Читать книгу Schauspiel: ein Grundriss - Mykola Bogdanov - Страница 8

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Kapitel 1

Wie wichtig ist es, kundenorientiert zu arbeiten

Was erwarten wir, was erhoffen wir uns von einem Kinooder Theaterbesuch? Die Antwort liegt meist irgendwo zwischen leichter Unterhaltung und tiefer Ergriffenheit, je nach Lust und Laune. Zum Glück bietet die darstellende Kunst eine Palette an Genres, bei der für jeden Geschmack etwas dabei ist. Dennoch müssen diese unterschiedlichen Erwartungen doch irgendeine Gemeinsamkeit haben. Was kann es sein, das so unterschiedliche Wünsche einschließt und vielleicht sogar für die Existenz der darstellenden Kunst verantwortlich sein könnte? Die Antwort liegt eigentlich auf der Hand: Zwei Urbedürfnisse — Erleben und Erlernen.

Sehen wir mal genauer hin. Wir Menschen und nicht nur Menschen, sondern auch andere höhere Säugetiere müssen immer wieder etwas Neues erleben, sonst wird uns langweilig, sonst erschlafft uns die Lebenslust, sonst quälen wir uns so sehr, dass es im schlimmsten Fall zu psychischen Störungen führen kann. Wir brauchen also regelmäßige Stimulation, einen Nervenkitzel, um Emotionen und Verstand auf Hochtouren zu bringen. Dieses Bedürfnis begleitet uns ein Leben lang und es scheint gleich, ob die Aufregung positiv oder negativ ist, oder ob der Mensch abenteuerlustig oder verschlossen ist. Sogar diejenigen, die ihre Ruhe brauchen, wollen sie nicht um ihretwillen, sondern um in dieser Ruhe das tun zu können, was ihnen Spaß macht, sprich, sie stimuliert. Nicht von ungefähr ist die Einzelhaft eine der härtesten Strafen, die es gibt. Dieses Bedürfnis nach Aufregung lässt sich natürlich auf unterschiedlichste Weise befriedigen. Warum fällt die Wahl so oft gerade auf einen Film oder ein Theaterstück? Was unterscheidet den Film oder die Theatervorstellung von einer Sportveranstaltung, einem Clubbesuch oder einem guten Buch?

Es ist doch so, dass wir in einer Theater- oder Filmvorstellung zu Zeugen einer Geschichte werden. Wir erleben sie mit, hier und jetzt. Da liegt auch der Unterschied zum Buch. Beim Lesen sehen wir die Geschehnisse und die Figuren mit dem inneren Auge, sie sind in uns, wir gestalten und kreieren dadurch im Grunde die Geschichte mit. Das macht das Lesen so verlockend. Im Theater spielt das Geschehen vor uns. Nicht nur das, es sind auch andere Zuschauer dabei und durch dieses gemeinsame Erleben wird unsere Wahrnehmung ausgetrickst und die Geschehnisse auf der Bühne werden — besonders an den starken Stellen — fast als real eingestuft. Dass Menschen einander mit Ideen, Wahrnehmungen, Sichtweisen und Emotionen anstecken, ist längst kein Geheimnis mehr. Diese Synergie der erlebten Gemeinsamkeit ist überwältigend stark. Klar, nicht alle Zuschauer fühlen sich gleichermaßen einbezogen. Ich persönlich kann zum Beispiel keine Horrorfilme ansehenen, für mich ist es zu viel, ich kann mich nicht weit genug vom Geschehen abstrahieren. Es gibt aber eine Armee von Horrorliebhabern, die nicht nach jedem Aderlass auf der Leinwand am ganzen Leib schlottern. Dennoch scheint es mir, dass uns genau dieser magische flüchtige Moment ins Kino oder ins Theater zieht, in dem eine Geschichte zum Teil unserer Realität wird.

Freilich stellt sich sofort die Frage, wozu brauchen wir denn überhaupt Geschichten? Haben wir nicht genug Stress im realen Leben? Manchmal schon. Dann steht uns eben nicht der Sinn nach noch mehr Drama und wir ziehen uns lieber eine Komödie rein.

