absicht verraten, wird man uns von politischer Seite aus genau unter die Lupe nehmen. Anfangs werden wir in französischen Hoheitsgewässern kreuzen, und die Franzosen sind mit ihrer Kriegsmarine und mit ihrem Abschirmdienst dort stark vertreten, um ihre Atomexperimente zu schützen. Wir fahren auf meinem Schiff, und von mir weiß man, daß ich gewisse Beziehungen zum Außenministerium und zur Marine unterhalte. Mal angenommen, wir finden unsere Insel. Dann taucht eine interessante Frage auf: Wem gehört sie? Theoretisch gesehen selbstverständlich uns. Wir können sie auch durch einen einseitigen Akt und nachweislich in Besitz nehmen – vorausgesetzt, wir sind imstande, sie gegen andere zu verteidigen, die gleichfalls Besitzansprüche stellen, und das können wir selbstverständlich nicht... Folglich nehmen wir sie im Namen der Vereinigten Staaten in Besitz und beanspruchen das Land für uns selbst... Darüber haben Sie nie nachgedacht? Stellen Sie sich nun mal vor, was die Presse daraus machen könnte, insbesondere, wenn der Name Magnusson mit ins Spiel kommt. Und ich freß ’n Besen, wenn die Franzosen uns nicht sofort einen Zerstörer hinterherschicken und uns mittels Radar von Hiva Oa aus Meile für Meile verfolgen! Was Sie also bis zur Stunde irgendeinem Menschen gegenüber von sich gegeben haben, mein lieber Thorkild, wir werden all das zurücknehmen und durch eine ausgedachte Geschichte ersetzen, die sowohl die Presse als auch Ihre Kollegen akzeptieren und hoffentlich ausschmücken werden. Immerhin haben sie Sie schon jetzt durch ihr Gelächter aus ihrem erlauchten Kreis vertrieben, und das sollte ganz hilfreich sein ...«
»Je einfacher die Geschichte, desto leichter ist sie zu erzählen. Der hawaiische Menschenfreund Carl Magnusson lädt den außerordentlichen Professor Gunnar Thorkild und eine Gruppe Studenten höherer Semester zu einer sommerlichen Kreuzfahrt im Südpazifik ein. Die Studenten möchten gern die Völkerwanderungsrouten der frühen Seefahrer nachfahren und verschiedene Südseedialekte sowie Sitten und Gebräuche studieren, Volksmusik sammeln... Punktum, Schluß!«
»Schön. Nur, daß ich meine Public-Relations-Leute dazu bringen werde, die Geschichte ein wenig zu frisieren. Warum nicht etwas Kapital daraus schlagen! Also, Sie und ich. Sie haben mir gesagt, es könnte der Augenblick kommen, da Sie aus Gründen der Stammesloyalität eine gewisse Information für sich behalten wollen. Damit erkläre ich mich einverstanden, vorausgesetzt, Sie stimmen ihrerseits zu, daß ich auf der Basis meiner eigenen Informationen und meiner eigenen Schlußfolgerungen weitermachen kann, selbst wenn das die Preisgabe des Geheimnisses oder die Besitznahme eines Stücks Erde bedeutet, das Ihnen heilig ist?«
»Wenn es dazu käme«, sagte Gunnar Thorkild, »würde ich mich von Ihnen und dem Unternehmen trennen müssen.«
»Auch von der Beteiligung an den sich daraus ergebenden Profiten oder Vorteilen?«
»Einverstanden. Es könnte aber auch sein, daß ich mich verpflichtet fühle, mich Ihnen aktiv entgegenzustellen.«
»Das dürfte Ihnen verdammt schwerfallen«, sagte Carl Magnusson.
»Lassen Sie sich warnen. Und jetzt wollen wir über das Personal reden. Es wird eine lange Fahrt werden, und deshalb täten wir gut daran festzustellen, daß wir alle miteinander auskommen müssen. Zunächst mal die Mannschaft. Das Kommando führe ich. Sie kommen als Steuermann und Navigationsoffizier mit. Ich habe neben dem Smutje und dem Küchenjungen noch vier Jungs aus Kauai, zusammen also acht Mann, und das reicht vollständig, vorausgesetzt, die Gäste übernehmen das Saubermachen und das Bedienen.«
»Das bedeutet: acht Männer«, sagte Thorkild und setzte ein Grinsen auf.
»Ganz Marinestil – in bester Tradition zwar, aber langweilig. Ich bin mehr für die Stammestradition: Männer, Frauen und Kinder und einen Wurf Schweine, alles im richtigen Verhältnis, versteht sich.«
»Bloß keine Schweine!« Magnusson lachte. Es war das erstemal, daß Thorkild ihn echt erheitert sah. »Frauen – einverstanden. Kinder... nun ja, kommt darauf an, zu wem sie gehören. Meine Frau wird nicht mitkommen. Sie haßt die See und wird froh sein, wenn sie sich ein bißchen von meiner Gesellschaft erholen kann. Deshalb werde ich Sally Anderton einladen mitzukommen. Sie ist eine ausgezeichnete Ärztin und außerdem eine verdammt attraktive Frau. Außerdem würde ich gern Gabe Greenaway dabeihaben, einen Marinehydrographen, und seine Freundin Mildred, die früher Meeresbiologin in Woods Hole war. Sie sind alte Freunde von mir und gute Kumpel auf See... Das wäre alles. In welche Richtung gehen Ihre Gedanken?«
»Ich habe bis jetzt noch keine festen Vorstellungen. Aber ich meine, wir brauchten eine Gemeinschaft, die einen inneren Zusammenhalt hat.«
»Warum sagen Sie das?«
»Weil wir in dem Augenblick, da wir auslaufen und südlichen Kurs aufnehmen, eine Gruppe sein werden, die ein großes Risiko eingeht. Wir werden in gefährlichen Breiten navigieren. Wir müssen auf Sturm und Schiffbruch gefaßt sein wie alle anderen Seefahrer auch. Das Risiko würden wir verringern, wenn unsere Gruppe einen gewissen inneren Zusammenhalt hätte, ähnlich wie eine Familie. Zum Beispiel sollte man darauf achten, daß Männer und Frauen in der Gruppe der Passagiere einigermaßen gleichmäßig verteilt sind; Sie hingegen sind bereit, ohne Frage sechs junge Männer aus Kauai mitzunehmen, die sexuell überhaupt keinen Anschluß finden werden. Das halte ich für gefährlich. Wir müssen das neu überdenken ...«
Einen Moment sah es so aus, als würde Magnusson vor Zorn in die Luft gehen, doch faßte er sich und verkündete mit ruhiger Stimme:
»Eines lassen Sie uns von vornherein klarstellen, Thorkild: Auf meinem Schiff gibt es zwei Welten – Vorschiff und Achterdeck –, zwischen denen einzig und allein der Kapitän ein Bindeglied darstellt. Höflichkeit versteht sich von selbst, aber bitte, keine Gemeinschaftsbesäufnisse. Die Mannschaft ist da, um zu arbeiten, und die Passagiere sind da, um sich zu amüsieren.«
»Das verstehe ich nach allem, worüber wir uns vorher geeinigt haben. Für Ihre Mannschaft ist das Schiff eine Verlängerung ihres Zuhauses und ihres Arbeitsverhältnisses, in dem sie mit Ihnen stehen. Für Ihre Passagiere sollte es eine Vergnügungsreise sein. Jetzt aber haben die Begriffe sich geändert. Die Passagiere nehmen an einem Unternehmen teil, das Streß und Risiken mit sich bringen wird, ein Unternehmen, dessen Ziel ihnen nur zur Hälfte enthüllt werden soll. Folglich können wir sie nicht als Vergnügungsreisende ansehen. Sie werden sehr rasch als Gemeinschaft leben müssen. Und für die Mannschaft ändern sich die Voraussetzungen womöglich noch einschneidender ...«
»Das kann ich überhaupt nicht so sehen.«
»Geben Sie mir Zeit, es zu erklären. Ob Sie es zugeben oder nicht, de facto wird es eine Rassen- und Klassenschranke an Bord Ihres Schiffes geben.«
»Unsinn!«
»Wirklich? Die Mannschaft besteht ausschließlich aus Polynesiern. Ihre Gäste werden, wie ich vermute, alle haole sein... Nein, hören Sie mich bis zu Ende an, Magnusson! Von dem Augenblick an, da wir in Hiva Oa meinen Großvater an Bord nehmen, wird die Situation sich dramatisch verändern. Es kommt ein heiliger Mann an Bord, ein kapu – Mann, der seine letzte Reise antritt, um sich seinen Ahnen zuzugesellen. Ihre Leute werden ihn als solchen erkennen und anerkennen, selbst wenn er einen anderen Dialekt spricht und zwischen Kauai und Hiva Oa zweitausend Seemeilen liegen. Alles, was Sie sehen werden, alles, was die anderen sehen werden, ist ein alter, weißhaariger Mann, der auf Rücken, Brust und Armen tätowiert ist und der niemand so recht etwas zu sagen haben wird. Nun ja. Aber wie Sie diesen Mann behandeln, wie Sie ihn unterbringen und welche Achtung Sie ihm entgegenbringen, all das wird Ihre Mannschaft mit großer Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen, wird sie sehr beschäftigen... Ja, mehr noch. Wenn Kaloni Kienga uns verläßt – und das wird er tun, denn den letzten Rest der Reise muß er allein zurücklegen –, werde ich der heilige Mann sein, der kapu. Das wird man bemerken, wahrscheinlich schon von Anfang an, und es wird sich auf alle meine Beziehungen auswirken, wird sie beherrschen... Also sollten wir uns Zeit nehmen, darüber nachzudenken, oder? Lassen Sie uns ganz offen und flexibel sein. Wenn Sie meinen, Sie könnten nicht ertragen, was das mit sich bringt – gesellschaftlich, meine ich –, dann lassen Sie uns die ganze Sache abblasen und uns nicht gegenseitig gram sein ...«
Carl Magnusson war offenkundig bekümmert. Vor sich hinbrummelnd humpelte er über die Breite der lanai hinweg, ließ Wasser in ein Glas plätschern, stürzte es auf einmal hinunter und kam dann wieder auf Gunnar Thorkild zugestapft, um sich vor ihm aufzubauen. Sein Gesicht war steinern und feindselig.