Wozu braucht ein Mensch überhaupt Geschichten? Zu meinem Erstaunen, fiel mir nach einigen Überlegungen die etwas pathetische Antwort auf die Frage ein: Weil wir Menschen sind! In der Tat, was ist eine Geschichte? Es ist eine Sammlung einiger zusammenhängender Vorkommnisse, deren jemand ein Zeuge gewesen war und sie so bedeutsam empfand, dass er sie weitererzählen musste. Wenn man eine Geschichte erzählt, gibt man eine persönliche Erfahrung weiter. Auch wenn diese nicht direkt vom Erzähler gemacht wurde, sondern nur auf einer Überlieferung beruht, so steht am Anfang der Kette immer eine persönliche Erfahrung. Sogar eine komplett erfundene Geschichte besteht aus Teilen, mögen sie auch ganz klein sein, die der Autor unter unterschiedlichen Umständen selbst mal erlebt oder gehört hatte. Eine Geschichte ist also vorrangig eine Erfahrung. Und die menschliche Spezies giert nach Erfahrungen, sowohl nach persönlichen als auch nach jenen von anderen. Wir lernen so, mit der Welt klarzukommen, uns in der Welt zu behaupten. Lernen ist uns angeboren und nur dadurch sammeln wir nützliche Überlebens- und Erfolgsstrategien. Schließlich sind Menschen nichts anderes als „verrückte Affen“, die ihr Wissen kodieren und speichern können und das ist wohl die deutlichste Grenze zwischen menschlicher und tierischer Welt. Über unzählige Generationen bedienen wir uns des gespeicherten Wissens und häufen neues Wissen für unsere Nachkommen an. Diesen Speicher nennen wir Kultur.

So beschreibt Mihaly Csikszentmihalyi, Professor für Psychologie an der University of Chicago, der den heutzutage weit verbreiteten Begriff flow eingeführt hat, in seinem Buch Kreativität: wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden:

Wenn man mehrere Personen auffordert, aus einer Liste eine Beschreibung auszuwählen, die am besten wiedergibt, wie sie sich bei ihrer Lieblingsbeschäftigung fühlensei es Lesen, Bergsteigen oder Schachspielen —, ist die am häufigsten angekreuzte Antwort: »Etwas Neues entwickeln oder entdecken.« (…) Durch zufällige Mutationen müssen einige Individuen ein Nervensystem entwickelt haben, bei dem die Lustzentren im Gehirn stimuliert werden, wenn etwas Neues entdeckt wird. So wie einige Individuen mehr Vergnügen am Sex und andere am Essen haben, wurden offenbar auch einige Menschen geboren, denen es höchsten Genuss bereitete, etwas Neues zu lernen. (…) Falls das stimmt, haben unsere Vorfahren den Wert neuer Entdeckungen erkannt und alle Individuen beschützt, die Freude an der Kreativität hatten. Weil sie begeisterte Forscher und Erfinder in ihrer Mitte hatten und von ihnen lernten, waren sie besser auf unkalkulierbare Überlebensbedrohungen vorbereitet. Bis heute verfügen wir über die Fähigkeit, jede Tätigkeit zu genießen, vorausgesetzt, wir können etwas Neues dabei entdecken oder erschaffen.1

Natürlich gibt es mittlerweile verschiedenste Arten von Wissen, die voneinander unabhängige Strukturen mit eigenen Symbolen und Regeln bilden. Wir reden hier über die Kunst und sie unterscheidet sich von den Naturwissenschaften darin, dass sie ein System darstellt, in dem der Künstler keine objektive, sondern seine subjektive Erkenntnis weitergibt; etwas, was mit der menschlichen Psyche zu tun hat, etwas Intimes, was aus dem Spannungsfeld Ich und die Welt entsteht. Das gilt selbstverständlich auch für Geschichten, die im Kino oder im Theater präsentiert werden.

Erlebnisse und somit erworbene subjektive Erfahrungen haben in einer Gruppe einen sehr hohen Stellenwert. Wie oft hören oder sagen wir: „Mir ist heute was ganz Verrücktes passiert!“ Von Erzählungen am Feuer über mythische Helden und ihren Abenteuern über mehrbändige Romane und kurze Tweets, all das sind Mitteilungen eigener und gemeinsamer Erlebnisse. Schauen wir das Wort Mitteilung genauer an: Es verdeutlicht die Notwendigkeit, die eigenen Erfahrungen mit der Gruppe zu teilen. Nur so erhöhen sich der Status eines Menschen und sein Eigenwert. Deswegen machen viele so gerne Selfies und veröffentlichen sie stolz in ihren Social Media-Profilen. Es spiegelt das Bedürfnis nach einem erfüllten und erfolgreichen Leben (sprich nach einem hohen Status). Auch wenn die Fotos oft genug mehr Schein als Sein sind, sollen sie beweisen, dass ihr Autor etwas Besonderes erlebt hat.

Noch ein Beispiel aus der Theaterszene. Es gab in der UdSSR einen berühmten und bejubelten Schauspieler und Sänger. Er hatte eine sehr raue Stimme und dementsprechend ein Bad-Boy-Image. Seine Kollegen erzählten, dass seine Stimme so einnehmend war, dass selbst sie erst nach einer Szene oder nach der gesamten Vorstellung einschätzen konnten, ob er gut gespielt hatte. Dieses Phänomen lässt sich durch die starke Verbindung zwischen Emotionen und Stimme erklären. Große emotionale Umbrüche wirken sich auf die Stimme aus; die raue Stimme eines Menschen suggeriert uns, dass er oder sie wohl viel durchgemacht haben muss. Und umgekehrt, deuten wir eine helle, klare Stimme, als ein Zeichen von Jugend, Unverdorbenheit, sprich Unerfahrenheit. Besagter Schauspieler selbst nahm es mit einem gewissen Humor. Er erzählte, dass er nach seinem Stimmbruch an einem Konzert teilnahm, bei dem er mitbekam, wie ein Zuschauer aus der ersten Reihe seinem Nachbarn zuflüsterte: „Der Kleine scheint aber viel zu saufen.“ Selbstverständlich entsprach das nicht der Wahrheit, er war ja erst 14.

Jeder mag Geschichten. Es gibt aber Geschichten, die keiner mag. Woran das wohl liegt?

Eine Geschichte ist demnach eine Aneinanderreihung kausal verbundener menschlicher Erfahrungen. Natürlich ist nicht jedes Geschehnis und jede Erfahrung von gleich hohem Wert. Es gibt genug belanglose Erzählungen, die dem Zuhörer die Zeit rauben und, je nach Aufdringlichkeit des Sprechenden, sogar lästig sein können. Es gibt aber auch großartige Erzählungen über kleine und zunächst nichtig scheinende Fakten, die auf unerklärliche Weise bis zur letzten Sekunde fesseln. Worin liegt ihr Geheimnis? Schließlich wollen alle die spannenden Geschichten hören, sowohl das Publikum als auch die Künstler selbst. Wir Theaterschaffenden müssen dieses Geheimnis lüften. Oft konfrontiere ich meine neuen Schüler zu Beginn des Schauspielkurses mit der Frage: Was macht eine Geschichte für uns interessant? Üblicherweise folgt zuerst eine lange Pause, dann sagt der/die Mutigste: „Wenn ich ein Bezug zum Thema habe oder mich mit der Figur assoziieren kann.“ Manchmal ergänzt eine Schülerin: „Wenn es mich emotional berührt.“

Thema

In der Tat, wenn wir uns nicht mit der Geschichte identifizieren können, schalten wir ab. Uns interessiert nur das, was wir in unsere persönliche Welt integrieren können, was uns von Nutzen ist oder sein kann. Dabei ist Nutzen nicht unbedingt als Profit zu verstehen. Zum Beispiel, kann die Geschichte uns auf ein Problem in uns hinweisen und vielleicht einen Ausweg aufzeigen. Im Grunde nimmt man eine Erzählung, als Verhaltensmodell wahr, als eine Möglichkeit, als eine Gelegenheit, eigene zurückgestellte oder unterbewusste Wünsche stellvertretend zu erleben oder noch unentwickelte, vielleicht auch inaktive Fähigkeiten zu aktivieren. Die Sehnsucht nach Entfaltung, das vertretbare Kanalisieren verbotener Begierden oder vielleicht einfach das Bedürfnis, eigene Gefühle durch erkannte Ähnlichkeit zu erklären und zu sortieren, sind starke Motivation, oft stärker als der rein praktische Nutzen. Csikszentmihalyi fasst es so in Worte:

Durch Beschreibung realer oder fiktiver Ereignisse bringt der Schriftsteller den vergänglichen Strom der Erfahrung zum Stillstand, indem er die Elemente benennt und sie mit Worten festhält. Wenn wir einen Vers oder eine Prosapassage lesen oder rezitieren können wir die Bilder und ihre Bedeutungen auskosten und dadurch besser verstehen, wie wir fühlen und denken. Worte verflüchtigen Gedanken und Gefühle eine konkrete Gestalt. In diesem Sinne eröffnen Gedichte und Erzählungen neue Erfahrungen, zu denen wir sonst keinen Zugang hätten. Sie führen uns zu höheren Ebenen der Komplexität.2

Vor einiger Zeit besuchte ich zusammen mit zwei Kolleginnen eine Vorstellung in einem kleinen Münchner Theater. Gegenstand des Stücks war ein Monolog eines modernen Menschen, dem seine Vorliebe für Reisen in arme Länder sowie die zufällige Lektüre eines Buches von Karl Marx das schöne und sorgenfreie Konsumentenleben zerstörten und seinen Alltag in einen albtraumhaften Gewissens- und Klassenkampf verwandelten. Ein schonungsloser, witziger, dramaturgisch gut aufgebauter Text, ein starker Schauspieler und gleichzeitig Regisseur, dessen hervorragendes Verständnis von Stil und der erforderlichen künstlerischen Provokation den Abend zum Genuss für den Theaterkenner machten. Trotz all dieser guten Voraussetzungen konnte ich die Vorstellung für mich nicht als Erfolg bezeichnen. Den Grund dafür hat eine Zuschauerin treffend formuliert, deren Gespräch mit ihrer Freundin ich zufällig mitbekam. Sie sagte: „Fantastisch! Schade nur, dass es denen vorgeführt wurde, die eher nichts haben.“ Tatsächlich, keiner der Zuschauer machte den Eindruck, im Überfluss zu leben. Die ganze Gesellschaftskritik, die das Thema der Vorstellung ausmachte, war hier eigentlich fehl am Platz.

Außerdem war der Anfang der Vorstellung meiner Meinung nach falsch konzipiert, was ihn sogar langweilig machte. Meine Kolleginnen empfanden es genauso. Zu Beginn der Aufführung schilderte die Figur, verwoben mit den etwas kafkaesken Nachtszenen, sein schönes großbürgerliches Leben. Trotz der präzise und gut eingesetzten Abwechslung von Licht, Spielorten und Tempo und des unbestrittenen schauspielerischen Könnens, zog die Vorstellung an sich nicht an. Dazu trug unter anderem ein stilistisches, bewusst vom Schauspieler eingesetztes Mittel bei, nämlich, um die Belanglosigkeit des Konsumentenlebens zu unterstreichen, das Geschehene als Banalität zu spielen. Das heißt, „unwichtige“ Inhalte wurden noch unbedeutender dargestellt. Warum sollte das dann noch den Zuschauer interessieren? Des Weiteren waren alle Tagesszenen schnell, alle Nachtszenen dagegen langsam, rhythmisch gleich gestaltet. Dieses Prinzip war schnell durchschaut und etwas Aufregendes war immer weniger zu erwarten. Erst, als das Weltbild der Figur zu bröckeln begann, entstand ein bis zum Ende anhaltendes Interesse, das der Theatermacher kraft- und stilvoll ankurbelte. Schade, dass ein solcher Meister die wichtigen Komponenten unterschätzte.