»Sie sind ein intriganter Bursche, Thorkild! Sie werfen mir ein solches Thema an den Kopf, wohl wissend, daß ich keine Möglichkeit habe, etwas dagegen zu sagen. Ich weiß, was kapu bedeutet, aber es kümmert mich nicht. Das liegt außerhalb meines kulturellen Bezugs... Diesen Standpunkt habe ich schon immer eingenommen, in bezug auf das gesamte Rassenproblem. Sie leben auf Ihre Weise, ich auf meine... Sie machen sich das Ihre zu eigen, ich das meine. Lassen Sie uns gute Zäune bauen, und wir werden alle sehr glückliche Nachbarn sein.«
»Aber in diesem Fall«, schoß Gunnar Thorkild heftig zurück, »werden wir auf demselben kleinen Schiff zusammenleben, ständig dem Zugriff desselben großen Ozeans ausgeliefert. Und – um Gottes willen! – ist es denn zuviel verlangt, wenn ich Sie bitte, einen Mann zu achten, dem zweitausend Jahre Geschichte und Wissen zu Gebote stehen? Auf der ›Frigate-Bird‹ haben Sie jedes Navigationsmittel zur Verfügung, das ihre elektronischen Einrichtungen hergeben. Ich sage Ihnen, Kaloni Kienga wird Sie zu jeder Insel im gesamten Pazifischen Ozean bringen, die Sie erreichen wollen – und wird nicht einmal einen Kompaß zu Hilfe nehmen! Allmächtiger! Was steht denn für Sie auf dem Spiel? Haben Sie denn Angst, daß er riecht? Er wird riechen. Er ißt Wasserbrotwurzeln, und davon bekommt man einen schlechten Atem. Aber alles andere – Sie werden einen Mann kennenlernen, der Sie zehnmal aufwiegt und eine längere Geschichte vertritt als sämtliche Magnussons und Dillinghams – und wenn sie die Welt noch so sehr mit Ananas überschwemmt haben. Ist es das, wovor Sie Angst haben?«
Carl Magnussons breiter Mund zuckte und wurde zu einem schmalen Strich.
»Nein, Thorkild, das ist es nicht. Ich habe Angst, was an dem Tag passieren wird, an dem Sie behaupten – ob zu Recht oder zu Unrecht, können wir nicht wissen –, daß all sein Wissen und all seine Macht auf Sie übergegangen sind.«
Das war ein erbarmungsloser Angriff, aber Gunnar Thorkild machte keine Anstalten, ihm entgegenzutreten. Die Lippen aufgestülpt, die Augen halb geschlossen, saß er lange Zeit da und nickte wie ein porzellanener Buddha und wägte das Gewicht von Magnussons Worten ab. Als er schließlich sprach, tat er das mit einer eigentümlichen Demut und Distanziertheit:
»Sie haben selbstverständlich recht. Macht zu beanspruchen und sie auch wirklich zu besitzen, sind zweierlei Dinge. Und selbstverständlich gibt es keine Garantie, daß ich sie nicht mißbrauchen werde. Ich weiß eigentlich nicht recht, was ich sagen soll. Das werde ich erst dann wissen, wenn die mana meines Großvaters auf mich übergeht... Verzeihung, aber wissen Sie, was mana bedeutet?«
»Es bedeutet ›Geist‹, ›Seele‹... so etwas Ähnliches.«
»So etwas Ähnliches, und doch etwas völlig anderes. Es bedeutet die Ausstrahlung, die Gabe der hohen Götter, die den Häuptling zu dem machen, was er ist, den großen Seefahrer zu dem machen, was er ist. Bis jetzt habe ich es noch nicht empfangen, und ich kann nicht sagen, wie sich das auf mich auswirken wird. Deshalb haben Sie recht, wenn Sie Angst haben, aber ich hatte auch nicht unrecht, als ich Ihnen alles andere erzählte. Ich bin bis ins Mark meiner Knochen davon überzeugt, daß wir offen dafür sein sollten zusammenzuwachsen. Andererseits ist es natürlich Ihr Schiff und Ihr Geld. Nur Sie können beurteilen, ob Sie bereit sind, beides unter diesen Bedingungen einzusetzen.«
Magnusson zögerte einen Augenblick, dann reichte er Thorkild die Hand.
»Abgemacht! Ich bin kein flexibler Mann, und Sie sind auch nicht gerade einfach. Wir werden ein wenig Geduld miteinander haben müssen. Lassen wir es für heute gut sein und uns Ende der Woche wieder treffen.«
»Kommen Sie zu mir, Mr. Magnusson. Ich habe ein paar Dinge, die ich Ihnen gern zeigen möchte, und ein paar Leute, von denen ich möchte, daß Sie sie kennenlernen.«
»Bringen Sie sie hierher. Ich verlasse mein Haus heute nur noch selten.«
»Dann ist es vielleicht an der Zeit, das zu ändern«, erklärte Gunnar Thorkild ungerührt. »Bei meinem Volk bedeutet es Schande über ein Haus bringen, wenn ein Fremder sich weigert, einzutreten und das Mahl mit den Bewohnern zu teilen.«
»Bei meinem Volk«, sagte Carl Magnusson und grinste, »sind gute Manieren selten – und werden immer seltener. Rufen Sie mich an. Ich werde gern kommen.«
Als er beim Jesuitenhaus vorbeifuhr, um Flanagan seinen Dank abzustatten, mußte er feststellen, daß der alte Mann bei der ganzen Sache seine Zweifel hatte und voller Unbehagen war. Als er ihn drängte zu erklären, warum, verfiel dieser in übertriebene Geschäftigkeit und wurde ganz zappelig, kehrte den breitsprechenden Iren und das Großmaul heraus und schaffte es in geschlagenen zehn Minuten, eigentlich so gut wie gar nichts zu sagen. Dann fiel er einer so schrecklichen Migräne zum Opfer, daß selbst ein in Flüstertönen hervorgebrachtes Wort wie ein Schmiedehammer in seinem Kopf wirkte. Erst nachdem Thorkild ihn schweigend in seinem Rollstuhl durch den Garten gefahren hatte, wurde ihm etwas wohler, und zuletzt ließ er sich herbei, eine Erklärung zu geben:
»... Gunnar, mein Junge, es ist folgendermaßen. Früher, als ich Geld für wohltätige Zwecke auftrieb – zum Beispiel Nadelgeld für die Braut Christi sammelte, wie einer meiner frommen Oberen es nannte –, machte ich mich immer unmittelbar an die großen Fische heran, an diejenigen, die die Macht in Händen halten. Der Betreffende mußte nicht notwendigerweise Katholik sein, ja, es war sogar besser, wenn er es nicht war. Dann konnte er über die Botschaft hinweggehen, brauchte bloß den Scheck auszuschreiben und konnte sich hinterher dem wohligen Gefühl hingeben, ein gutes Werk getan zu haben... Diese Taktik hat schon etwas Weises, und erfolgreich war sie eigentlich auch fast immer, denn wenn man reich und mächtig ist, kann man etwas tun, was der arme Mann nicht kann – immer etwas mehr investieren, als unbedingt nötig: soundsoviel für Vergoldungen, soundsoviel für Wertpapiere, soundsoviel für wohlwollende Behandlungen und außerdem noch eine gewagte Spekulation auf jeden gängigen Gott – den jüdischen, den episkopalischen, den katholischen und den unitarischen! Danach setzt man noch eine Kleinigkeit auf die jungen Renner und auch etwas auf die Füllen – und sogar noch einen kleinen Einsatz auf die Mafia, falls das eines Tages nützlich sein sollte... Also brauchte ich nichts weiter als ein bißchen Überredungskunst und ein dickes Fell, und im allgemeinen zog ich dann mit meinem Schinken ab... Genau das habe ich für dich bei Magnusson eingesetzt. Ich habe ihn auch schon früher angezapft. Wir stehen schon lange in Kontakt. Gewiß, sagte er, das sei genau jene Art von abenteuerlichem Projekt, das er gern finanziere; und diesmal besitze es einen besonderen Reiz für ihn... Hörst du mir überhaupt zu, Gunnar Thorkild?«
»Ja, ich höre zu, Pater. Ich frage mich bloß, warum Sie sich solche Sorgen machen.«
»Nun ja, er erzählte mir, was ihm zugestoßen sei – die Sache mit dem Schlaganfall –, und da war es, als ob ich in einen Spiegel blickte und mir selbst hinter die Schliche käme. Verstehst du, zuerst, wenn es einen erwischt, dann welkt man einfach so dahin; aber dann fängt man an zu kämpfen. Das ist eine Sache der Hoden – die kleinen Bestätigungen, die man braucht, die einem beweisen, daß man ein Mann ist. Naja, kämpfen ist gut – bis zu dem Tag, an dem man erkennt, daß man nie gewinnen wird. Man hat etwas abgekriegt. Die Zeit läuft gegen einen. Daraufhin fängt man an, alles zu tun, daß es weitergeht – man mobilisiert Liebe und Freundschaft, kauft sich Bundesgenossen, geht Bündnisse ein und schließt Verträge ab – Dinge, die sämtlichst ein Ende finden, sobald sie einem die Augen zudrücken und einem das Leichentuch übers Gesicht ziehen. Du kennst das ja. Ergo kehrt man sich nach innen, hält Ausschau nach der kleinen, sanften, schwer greifbaren Seele, über die man bis dato eigentlich nicht sonderlich viel nachgedacht hatte. Dann kriegt man es mit der Angst zu tun, und manchmal packt einen sogar die Verzweiflung; denn zuerst sieht man ja nichts als Dunkelheit, später erkennt man Schatten und Irrlichter und manchmal Ungeheuer, die einem die Haare zu Berge stehen lassen. Da läuft es einem eiskalt über den Rücken... Ich kenne das, denn das habe ich alles schon durchgemacht. Das ist der Augenblick, in dem man wirklich in Gefahr ist, weil man sich in die Ecke gedrängt fühlt, der blasse Neid einen packt und man voll von Haßgefühlen ist. Manchmal wird man dann zerstörerisch... Tja, und das ist es, was mir bei dir und Carl Magnusson Sorgen macht. Ich weiß, daß er schon mit einem Bein im Grab steht, aber ich weiß nicht, ob du der Mann bist, mit ihm fertig zu werden... Vielleicht kommt dir das alles übertrieben und haarspalterisch vor, aber ...«
»Ich weiß, was Sie meinen.« Thorkild war plötzlich in sich gekehrt und versank in Nachdenken. »Ein bißchen davon habe ich heute gespürt, bloß hab’ ich’s nicht so definiert wie Sie eben. Er mußte seine Macht zur Schau stellen. Er wollte, daß er allein alle Bedingungen für unser Bündnis stellte, nur war ich nicht geneigt, mich darauf einzulassen. Und dann hatte er Angst vor dem, was passieren könnte, wenn die mana von Kaloni, dem Seefahrer, auf mich übergeht ...«
»Er hatte Angst, sagst du? Bist du da ganz sicher?«
»Nein. Er hat gesagt, er habe Angst... und das ist selbstverständlich etwas anderes. Ich hatte das Gefühl, er wolle mich bloß warnen, keine zu großen Rosinen im Kopf zu haben; aber das war nicht alles.«
»Damit hast du verdammt recht«, erklärte Flanagan plötzlich ungewöhnlich heftig. »Bei weitem nicht alles!«
Unvermittelt hatte Thorkild Angst um den alten Mann. Er war dermaßen erregt und so heftig, daß es schien, als könnte sein hinfälliger Körper die Spannung nicht ertragen. Thorkild versuchte, ihn mit einem Lächeln und einem leicht dahingesprochenen Wort zu beschwichtigen:
»Nun mal ganz ruhig, lieber Pater! So wichtig ist es nun auch wieder nicht.«
»Das sagst du! Ich aber sage dir, gerade das ist es, worum es bei dieser ganzen Sache geht. Ich weiß, was mana und das Weitergeben von Macht bedeutet. Ich habe bei Null angefangen – ein Bostoner Irenbengel mit runtergelassenen Hosen. Ich hab’ mir meinen Aufstieg sauer verdienen müssen: zuerst draußen auf der Straße Kämpfe, und abends Striemen auf dem Hintern. Dann trat ich der Gesellschaft bei. Plötzlich war ich eine geheiligte Person – kapu! Ich konnte nicht heiraten! Es galt als Sakrileg, meine geweihte Person zu berühren. Ich studierte; Wissen wurde auf mich übertragen, Jahr für Jahr. Dann wurde ich ordiniert... Ein geheiligter Mann, der Bischof, der seine mana vom Papst hatte, welcher seine mana wiederum vom Fischer Petrus hatte, der die seinige von Christus empfangen hatte. Der legte seine Hände auf mich und sprach: ›Jetzt bist du für immer ein Priester nach dem Orden des Melchisedek‹... Und heute bin ich ein großer kapu! Ich heiße die Neugeborenen willkommen und schicke die Sterbenden heim. Ich verwandle Brot in Gottes Leib. Ich erlasse Sünden und teile Vorschriften für die Rettung der Seele aus. Deine Frau – wenn du eine hättest – erzählt mir, was sie im Bett mit dir treibt, und ich sage ihr, ob das gut oder böse ist. Du bringst in einer schönen Sommernacht den Vorsteher um, und wenn ich finde, daß es dir leid genug tut, schicke ich dich mit sauberem Gewissen und sicher vor der Verfolgung durch Gott fort, ohne daß irgendeine Menschenseele davon erfährt. Das ist eine gewaltige Gabe. Gott und Flanagan bilden heimlich ein Paar. Und was geschieht jetzt mit Flanagan? Entweder er wird so heilig und steigt so hoch und wird so mächtig, daß er sich für den Herrgott selbst hält, oder aber er hält die Spannung nicht aus und flüchtet sich in den Alkohol oder versucht, seine weiblichen bußfertigen Schäfchen zu verführen! Oder er versucht, die mana ganz und gar loszuwerden – macht sich zu einem guten Kumpel, einem fröhlichen Klub-Ratgeber, einem Mister Niemand, der für alles so viel Verständnis aufbringt, daß ihm sein Verstand schon zu den Ohren herausläuft... Lach nicht! Das ist die reine Wahrheit! Jemand wie Magnusson kann trotz all seiner Millionen nicht annähernd diese Art von Macht erringen. Deshalb versucht er, sie sich mittels einer Stiftung zu kaufen, sie durch übertriebene Mildtätigkeit zu beherrschen; und ich – Gott sei meiner Seele gnädig! – ich kann so tun, als ob ich sie mit ihm teilte. Das ist es, was er mit dir versuchen wird. Mit seinem Geld und seinem Einfluß wird er dich weit tragen, doch dann, eines Tages, wirst du feststellen, daß er auf deinem Rücken sitzt wie der alte Mann aus dem Meer, und er wird bitten und betteln, daß du ihn bloß noch eine Legua weiterträgst ...«
»Und dann?«
»Dann wirst du versuchen, es zu tun – weil du dir einbildest, daß deine mana stark genug ist. Aber das ist sie nicht – und kann es auch nicht sein. Denn das Schilfrohr ist nicht der Wind, der es beugt, und Gunnar Thorkild ist auch bloß ein Mensch, dessen Herz versagt, dessen Prostata überbeansprucht ist und dem vor lauter Komplikationen und Konfusionen schier der Kopf platzt.«
»Was wollen Sie mir eigentlich sagen, Pater? Daß ich das Ganze abblasen soll?«
»Das wirst du nicht tun, weil du dich bereits entschieden hast.«
»Was dann?«
»Gunnar Thorkild, ich liebe dich wie meinen eigenen Sohn; aber ich weiß nicht, was ich dir raten soll. Die mana wird kommen, aber du wirst darunter leiden. Menschen werden sich auf dich stützen, und du wirst unter der Last zusammenbrechen. Sie werden dich wieder aufrichten, und du wirst sie hassen wegen des Glaubens, den sie in dich setzen. Du wirst versuchen, ihnen zu entfliehen, aber sie werden dich nicht entkommen lassen. Was du dann tun wirst, weiß Gott allein. Noch sterbend wirst du ihn anflehen, es dir zu sagen; oder aber du wirst leben und ihn anflehen, dich sterben zu lassen, weil die Bürde unerträglich geworden ist.«
»Nun aber mal ruhig, Pater! Sie machen ein furchtbares Aufheben um eine unbedeutende Sache.«
Flanagan machte zitternd den Versuch, sich wieder zu fassen. »Gewiß, Junge! Das ist es, was die Ärzte mir gesagt haben, oder etwa nicht? Daß es bei mir zu Krisen und Ausbrüchen kommen wird... Gib nicht auf mich acht. Ich lass’ bloß meine schlechte Laune an dir aus. Deine Reise wird herrlich werden – und am Ende dieser Reise werde ich dort sein, dich willkommen zu heißen! Jetzt bring mich rein! Es ist fast Zeit, in die Kapelle zu gehen!«
Der Ausbruch des alten Mannes beunruhigte ihn. Er ließ quälende alte Erinnerungen in ihm wach werden, Gespenster von früher. Er empfand es als ausgesprochen angenehm, daß James einfach mit gesundem Menschenverstand an die Sache heranging. Für ihn, James Neal Anderson, war die ganze Angelegenheit nichts weiter als die saubere Lösung einer diplomatischen Krise.
»Ich könnte, offen gestanden, nicht glücklicher sein, Gunnar. Magnusson ist schon immer ein großzügiger Wohltäter der Universität gewesen, und deshalb wird es mir ein leichtes sein, Ihnen einen Studienurlaub zu verschaffen, ohne daß es den Anschein hätte, als sollte der dazu dienen, Ihrem verletzten Stolz wieder auf die Beine zu helfen... Außerdem nimmt die Tatsache, daß Sie die Fahrt öffentlich als Studienreise hinstellen statt eines sensationellen Versuchs, Ihren angeschlagenen Ruf wiederherzustellen, der Situation hier auf dem Campus etwas von ihrer Hitzigkeit und läßt sie der Verwaltung, das muß ich offen gestehen, in einem günstigeren Licht erscheinen.«
»Protektion ist schon eine feine Sache, was, James?«
Anderson war entkrampft genug, um den Witz nicht übelzunehmen.
»Vorausgesetzt, es gelingt einem, seinen Gönner bei Laune zu halten. Was mich daran erinnert – wie wollen Sie die Studenten für Ihre Expedition aussuchen?«
»Zu gleichen Teilen aus Studenten und Studentinnen, und zwar aufgrund ihrer bisherigen Leistungen, ihrer Befähigung zu originaler Forschungsarbeit und der Fähigkeit, sich anomalen gesellschaftlichen Situationen anzupassen.«
»Und wer soll das entscheiden?«
»Ich.«
»Ist das ratsam?«
»Es ist notwendig.«
»Nehmen Sie einen Rat von einem Mann an, der Narben auf seinem Buckel trägt. Treffen Sie meinetwegen die Entscheidungen, aber lassen Sie die Verantwortung jemand anders übernehmen.«
»Und wen in diesem Falle?«
»Den Schirmherrn – Magnusson.«
»Und wie bringe ich ihn dazu, das zu tun?«
»Verlangen Sie Bewerbungen; stellen Sie eine kurze Liste von einem Dutzend Anwärtern auf, besorgen Sie sich deren Unterlagen und legen Sie all das Magnusson vor. Sorgen Sie dafür, daß er die Leute auswählt, die Sie wollen, und dann überlassen Sie es ihm, laut zu verkünden, wen er gewählt hat.«
»Großartig! – Wenn er sich dazu hergibt. Wenn er aber anfängt, mich an der Nase herumzuführen, dann sitze ich in der Klemme.«
»Warum sollte er Sie an der Nase herumführen?«
»Um mir klarzumachen, wo ich hingehöre.«
Anderson brach in ein übertriebenes Lachen aus und verschluckte sich an seinem Whisky. »Das ist phantastisch... endlich fangen Sie an zu lernen... da habe ich mich jahrelang bemüht, Ihnen diplomatisches Vorgehen beizubringen, und Magnusson schafft das in einer einzigen Lektion.«
Thorkild grinste ihn mit schiefem Gesicht an. »Lassen Sie mich Ihnen zeigen, wie gut ich es gelernt habe, James! Ich werde Bewerbungen verlangen. Ich werde die kurze Liste aufstellen. Sie treffen als Institutsvorsteher die letzte Auswahl unter den Kandidaten, die Magnusson dann nur noch gutheißen muß – und vor allem sorgen Sie dafür, daß es alles meine Leute sind, diejenigen, auf die ich gesetzt habe.«
»Und warum sollte ich mich zu diesem kleinen Scherz hergeben, Professor Thorkild. Während Sie sich auf eine lustige Kreuzfahrt begeben, bleibe ich zurück und muß bei den Studenten und den Kollegen den Sündenbock spielen.«
Das sagte er unter Glucksen, doch Thorkild war nicht mehr belustigt. Seine Antwort war wohlüberlegt und sehr düster. »Sie sind ein guter Freund, James. Ich möchte Sie nicht über Gebühr in Verlegenheit bringen. Aber egal wie, ich muß zu den Leuten kommen, die ich haben will. Warum? Weil das Meer groß und tückisch ist; weil ich mich jetzt, wo ich mich entschlossen habe, einem Stammesmysterium stellen muß, das ich nicht einmal mir selbst erklären kann... Ich habe Angst vor dem, was ich tue, obwohl ich genau weiß, daß ich es tun muß. Und weil ich Angst habe, brauche ich jede Unterstützung, die ich bekommen kann – von Leuten, die ich kenne, Leuten, die ich mag und denen ich vertrauen kann, weil sie mir schon früher bei meinen persönlichen Schwierigkeiten zur Seite gestanden haben. Sie müssen wissen, daß sie ein Risiko eingehen, obgleich nicht einmal ich ihnen sagen kann, wie diese Risiken aussehen, weil ich sie nicht einmal selbst alle kenne. James, ich drücke das sehr unbeholfen aus, aber ...«
»Sie kneifen.« Anderson war knapp und bündig. »Da sind Sie mir schon Besseres schuldig.«
»Es gibt nichts zu erzählen. Es ist alles ein Hirngespinst.«
»Dann erzählen Sie mir von diesem Hirngespinst.«
»Ich glaube, ich hätte lieber noch einen Drink.«
»Erst wenn Sie dafür bezahlt haben.«
»Dann versprechen Sie mir jedenfalls eines.«
»Was?«
»Daß die Sache zwischen uns bleibt – denn schließlich ist es nur ein Hirngespinst, und es ist töricht von mir, deswegen Angst zu haben.«
»Einverstanden.«
»Ich glaube, daß die Insel existiert. Und ich glaube von Tag zu Tag mehr, daß wir sie finden werden. Wovor ich Angst habe, ist, was dann passiert.«
»Warum?«
»Von allen großen Seefahrern, die dorthin gegangen sind, ist keiner jemals zurückgekehrt. Das ist alles. Punktum, Schluß. Und wenn Sie jetzt über mich lachen, dann schlage ich Ihnen diese Whiskyflasche über den Schädel.«
»Ich lache ja gar nicht. Ich überlege mir nur, wann und wie Sie das den Leuten erklären wollen, die mit Ihnen fahren werden... Und wie sie es aufnehmen werden, wenn Sie es ihnen erzählen. Und wie Sie reagieren werden, wenn sie es schlecht aufnehmen.«
»Deshalb brauche ich ja gerade eine Chance, die richtigen Kandidaten auszuwählen.«
»Das habe ich durchaus begriffen.«
Gunnar Thorkild stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus. »Dann verstehen jedenfalls Sie das.«
»Warum sollte ich nicht?«
»Weiß der Himmel! Ich nehme an, bis heute habe ich Sie mit viel zu großer Selbstverständlichkeit betrachtet. Sie waren ein Freund für mich. Sie waren einfach da... tut mir leid.«
»Meine Frau hat früher ein Album besessen, in dem sie alles mögliche sammelte.« Anderson war plötzlich ganz abwesend, als ob die ganze Sache auf einmal belanglos geworden wäre. »Darin hat sie sich Dinge aufgeschrieben, die sie interessierten. Sie hatte eine wunderschöne Handschrift – eine Art gotischer Schrift. Es war eine Freude, sie nur anzusehen. Als sie starb, konnte ich es nicht mehr ertragen, das Album zu behalten, und so habe ich es verbrannt. Trotzdem erinnere ich mich an bestimmte Stellen, Ausschnitte, Sätze, Verse. Einen hat sie erst wenige Wochen vor ihrem Tode aufgeschrieben. Wie fing er noch an?
›Sonderbar, nicht wahr, daß von all den vielen,
die vor uns durch das Tor des Dunkels gingen ...‹
... Mir hat der Ausdruck ›Tor des Dunkels‹ immer gefallen. Als ob das Versprechen von Licht auf der anderen Seite darin enthalten wäre. Doch das hat der alte Omar Kayam keineswegs gesagt. Die Strophe endet so:
›Keiner kehrt zurück, uns von der Straße zu
berichten, die zu entdecken wir uns selbst
aufmachen müssen.‹
... Das sagt alles, finden Sie nicht?«
»Mir nicht, James. Und meinem Volk auch nicht. Die Straße ist bekannt, ebenso der Ort. Aber das Wissen darum wird den Zurückgebliebenen nicht einfach erklärt – es wird vielmehr von den hohen Göttern weitergegeben, die der Anfang von allem sind. Was nicht berichtet wird, ist, was geschieht – das Hinterher.«
»Das Hinterher ist das, was Sie draus machen.« James Neal Anderson war schroff und ungeduldig. »Das habe ich nach dem Tod meiner Frau gelernt. Man lebt Minute für Minute, Stunde für Stunde, Tag für Tag. Die Zukunft besteht aus dem, was man erträumt. Wirklichkeit ist nur im Jetzt – im Herzschlag des Augenblicks. Alles andere sind Hirngespinste.«
»Ich habe ja nie gewußt, daß es so schwer für Sie gewesen ist, James.«
»Da ist noch etwas, was Sie nie gewußt haben, Gunnar. Ich habe Sie beneidet – tue es noch. In meiner Welt leben alle abgekapselt in Plastikkokons. Wir sehnen uns danach auszubrechen, aber wir wagen es nicht.«
»Machen Sie sich nichts vor«, sagte Thorkild nicht gerade liebenswürdig. »Gefangene sind wir alle – unserer Gene, unserer Geschichte, der langen Träume unserer Ahnen. Ich nehme an, das war der Grund, warum mir so viel daran lag, den Lehrstuhl zu bekommen. Ich hätte meiner Vergangenheit entrinnen und mich in einem Plastikkokon abkapseln können. Jetzt muß ich mich ihr stellen, sie in mich aufnehmen wie Dampf vom letzten Atemzug eines alten Mannes... Bekomme ich jetzt meinen Drink?«
»Ich werde mir selbst auch noch einen genehmigen... Und ehe wir betrunken werden, täten Sie gut daran, mir die Liste Ihrer Kandidaten aufzustellen.«
Noch einer weiteren Begegnung mußte er sich stellen – und zwar derjenigen, auf die er am wenigsten vorbereitet war. James Neal Anderson mochte in seinem Plastikkokon leben; Flanagan, S.J., war aus seinem dunklen Land ins Zwielicht der Resignation aufgestiegen; Martha Gilman hingegen hatte sich in einem Eispalast eingeschlossen, aus dem weder Zärtlichkeit noch Vernunftgründe sie hervorzulocken vermochten. Alles in ihrem Leben diente der Verteidigung: ihre zwanghafte Arbeit, ihr schlampiges Aussehen, ihre ätzende Unterhaltung, die krächzende Disziplinierung, die sie auf einen rebellierenden Jungen ausübte. Sie ertrug das Leben wie ein härenes Gewand, eine heimliche Buße für den Mann, den sie zu früh geheiratet und allzu unversehens der Sucht und dem Tod überantwortet hatte.
Trotzdem war sie voller Leidenschaft und erfüllt von einer Sehnsucht, die sie nicht losließ und sie zuzeiten verletzlich und hinterher außerordentlich gallig machte. Anfangs hatte sie sich Gunnar Thorkild gegenüber als mögliche Eroberung dargestellt, dann als Gegenstand des Mitleids und erst viel später als Gefährtin einsamer Stunden. Nur ein einziges Mal waren sie fast so etwas wie ein Liebespaar geworden, doch da war er es gewesen, der sich zurückgezogen hatte, als ihm unversehens aufgegangen war, welche Bürden sie sich gegenseitig aufladen würden – und davor hatte er Angst gehabt. Sie hatte das Bedürfnis nach festen Bindungen, er nach Freiheit. Sie wollte erobert werden, er die freie und unbekümmerte Liebe der Polynesier-Mondschein- und Strandspiele und morgens ein Lächeln zur Begrüßung. Das Ende von allem war ein Waffenstillstand gewesen – ein heikler zwar, aber immerhin haltbar, liebevoll, immer freilich ein wenig schmerzlich, wachsam, und doch beiden einen gewissen Schutz bietend.
Martha Gilman zwang ihn, die andere Hälfte seines Ichs – die des haole in ihm – anzuerkennen und ihre Wirklichkeit zu schätzen. Sie war es, die Engagement von ihm verlangte, forderte, daß er seinen Vertrag mit der Gesellschaft aufkündige, welche sein Gehalt zahlte und junge Gemüter seiner Obhut anvertraute. Was er ihr gab, war schwerer zu definieren: eine Wärme im Eispalast, ein Fenster, das der Sonne geöffnet war, ein Augenzwinkern für die Frau, die sich hinter dem schwarzen Panzer der arbeitenden Witwe verschanzte. Dem Jungen, Mark, war er ein männlicher Kamerad, gelegentlich ein guter Ratgeber, der ihm aber auch bisweilen hart die Meinung sagte, was er von ihm annahm, ohne ihm deshalb böse zu sein. Er hätte mehr geben können, aber Martha war stets darauf bedacht, jede Beeinträchtigung ihrer Autorität zurückzuweisen.
Es war eine sonderbare Beziehung, welche die beiden miteinander verband, ein Fressen für Klatsch und Partygerede; aber er brachte es nicht fertig, sich ohne weiteres und ohne zurückzuschauen davon zu lösen. Daher rief er Martha nach der letzten Vorlesung eines Tages an und lud sie zum Abendessen ein. Sie erhob Einwände wie immer, ließ sich dann aber doch überreden, vorausgesetzt, sie würden nicht zuviel trinken und nicht zu spät heimgehen; außerdem müsse sie eine Nummer hinterlassen, unter der Jenny sie nötigenfalls anrufen könne. Er schwor, alles einzuhalten, und versprach, gegen sieben auf einen Cocktail zu kommen und ihr zu erlauben zu fahren, falls er zuviel getrunken hätte. Danach rief er Anna Wei vom Manchu House an, bestellte einen Tisch in einer abgeschlossenen Nische und ihr bestes Essen – und sann traurig darüber nach, warum er wohl einen so großen Umweg machte, obgleich so wenig für ihn dabei heraussprang.
Es war Jenny, die ihm die Tür öffnete – unförmig, redselig und häuslich, Lockenwickler im Haar, ein Stück Schokolade in der einen und ein Taschentuch in der anderen Hand.
»Hallo, Prof! Kommen Sie rein. Martha zieht sich noch um, und Mark sitzt über seinen Hausaufgaben. Er darf erst fernsehen, wenn er damit fertig ist.«
»Wie steht’s, Jenny?«
»Fabelhaft, einfach fabelhaft – jetzt, wo ich Martha dazu gebracht habe, etwas Ordnung in ihr Leben zu bringen.«
»Noch einmal!«
»Wir haben eine Übereinkunft getroffen. Ich räum’ nicht ihr Atelier auf, und sie murkst nicht im Haus herum. Vom Frühstück an bis zu der Zeit, wo Mark seine Schulaufgaben gemacht hat, bin ich für ihn verantwortlich und hinterher Martha.«
»Tut dir also nicht leid, daß du hergekommen bist?«
»Im Gegenteil. Ich bin froh. Jetzt bin ich erst dahintergekommen, was für ein häusliches Wesen ich im Grunde bin. Was möchten Sie trinken?«
»Ich hol’ mir schon was. Und wie findet Mark das neue Arrangement?«
»Gut. Ich bin seine große Schwester. Und jetzt, wo Martha nicht mehr dauernd an ihm herumnörgelt, erweist er sich als sehr helle und ist auch viel leichter zu führen. Martha sagt, ich kann wieder herkommen und das Baby mitbringen, wenn ich will.«
»Und du?«
»Vielleicht. Im Moment ist es ein stehender Witz zwischen uns. Zwei ledige Frauen spielen Vater und Mutter für anderthalb Kinder. Mir – mir geht’s gut, Prof. Ich hab’ einfach keine Lust, mir den Kopf allzu viel über die Zukunft zu zerbrechen.«
»Darauf möchte ich trinken, Jenny.«
»Hallo, Onkel Gunnar.« Mark Gilman grüßte leichthin, als er hereinkam und hielt sein Übungsheft hin, damit Jenny es nachsehen konnte. »Sieh nach, ob’s stimmt, Jenny. Die Sendung fängt in fünf Minuten an.«
Jenny fuhr ihm liebevoll durchs Haar.
»Hast du nicht etwas vergessen, Kleiner?«
»Was denn?«
»Zum Beispiel: ›Bitte, Jenny‹?«
»Bitte, Jenny.«
Während er trank, beobachtete Gunnar Thorkild sie, die Kind-Mutter und den Jungen, der noch ein Kind war, wie sie sich beide über das Heft beugten, und unversehens wallte bei diesem Anblick ein beglückendes Gefühl in ihm auf. Dann trat Martha ein, und er konnte sich nur wundern, wie sehr auch sie sich verändert hatte. Sie war frisch und modisch frisiert und trug ein neues Kleid. Der altvertraute Ausdruck in ihrem Gesicht – halb Willkommen und halb Überdruß – war verschwunden. Ihr Lächeln und ihre Begrüßung hatten etwas Weiches. So hatte er sie bisher noch nie erlebt. Sie errötete, als er sie anstarrte, und sagte:
»Nun, gefällt es dir oder nicht?«
»Was? Das Kleid oder der Inhalt?«
»Beides.«
»Gut... ein Drink?«
»Bitte.«
Er nahm sich Zeit, ihn zu mixen, und gab acht, kein unbedachtes Wort zu sagen, um die zerbrechliche Harmonie des Augenblicks nicht zu zerstören. Martha fragte ihn:
»Wohin gehen wir?«
»Ins Manchu House. Anna Wei hält dort ihr bestes Essen für uns bereit.«
»Was ist denn? Gibt es etwas zu feiern?«
Er hob das Glas in Richtung auf Jenny und den Jungen.
»Immerhin eine Gelegenheit. Du siehst besser aus, als ich dich jemals in den letzten Jahren gesehen habe.«
»Das liegt nur an Jenny – und dir.«
»Gern geschehen, Madame.«
»Und wie steht’s mit deinen Plänen?«
»Ach, sie machen sich. Das erzähl’ ich dir später.«
»Hört sich geheimnisvoll an.«
»Es ist kein Geheimnis. Es ist nur eine lange Geschichte, und es ist leichter, sie beim Essen zu erzählen. Was macht deine Arbeit?«
»Immer noch genug zu tun. Aber ich werde jetzt leichter damit fertig. Ich muß mich noch entschuldigen bei dir – wegen neulich abend. Aber ich war durcheinander und reichlich unglücklich und hatte keinerlei Recht, die Dinge zu sagen, die ich gesagt habe.«
»Ich habe sie nicht gehört.«
»Nächstes Mal schreie ich. Ich bin eine Frau, die erwartet, daß man ihr Gehör schenkt.«
»Heute abend wirst du es sein, die zuhört, Martha Gilman – und wenn du überhaupt den Mund aufmachst, dann sorge dafür, daß Honig von deinen Lippen fließt. Abgemacht?«
»Ich werd’s versuchen.«
Während sie durch die linde Nacht dahinfuhren, saß sie entspannt und wegen der ihnen entgegenkommenden Autos mit ihren Scheinwerfern mit geschlossenen Augen da und erzählte in grüblerischen, aber unzusammenhängenden Sätzen, so ganz anders, als es sonst ihre Gewohnheit war. Sie schien eine andere Frau zu sein.
»... alles in allem eine lustige Woche... Diese Jenny! Nach nichts hat sie ausgesehen, ein Kloß – und dann von einem Tag auf den anderen mein Leben umkrempeln! Man merkt das gar nicht, bis man es sich genau ansieht... Es gehört schon Mumm dazu, ein Kind ohne Vater zur Welt zu bringen... Ich habe versucht, mit ihr zu rechten, aber sie hat mich abblitzen lassen... Sie sei kein heimatloses Kind, hat sie gesagt. Wie altmodisch das klingt! Wenn sie nicht willkommen sei, würde sie wieder gehen. Wenn sie aber bliebe, müsse sie arbeiten, und das könne sie nicht, wenn ich ihr dauernd zwischen den Füßen herumliefe... Sie hat mich zum Lachen gebracht. Und als ich sie dann mit Mark zusammen sah, mußte ich heulen... Als Marks Vater starb, habe ich mir geschworen, nie wieder um jemand oder irgend etwas zu weinen... Hoffentlich bleibt sie. Es wäre gut für Mark, wenn noch ein Kind im Haus wäre... und für mich auch, nehme ich an. Ich kam mir schon vor wie ein Hausdrachen, aber ich konnte nicht anders. Ich wußte einfach nicht, wie... Du bist mir ein so guter Freund gewesen, Gunnar, und dabei habe ich dir noch niemals richtig gedankt ...«
»Ich bin froh, daß du weinen kannst.« Sanft zog Gunnar sie auf. »Aber jetzt wisch dir die Tränen ab und pudere dir die Nase. Anna Wei ist äußerst kritisch, was Frauen betrifft, und heute abend möchte ich ihr beweisen, daß ich einen guten Geschmack habe.«
Die Nische war sehr schummrig beleuchtet und gehörte ihnen allein. Anna Weis Abendessen zog sich in die Länge, sie genossen es in aller Ruhe, und am Ende hatte er Martha alles über die bevorstehende Reise erzählt – bis auf seine Ängste hinsichtlich dessen, was dabei herauskommen könnte. Sie hielt ihr Versprechen, hörte zu und sagte nur sehr wenig, bis er geendet hatte. Dann erklärte sie ihm ruhig und ein wenig förmlich, sie freue sich für ihn und wünsche ihm alles erdenklich Gute. Er werde ihr sehr fehlen. Sie hob ihr Glas und trank auf die Reise. Dann saßen sie vor dem Rest ihres Weines und warteten beide darauf, daß der andere sprechen würde. Zuletzt sagte Martha Gilman:
»Der Gedanke ist ja verrückt. Aber ich wünschte, ich könnte mit dir kommen.«
»Du könntest.«
»Ich kann es nicht, und das weißt du auch. Da ist Mark, und dann auch noch Jenny. Außerdem habe ich vier Jahre lang ein Geschäft aufgebaut, das uns einigermaßen über die Runden bringt. Wenn es nur um mich ginge, würde ich morgen alles hinwerfen. Aber ich kann nicht, und damit Schluß.«
»Du runzelst schon wieder die Stirn, Martha Gilman. Du gefällst mir besser, wenn du lächelst.«
»Besser so?«
»Viel! Sieh mich an!«
»Tu’ ich ja.«
»Und jetzt sei still und hör mir zu!«
»Ich höre ja!«
»Was ich sage, ist kein Partygeschwätz, und es wäre wunderbar, wenn du... Das ist die Wahrheit, Martha. Wenn du auf diese Fahrt mitmöchtest, nehme ich dich mit. Und Mark und Jenny nehme ich auch mit. Ich habe die Plätze zu vergeben – also ist das Angebot klar und steht. Wenn wir wieder zurückkommen, werde ich dir helfen, ein neues Geschäft aufzubauen. Und wenn wir nicht zurückkommen – und ich werde dir gegenüber nicht mit sämtlichen Risiken und Möglichkeiten hinterm Berg halten –, dann, mehr kann ich nicht sagen, werde ich alles mit dir teilen, was geschieht, Gutes und Böses ...«
Völlig ungläubig starrte sie ihn an. Dann bewegte sie den Kopf langsam von einer Seite zur anderen, als ob sie Nebel und Lärm vertreiben wollte. Endlich fing sie an zu lachen, leise, aber hemmungslos. »Mein Gott... Ich kann es einfach nicht glauben!«
»Ich hab’s dir doch gesagt – es ist die Wahrheit.«
»Aber warum? Warum solltest du dich ausgerechnet mit einer Witwe, einem elfjährigen Jungen und einem schwangeren Mädchen belasten? Das ist... heller Wahnsinn ist das.«
»Alles andere könnte genausogut heller Wahnsinn sein: die alten Götter, die Insel der Seefahrer, Magnussons Traum, vor seinem Tod noch ein neues Land zu finden, ich und der Erbe der mana... Aber überlege doch bloß einmal, es wäre kein Wahnsinn! Nimm doch mal an, wir landen und finden den letzten unentdeckten Flecken Erde auf unserem Planeten! Ich trage eine ganze Zukunft mit mir – eine Frau, einen Jungen, ein Mädchen mit einem Morgen in ihrem Leib... So sind sie in früheren Zeiten auf Reisen gegangen. Wandervölker tun das heute noch – mit Sack und Pack und Kind und Kegel... Selbst wenn du nicht mitkommst, Liebes, wird doch noch ein ganzer Stamm an Bord der ›Frigate-Bird‹ sein. Warum dich nicht anschließen? Warum dem Jungen nicht ein Abenteuer gönnen, an das er sich sein Lebtag erinnern wird? Warum dem Mädchen nicht eine Fürsorge bieten, die sie niemals in einem dieser scheußlichen städtischen Entbindungsheime finden könnte?«
»Wer weiß, ob sie überhaupt mitkommen würde!«
»Frag sie! Die Frage ist doch nur, ob du mitwillst?«
»Warum ich? Warum nicht irgendeine von deinen anderen Frauen?«
»Weil du eine gute Künstlerin und eine gute Kartographin bist und ich jemand brauche, der meine Unterlagen auf dem laufenden hält. Ist das nicht Grund genug?«
»Nein. Es gibt auch andere Künstlerinnen: bessere, billigere und kinderlose.«
»Dann nenne mir irgendeinen anderen Grund.«
»Es ist eine lange Reise. Du brauchst eine Geliebte.«
»Es gibt andere – billiger und kinderlos.«
»Gemeiner Kerl!«
Er lachte, nahm ihre Handgelenke, umschloß sie mit seinen großen Händen und drückte sie fest gegen die Tischplatte.
»Machen wir uns doch nichts vor, Martha! Was immer es auch bedeuten mag – du und Mark, ihr seid für mich fast so etwas wie meine Familie, und ich rede nicht von einer kleinen selbstsüchtigen Zelle, sondern von dem großen aufgeschlossenen Kreis, in dem man sich liebt und streitet, in dem alle Türen offenstehen und jeder seine Finger in der poi-Schale hat. Ich weiß, für manche ist das weder exklusiv genug, noch entspricht es ihrem Besitztrieb – vielleicht auch für dich nicht –, aber etwas anderes gibt es nun mal nicht für mich, und es ist die einzige Situation, in der ich mich wohl fühle und in der ich glücklich bin... Denk ja nicht, das hätte ich mir nur so für dich ausgedacht. Magnusson habe ich das gleiche gesagt. Es ist ganz einfach.«
»Ist es das wirklich, Gunnar Thorkild?«
»Du hast mich nach Gründen gefragt. Die habe ich dir jetzt genannt. Was verlangst du mehr?«
»Du könntest sagen, daß du mich liebst.«
»Das könnte ich – und dann würdest du von mir wissen wollen, wie sehr und warum und was der Unterschied zwischen dir und anderen Frauen sei und was meiner Meinung nach daraus werden solle, oder ...? Und da wüßte ich nicht, was ich dazu sagen sollte.«
»Weil du Angst hast?«
»Nein. Weil ich aus zwei Menschen bestehe. Der eine kehrt zurück zu den Ahnen – und das wird eine lange, dunkle Reise, und es vermag niemand zu sagen, was unterwegs alles passieren wird. Und der andere Mensch, das bin ich hier: der mit all den vielen Mädchen, mit denen er herumspielt, und keiner Frau, die fest an ihn gebunden ist und die er sein eigen nennt. Möglicherweise bedeutet das nicht besonders viel – aber immerhin bist du diejenige, die meinem Herzen am nächsten steht.«
»Dabei hast du mich noch nie aufgefordert, mit dir zu schlafen.«
»Hättest du ja gesagt?«
»Ich bin mir nicht sicher. Wahrscheinlich hätte ich dich als Zauberpuppe benutzt und hundert Nadeln in dich hineingesteckt.«
»Könnte sein, daß dir morgen danach ist.«
»Ich weiß. Ich lebe jetzt schon so lange in diesem Zustand der Verkrampfung – ich hacke auf Mark herum, bin wütend auf das Telefon, lege kleine Fallen aus, damit Männer hineinstolpern, und frage mich hinterher, warum ich die Lebenden eigentlich für den Toten bezahlen lasse.«
»Ich biete dir die älteste Arznei der Welt – eine lange Seereise.«
»Laß mich darüber nachdenken und es mit Mark und Jenny besprechen.«
»Lange Zeit zum Überlegen kann ich dir nicht geben. Wenn du nicht mitkommst, muß ich mich nach anderen umsehen.«
»Wann willst du es wissen?«
»Bis morgen abend. Ich gebe eine Party in meinem Haus. Wenn du mitkommst auf die ›Frigate-Bird‹, dann komm hin – und bring Mark und Jenny mit. Und wenn du nicht mitwillst, macht das auch nichts. Wir bleiben trotzdem Freunde... Nun, ich habe dir versprochen, daß es nicht zu spät wird.«
»Ich würde aber gern irgendwo einen Schlummertrunk nehmen.«
»Gern. Wo würdest du gern hingehen? In die Barefoot-Bar?«
»Warum nicht zu dir?«
»Weil, wenn Sie nicht so verkrampft wären, Mrs. Gilman, Sie wüßten, daß es dort für Familienangehörige nichts kostet. Ein andermal, eh?«
»Vielen Dank, Mr. Thorkild. Vielen, vielen Dank.«
Am Abend der Party kam Carl Magnusson eine Stunde vor den anderen Gästen. Er müsse noch über einiges reden, sagte er, und außerdem hasse er es, anzukommen, wenn schon ein Haufen Leute da sei. Er müsse sie langsam kennenlernen, einen nach dem anderen. Molly Kaapu und Dulcie waren bereits da, stellten Essen und Getränke bereit, und es kam zu einer Szene wie in einer Komödie, als Molly dastand und den Besucher anstarrte und dann in ein langgezogenes, prustendes Gegluckse ausbrach:
»Nun sieh sich das einmal einer an! Der kleine Carlie! Oh, oh, wie groß er geworden ist! Erinnerst du dich nicht mehr an mich, Carl Magnusson! Ich habe früher in eurem Haus gearbeitet, als du fast noch ein Kind warst und mich immer durch das ganze Haus gescheucht hast.«
Ungläubig starrte Magnusson sie an, um dann gleichfalls in ein lautes Lachen auszubrechen.
»Mein Gott! Molly Kaapu! Was um alles in der Welt machst du denn hier?«
»Ich arbeite für Gunnar Thorkild. Und das hier ist Dulcie, meine Tochter. Ein Glück, daß ich schnell weglaufen konnte, sonst wäre sie vielleicht von dir.«
Dieses Wiedersehen versetzte den alten Mann in eine gute Stimmung. Er blickte sich anerkennend im Zimmer um und nahm die Einrichtung in Augenschein, um dann zu sagen:
»Eine hübsche Wohnung haben Sie hier, Thorkild.«
»Mir gefällt sie.«
»Ich hasse Durcheinander und Überladenheit.«
»Ich auch.«
»Das ist ein guter Drink.«
»Cheers!«
»Diese Leute, die heute abend kommen – sind das diejenigen, die Sie ausgewählt haben?«
»Richtig.«
»Was geschieht nun, wenn mir irgendeiner von ihnen nicht gefallen sollte?«
»Dann müssen Sie mir erklären, warum, und dann reden wir hinterher unter vier Augen darüber.«
»Dagegen ist wohl nichts einzuwenden. Möchten Sie mir was über sie sagen?«
»Sie haben ja ihre Universitätsunterlagen gesehen. Es sind nur drei Außenseiter da, von denen Sie nichts wissen. Aber bei denen wäre es mir lieber, Sie würden sie unvorbereitet kennenlernen und bildeten sich Ihr eigenes Urteil. Alles, was ich jetzt sagen könnte, würde sich wie eine Bitte um besonderes Verständnis anhören.«
»Dann lassen Sie uns über die Insel reden.«
»Gern.«
»Ich habe mir Ihre Unterlagen und die Quellen angesehen, auf die Sie sich beziehen, und habe selbst ein paar Überlegungen angestellt. Die würde ich gern mit Ihnen überprüfen. Haben Sie eine Karte vom Pazifik?«
»Mehrere. Ich werde sie herunterholen.«
»Nein. Mir wäre es lieber, niemand wüßte, worüber wir uns unterhalten. Können wir nicht nach oben gehen?«
»Hm... nun ja, warum nicht.«
Magnusson entging das momentane Zögern nicht, doch er schwieg. Thorkild ging die Treppe zu seinem Schlafraum voran und hielt dem alten Mann die Tür auf. Magnusson stellte sich in die Mitte des Raums, stand eine Zeitlang da und nahm das spartanisch eingerichtete, zellenartige Zimmer in sich auf. Ernst sagte er:
»Sie leben also allein, wie?«
»Hier, ja.«
»Dann bin ich ein Eindringling. Ich bitte um Entschuldigung.«
»Sie sind mein Gast. Mein Haus ist Ihr Haus.«
»Vielen Dank. Was für Karten haben Sie?«
»Die von der französischen Kriegsmarine, der amerikanischen Marine und eine Kurskarte der britischen Admiralität. Die ist für unsere Unterhaltung wohl am geeignetsten.«
»Warum?«
»Weil aus ihr ersichtlich wird, wie leicht es ist, daß einem eine kleine Insel entgeht.«
Er trat an die am weitesten entfernte Wand und zog unter einer Vorhangfalle eine auf Leinen aufgezogene Karte des Stillen Ozeans hervor. Der Aufdruck lautete: 5128(6) June – Routeing Chart, South Pacific Ocean. Die Karte bestand aus einem Gewirr von Linien, von denen jede eine Schiffahrtsroute darstellte, deren Entfernung in Seemeilen angegeben war: Suva nach Panama, 6323; Honolulu bis Valparaiso, 5912; Apia nach Tahiti, 1303... Die sich überschneidenden Linien ergaben eine Vielfalt größerer und kleinerer geometrischer Muster, die sich über die gesamte Karte erstreckten. Magnusson betrachtete sie eine Weile und wandte sich dann an Thorkild:
»Und jetzt zeigen Sie mir mal, wo Ihrer Meinung nach die Insel liegt.« Thorkild nahm einen Bleistift zur Hand und setzte die Spitze auf die Insel Papeete von den Gesellschaftsinseln.
»Gehen wir von hier aus. Südwestlich liegt die Route von Papeete nach Wellington. Südöstlich die von Papeete zur Magellan-Straße. Zwischen beiden liegt ein großes leeres Dreieck, auf dem keine Schiffahrtswege verzeichnet sind, bis man auf diese Route nach Sydney trifft... diese Linie, die südlich der Insel Marotiri verläuft. Sind Sie mir bis hier gefolgt?«
»Durchaus«, sagte Magnusson. »Und jetzt warte ich auf Ihre Beweisführung.«
»Okay. Erster Punkt – ziemlich allgemeiner Natur: ein großer leerer Fleck auf der Karte, ein von Schiffahrts- und Luftlinien ziemlich abseits gelegener leerer Raum. Der zweite Punkt ist schon interessanter: sämtliche Legenden behaupten, die Insel liege unter der Bahn von A’a, der Schimmernden. Das ist Sirius, der Hundsstern, dessen Umlaufbahn etwa 17 ° südlicher Breite liegt. Auch liegt sie jenseits des schimmernden schwarzen Pfades des Gottes Kanaloa, also des Wendekreises des Krebses — 27° südlicher Breite. Sehen Sie sich jetzt mal das Zentrum des leeren Dreiecks an. Das liegt etwa 30 ° südlicher Breite und paßt damit in die Legende. Weiter ...« Thorkild fing an, eine Reihe von Linien in die Karte einzuzeichnen. »Das hier sind einige der bekannten Routen der polynesischen Seefahrer. Sie gehen alle durch dieses leere Dreieck ...«
»Und wieso ist dann nichts von irgendeiner Kolonisierung oder Besiedlung bekannt?«
»Die Frage ist falsch gestellt, Mr. Magnusson. Es gibt solche Berichte – allerdings nur in der mündlichen Überlieferung, in der Legende, denn die Polynesier kannten ja keine Schrift. Was fehlt, ist allerdings ein Bericht über das Leben auf dieser Insel oder über seine Bewohner. Das trifft aber auch auf Pitcairn zu. Als Fletcher Christian mit seinen Meuterern dort eintraf, trafen sie zwar auf keine Einwohner, wohl aber auf die Überreste einer älteren Besetzung ...« Er sprach nicht weiter und blickte Magnusson fragend und herausfordernd an. »Sie sagten, Sie hätten selbst Überlegungen angestellt. Wie stimmen die mit meinen überein?«
»Sie kommen ihnen immerhin so weit nahe, daß ich glaube, unsere Fahrt lohnt die Mühe.«
»Gut. Dann werden wir uns wenigstens darüber nicht streiten.«
Lange sah Magnusson ihn eindringlich von der Seite an.
»Warum sollten wir uns überhaupt streiten, Mr. Thorkild?«
»Das sollten wir eigentlich zwar nicht, aber wir sind nun mal jene Art von Männern, die das tun werden. Es wäre gar nicht schlecht, wenn wir so viele Streitpunkte wie möglich ausräumten, ehe wir auf die Reise gehen.«
»Fällt Ihnen im Augenblick einer ein?«
»Nichts im besonderen; aber lassen Sie mich ein paar Dinge nennen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, ist es Ihre Absicht, diese Insel den Vereinigten Staaten einzugliedern, sie zu besetzen und für uns Landrechte zu beanspruchen.«
»Richtig. Und falls nicht irgendein kapu dagegen spricht – würden Sie sich damit einverstanden erklären?«
»Ja. Ich habe die Leute mit diesem Ziel im Auge ausgesucht – junge Männer und Frauen, von denen ich annehme, daß sie für ein neues Leben aufgeschlossen sind und fähig, es weiter fortzusetzen, wenn sie allein gelassen würden.«
»Kolonisten also?«
»Aber keine Räuber. Sollte die Insel von Eingeborenen bewohnt sein, beanspruchen wir keinerlei Rechte über sie, weil wir keine haben.«
»Ich glaube«, sagte Magnusson langsam, »ich glaube, ich würde gern noch ein Glas trinken, während ich mir diesen Rat zu Herzen nehme und ihn überdenke.«
Als Thorkild mit dem Glas zurückkam, hatte Magnusson es sich breitbeinig auf dem Stuhl bequem gemacht und las in einem der Ordner mit Gunnars handschriftlichen Notizen für seine Vorlesungen. Magnusson nahm das Glas, brummelte wie abwesend ein Wort des Dankes und las weiter. Nach einer Weile sah er auf und sagte:
»Stammen all diese Dinge von Ihnen?«
»Sofern nichts anderes angegeben ist, ja.«
»Dies hier zum Beispiel.« Er wandte sich wieder dem Manuskript zu und las vor: »... Das Meer dehnt sich unendlich, der Lebensraum auf der Insel hingegen ist sehr begrenzt. Seine Grenze bildet das äußere Riff. Die Gemeinschaft ist fest umrissen, und die Mitglieder heiraten immer wieder untereinander. Ihre traditionellen Beschäftigungen werden immer wiederholt und erfahren nur unter dem Einfluß der Witterung und des Meeresrhythmus leichte Abwandlungen. Überragendes Können wird sehr geschätzt – der kräftige Schwimmer, der geschickte Fischer, der Vorsänger und der tüchtige Seefahrer. Allerdings sind Bemühungen, derartige Fähigkeiten zu erwerben, wie der Festlands- und insbesondere der Stadtbewohner sie kennt, unbekannt. Was gibt es schon zu erreichen? Der Rang, den jemand einnimmt, wird durch seine Geburt bestimmt. Privilegien gibt es nur für die Hochgeborenen. Und welchen Besitz sollte man schon erwerben, wo doch dasjenige, was geerntet oder gefangen wird, bereits während der nächsten Mahlzeit aufgezehrt wird? Selbstverständlich, wollte man neue und fremde Elemente in dieses System einführen, würde das rasch zu Veränderungen führen, die sich unter Umständen katastrophal auswirken könnten ...« Magnusson las nicht weiter. »... Das gefällt mir, Thorkild. Sie gefallen mir auch immer besser. Ich nehme Ihnen Ihre Überlegungen ab. Wir werden dort, wo wir keine Rechte haben, nicht eindringen.«
»Vielen Dank.«
»Ich habe über die Frage der Mannschaft nachgedacht. Zwei meiner Matrosen sind verheiratet. Ich habe ihnen gesagt, sie können ihre Frauen mitbringen, vorausgesetzt, sie packen mit an. Die beiden anderen interessieren sich nur füreinander. Allerdings gibt es ein kleineres Problem. Ich habe meinen Koch verloren. Er ist bereit, für eine kleine Kreuzfahrt anzumustern, nicht jedoch für eine längere Fahrt.«
»Molly Kaapu ist eine gute Köchin.«
»Sie ist eine zänkische alte Frau, die sehr viel Raum beansprucht. Trotzdem ist es wahrscheinlich leichter, mit ihr auszukommen als mit einem Fremden. Lassen Sie mich erst sehen, was ich vielleicht auftreibe. Wenn ich nichts Besseres finde, können Sie ihr den Job anbieten.« Er grinste schelmisch. »Sieht so aus, als ob Sie Ihren Willen kriegen, Thorkild. Bald sind wir eine regelrechte Arche Noah. Trotzdem, für mich ist es eine ganz schöne Abwechslung nach all der Langeweile, die mich geplagt hat.«
Sosehr Thorkild auf der Hut war, sich nichts zu vergeben, konnte er dem alten Mann doch nicht seine Hochachtung vor dessen Geschicklichkeit versagen. Er war ein geschickter Angler, der dem Speerfisch viel Leine gab, ehe er ihn dann mit einem Ruck aus dem Wasser holte, nachdem der Angelhaken sich tief in seine Kiemen gegraben hatte. Ihr Kampf hatte nichts Bösartiges. Er war wie eine bewußt geübte Kunst, der Zweikampf von zwei ebenbürtigen Gegnern: Es ging um Präzision und Entschlossenheit, verlieh persönliche Befriedigung und kannte kein Erbarmen.
Deshalb hatte er sich für die Party eine eigene einfache und grundlegende Taktik zurechtgelegt. Er wußte aus Erfahrung, daß der Einfluß von jungen Gemütern, der Zusammenprall von Persönlichkeiten, die darauf aus waren, Selbstbestätigung zu finden, heftig und oft verwirrend sein konnte. Er war entschlossen, Magnusson in dieser Beziehung nichts zu ersparen, er selbst hatte sich vorgenommen zu deuten, was sie taten und wie sie reagierten, niemals einzugreifen, wenn Schweigen entstand, nicht auf unverhohlene oder subtile Herausforderungen einzugehen, die von den jungen Männern und ihrem weiblichen Anhang herrührten. Er wollte sich darauf beschränken, Getränke herumzureichen und Schwatzhafte abzulenken, damit die Stilleren sich in Ruhe unterhalten könnten. Einzig für Martha Gilman und Jenny wollte er eintreten und sich, falls nötig, sanft, aber nachdrücklich für sie einsetzen. Am Ende mußte Magnusson als erster müde werden und aufgeben. Er war immerhin körperlich behindert, bereits älter und bewegte sich auf unbekanntem Stammesgrund. Das Neuartige und die Überzahl der anderen standen gegen ihn. Die Studenten selbst bildeten eine exotische Gruppe, und einige von ihnen waren auf bestimmten Gebieten unerhört beschlagen.
Da war Franz Harsanyi, der Sohn ungarischer Einwanderer, ein schmächtiger junger Mann mit wallender Mähne und ungemein starken Brillengläsern, der an einer vergleichenden Studie über sechzig und mehr polynesische Dialekte arbeitete. Sodann Adam Briggs, ein Neger aus Alabama, der jetzt auf Kosten der Armee studierte und sich aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen für den Landbesitz und seine mündlich überlieferten Rechte auf den verschiedenen Inselgruppen interessierte.
Hernan Castillo, halb Malaye, halb Spanier, war der Sohn eines Bierbrauers aus Manila. Zwar war er nicht gerade eine akademische Leuchte, dafür aber ein überaus geschickter Handwerker und Bastler, der eigenhändig eine Sammlung sämtlicher Bootstypen angelegt hatte, die auf den Inseln benutzt wurden. Sie waren naturgetreu bis ins kleinste Detail. Der letzte des männlichen Kontingents war Simon Cohen, der aussah wie ein Gammler, jedoch ein leidenschaftlicher Musikwissenschaftler war, ein unermüdlicher Sammler von Gesängen, Liedern und Tänzen, was ihm ein Stipendium der UNESCO eingebracht hatte.
Die drei Frauen bildeten eine ähnlich unterschiedliche Gruppe: Monica O’Grady, ein stets traurig dreinblickendes Mädchen mit einem Pferdegesicht, stammte aus San Francisco; sie besaß eine lose Zunge und eine Leidenschaft für vorgeschichtliche Töpferei und Skulpturen. Yoko Nagamuno aus Okinawa studierte Ernährungsfragen und den Heiratsmarkt mit gleicher Begeisterung. Die letzte Überraschung war Ellen Ching, halb chinesisch, halb hawaiisch, die für die Touristen Hula-Hula tanzte und sich damit das Geld verdiente, um Meeresbiologie zu studieren.
Einige von ihnen waren miteinander befreundet, doch keiner hatte, soweit er wußte, eine Liebschaft mit jemand von den anderen. Jeder einzelne von ihnen besaß die chamäleonartige Fähigkeit, sich sowohl anzupassen als auch Widerspruch anzumelden und zu vertreten. Alle besaßen sie eine von ihm hochgeschätzte Fähigkeit: Sie waren von einer unermüdlichen Neugier und setzten sich mit Lust und Schwung für die Dinge ein, die sie taten. Wie sie auf den Streß erzwungener Gemeinschaft und die Unbequemlichkeiten einer Seereise reagieren würden, vermochte er nicht zu sagen. Merkwürdig, aber in dieser Hinsicht wollte er sich darauf verlassen, wie Magnusson sie beurteilte, konnte und wollte aber gleichzeitig auch nicht auf sein Recht verzichten, es selbst zu tun.
Kaum, daß die Party eine Stunde im Gang war, mußte er zugeben, daß Carl Magnusson ein Meister gesellschaftlicher Strategie war. Trotz seiner körperlichen Behinderung bewegte er sich ungehemmt von Gruppe zu Gruppe und verwechselte nicht ein einziges Mal einen Namen oder irgendein persönliches Detail. Er lächelte, war liebenswürdig, jedoch niemals herablassend, stets interessiert und bereit, einer Unterhaltung mit einem Witz etwas von ihrer Schwere zu nehmen. Als das Essen serviert wurde, hockte er wie ein orientalischer Satrap auf dem Diwan. Mark hatte sich mit angezogenen Beinen neben ihn gelegt, und Jenny hockte zu seinen Füßen und fütterte ihn mit kleinen Happen von ihrem Teller, während Magnusson die gesamte Gesellschaft in einen Disput über die geopolitischen Verhältnisse des Pazifikbeckens verwickelte. Er machte das glänzend wie ein Orchesterdirigent, und Schlag elf Uhr beendete er die Debatte mit einer theatralischen Geste. Er hielt schweigengebietend die Hände hoch und verkündete mit verständnisheischendem Lächeln:
»Ich bin ein alter Mann und muß ins Bett. Ich nehme an, wir sind heute abend hier auf dem Prüfstand gewesen – ich genauso wie Sie alle. Also fassen wir uns kurz. Ich würde mich glücklich schätzen, Sie alle als Gast an Bord der ›Frigate-Bird‹ begrüßen zu dürfen. Allerdings müßten Sie wirklich mit Freuden kommen. Klären wir’s per Handaufheben. Wer ist bereit, anzumustern?«
Es gingen alle Hände in die Höhe. Magnusson grinste und nickte zustimmend, um dann fortzufahren:
»Gut! Setzen wir dann die Regeln ein für allemal fest. Ein Schiff ist so etwas wie eine Diktatur. Es gibt nur einen Boß. Und der bin ich. Professor Thorkild ist Ihr Lehrer, aber unter mir ist er Steuermann. Er wird versuchen, Seeleute aus Ihnen allen zu machen, und ich bin sicher, ihr Frauen versteht genug von der Hausarbeit, damit auf dem Schiff immer Sauberkeit und Ordnung herrschen. Sie benötigen gültige Pässe und Visa für die französischen, britischen und neuseeländischen Hoheitsgewässer des Pazifik. Außerdem brauchen Sie die normalen Impfungen sowie ärztliche Bescheinigungen, daß Sie keine ansteckenden Krankheiten haben. Ach, übrigens... Ihre privaten Beziehungen untereinander gehen mich nichts an; aber wenn Sie an Bord betrunken sind oder sich an Land eine Syphilis holen, werden Sie vom nächsten Hafen, den wir anlaufen, nach Hause geflogen. Irgendwelche Fragen? ... Gut. Wir stechen in vierzehn Tagen in See. Ich hoffe, daß ich von Ihnen allen etwas lerne. Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Bleiben Sie nur und feiern Sie weiter. Wenn Sie mich jetzt nach Hause fahren würden, Professor ...?«
Sie bereiteten ihm eine kleine Ovation, und er verabschiedete sich mit Händeschütteln von den Männern und mit Wangenküssen von den Frauen. Was zurückblieb, war eine Aura patriarchalischen Wohlwollens. Als Thorkild ihn durch die Stadt fuhr, war er gut gelaunt und machte ihm Komplimente:
»Das war eine gute Party, Thorkild.«
»Freut mich, daß sie Ihnen gefallen hat.«
»Das ist schon eine intelligente Gruppe – wesentlich lustiger übrigens, als wir das in ihrem Alter waren.«
»Ich nehme an, sie müssen so sein.«
»Es wird interessant sein, zu beobachten, wie die Paare sich finden werden.«
»Ja.«
»Das junge Mädchen, diese Jenny – stammt das Kind von Ihnen?«
»Nein.«
»Ich hätte nichts dagegen, wenn es so wäre.«
»Ist es aber nicht.«
»Das beweist, daß Sie ein gütiger Mann sind und Mrs. Gilman eine verständnisvolle Frau.«
»Das war keine große Sache. Das Mädchen lag praktisch auf der Straße. Martha und ich sind alte Freunde.«
»Sie mag Sie sehr gern.«
»Das beruht auf Gegenseitigkeit.«
»Wollen Sie sie heiraten?«
»Nein.«
»Sie könnten Schlechteres tun.«
»Ich weiß.«
»Wenn ich’s mir so überlege: Wir werden ja eine vielrassige Gesellschaft an Bord sein. In gewisser Weise merkwürdig.«
»Warum merkwürdig? Hawaii ist schließlich ein Schmelztiegel; es klappt ziemlich gut, und es gibt wesentlich weniger Spannungen als etwa in New York.«
»Ich wollte nicht sagen, daß es nicht klappt. Mich interessiert nur die Genetik. Schließlich waren Sie es, der die Frage überhaupt angeschnitten hat. Wie haben Sie es genannt... ›eine Art Familie‹. Das müssen Sie bei der Auswahl Ihrer Studenten im Auge gehabt haben... Warum sonst eine schwangere Frau an Bord bringen? Nicht, daß ich was dagegen hätte. Im Gegenteil. Ich bin von sexuellen Beziehungen ja ausgeschlossen. Man hat mir gesagt, es könnte leicht passieren, daß ich mittendrin abkratze – was zwar für mich angenehm wäre, aber nicht für die Frau. Aber deshalb habe ich nicht das Interesse daran verloren.«
»Sie haben sich sehr großzügig gezeigt«, sagte Thorkild verlegen. »Ich wüßte nicht, wie ich das jemals wiedergutmachen könnte. Immerhin möchte ich, daß Sie wissen, wie außerordentlich dankbar ich Ihnen bin.«
»Brechen Sie sich mir gegenüber keinen ab, Mann. Ich borge schließlich auch von Ihnen, genauso wie von den jungen Leuten. Jugend und neue Aussichten – das ist etwas, was ich nicht kaufen kann... Ich bin eifersüchtig auf Sie und beneide Sie, Thorkild, vergessen Sie das nie!«
»Wieso denn eifersüchtig?«
»Weil ich ein perverser alter Knochen bin, der nicht mehr mit einer Frau schlafen kann und dessen Zeit abläuft. Wenn Sie mir auch nur die kleinste Gelegenheit geben, stecke ich Ihre Nase in den Dreck.«
»Das werd’ ich mir merken«, sagte Thorkild liebenswürdig. »Wann möchten Sie, daß ich Ihre Gäste kennenlerne?«
»O verdammt! Das hatte ich ganz vergessen zu sagen. Sally Anderton kann erst einen Tag vor unserer Abfahrt hier sein. Gabe Greenway und Mildred haben abgesagt. Gabe hat offenbar eine neue Freundin, und Mildred ist nach Europa, um ihn zu vergessen. Daher habe ich ein kleines Geschäft mit der amerikanischen Marine gemacht. Sie leihen uns ein ganz besonderes Kommunikationsgerät und einen ausgebildeten Offizier, der das Gerät bedient... Aber selbstverständlich besitzt er keinerlei Autorität.«
»Die wird er auch nicht brauchen. Immerhin wird er den Oberkommandierenden Pazifik der amerikanischen Marine zum Paten haben.«
»Gefällt Ihnen die Vorstellung nicht?«
Magnusson war überrascht wie eine Jungfrau, die zum erstenmal ein vulgäres Wort hört.
»Ich finde, das stinkt«, sagte Gunnar Thorkild barsch. »Warum dann nicht gleich Nägel mit Köpfen machen und die Marineinfanterie auffordern mitzumachen?«
Nachdem der letzte seiner Gäste gegangen und das Haus aufgeräumt und wieder ruhig war, zog er sich aus, nahm ein Bad und schloß sich dann im oberen Zimmer ein. Aus seiner Schreibtischschublade nahm er ein Sandelholzkästchen heraus, in dem, in Watte eingewickelt, ein langer Keil aus poliertem Obsidian lag. Dieser Keil war sein kostbarster Besitz, ein Geschenk seines Großvaters – es war die Steinschneide jenes Beils, mit dem Kaloni, der Seefahrer, sein erstes Kanu gebaut hatte.
Die Schneide war ein heiliges Werkzeug. Am Abend, ehe mit dem Bau des Einbaums begonnen werden sollte, war sie an einem heiligen Ort zum Schlafen gelegt worden – dort hatte Tane, der Landgott, sie mit seiner mana erfüllt. Am Morgen war sie ins Meer getaucht worden, diese Kraft zu wecken und die mana wirksam werden zu lassen. Ehe man anfing, mit dem Beil Hand an einen Baum zu legen, mußte man Tane um Erlaubnis bitten. Erhitzte das Beil sich während der Arbeit, wurde es mit dem Saft der Bananenstaude gekühlt. Auf diese Weise verschmolzen Werkzeug, Mensch und Gott zu einem, und die mana ging über in das Boot, das an Land gebaut wurde, um auf dem Meer zu fahren.
Gunnar Thorkild nahm die Beilschneide in die Hand, setzte sich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden, schloß die Augen und wartete darauf, daß die mana in ihn einströmte. Das erforderte Stille, war aber ganz einfach. Der Stein erwärmte sich in seiner Hand, so daß er Teil seines Körpers zu werden schien. Die Luft in dem lautlosen Raum vibrierte nach und nach im Rhythmus eines weit entfernten Gesangs. Die Worte wurden laut, klar und tröstend wie die Worte eines Kinderreims für ein kleines Kind:
»Halt meine Hände, während ich steuere,
halte die Hände, welche die
hoch sich erhebenden, tief eintauchenden Ruder
bewegen.
Der Himmel verschwindet,
die ganze Zeit über.
Aber die Kraft kommt auf uns zu,
die ganze Zeit über.
Dies ist der Weg,
den kein Mensch je gegangen,
dies ist der heilige Weg
all der hohen Ahnen.
Dies ist der Weg aller,
die vor Kaloni Kienga gingen,
und all jener, die
nach ihm kommen, ihm,
dem Verstehenden,
dem Vogel- und Wolkenkundigen,
der in die Augen der Nacht blickt
und das Land von morgen sieht.«
Nachdem der Gesang erstorben war, saß er lange ruhig und gesammelt da. Als er sich schließlich erhob, küßte er den Stein und legte ihn zurück in das Sandelholzkästchen. Wenn sie abfuhren, würde das Kästchen und der Stein samt allen daran hängenden Erinnerungen ihn begleiten. Er schloß das Kästchen, stellte es zurück in die Schublade und sagte in der alten Sprache: »Gute Nacht, Großvater. Bald bin ich bei dir.« Er wußte, daß in dem Augenblick, da er sie aussprach, sein Großvater diese Worte vernehmen und ob des darin liegenden Versprechens ruhig schlafen würde.