Figur

Neben dem Entwicklungs- oder Lernnutzen gibt es ein weiteres starkes Bedürfnis, sich mit einer Geschichte oder einer Figur zu identifizieren: das Bedürfnis nach Anerkennung. Bei allem, was wir tun und was wir sind, messen wir uns in der Tat an anderen Menschen. Sogar eine winzige Bestätigung reicht aus, um zu erkennen, dass wir richtig handeln und für unsere Bezugsgruppe doch gut genug sind. Durch dieses Bedürfnis nach Zugehörigkeit und dem daraus resultierenden Verlangen nach Bestätigung entstehen so viele und unterschiedliche Kulturen und Subkulturen, formt sich unser Selbstbild, ja sogar die Mode. Sinngemäß werden unsere Vorlieben für Genres, Stilistik und Helden-Typen maßgeblich davon geprägt. Die Figuren einer Geschichte sind unsere Avatare, die für uns ein ordentliches Leben führen und dadurch vielleicht in der Realität einen ähnlichen Weg für uns bahnen. Aus diesem Grund müssen eine Geschichte und deren Figuren glaubwürdig sein, sonst ist eine Identifizierung nicht möglich — eine Tatsache, die Schauspielkunst ungeheuerlich erschwert. Zu Beginn des Buches haben wir bereits erfahren, dass ein Leser die Welt der Erzählung mitkreiert; dadurch wird diese Welt „gezwungenermaßen“ für einen selbst stimmig. Dagegen braucht es bei einer Geschichte, die dargestellt wird, viel Überzeugungsarbeit, um das Publikum glauben zu machen, dass sie wahr ist. Das ist die erste Hürde, die jede Vorstellung überwinden muss. Dieser Anspruch muss nicht unbedingt zum Naturalismus führen. Biene Maya ist keinesfalls wirklichkeitsgetreu, hat aber durchaus Züge, die menschlich sind. Hinzu kommt, dass sie so gezeichnet ist, dass die Größenverhältnisse ihrer Körperteile den Verhältnissen eines kleinen Tieres entsprechen. Das reicht aus, dass Millionen von Kindern sich mit ihr identifizieren können. Die Logik ihrer Handlungen ist den Kindern verständlich, ihr Verhalten ist nachvollziehbar, deswegen bleiben Kinder an der Geschichte dran — ihnen könnte das auch passieren.

Im Grunde geht es bei der Glaubwürdigkeit ums Andocken an die Welt des Wahrnehmenden, die grundsätzlich auf zwei Polen basiert: Die „greifbare“ physische Realität und die seelischen Abläufe. Ich würde behaupten, dass die seelischen Abläufe ganz eindeutig wichtiger sind, wenigstens für das Publikum. Tatsächlich nach dem Einführung der Computereffekte in die Filmproduktion, hat die physische Realität an Substanz eingebüßt. Im Theater erreichte man solche Abstraktion viel früher, nämlich mit einem einzigen Licht-Spot auf einer sonst leeren, dunklen Bühne. Einen glaubwürdigen Raum zu schaffen, ist wohl kein Problem; so sind besonders in der Filmbranche einige der Meinung, dass ein ganz natürliches Verhalten der Darsteller für die Glaubwürdigkeit der Geschichte reicht. Mag sein, aber es schützt nicht vor einem langweiligen Schauspiel. Dokumentarfilme etwa sind in der Regel keine Kinohits. Nichtsdestotrotz ist ein Schauspiel ohne Glaubwürdigkeit eine Qual. Ich definiere sie als ein Versprechen. Allein das Wort Glaubwürdigkeit deutet auf etwas Mögliches hin, auf etwas, was den bekannten Regelmäßigkeiten entspricht, aber dadurch nicht eingeschränkt ist. Man nimmt das Gezeigte an, glaubt in diesem Moment daran und schaut gleichzeitig in die Zukunft, was da alles noch auf einen zukommt.

Für den Schauspieler sind diese zwei Pole der Glaubwürdigkeit genauso wichtig, wie für das Publikum. Es ist das erste, was ein Schauspieler erreichen bzw. erlernen muss. Die gespielte Situation muss für ihn glaubwürdig scheinen, sonst wehrt sich seine Psyche, sein Spiel wird hölzern und falsch. Zum Glück kann sich der Schauspieler in jeder Situation auf mindestens einen Pol stützen, nämlich auf den eigenen Körper, gleichsam der physische Pol. Glücklicherweise ist der Körper gleichzeitig eine Hintertür zum Pol der Psyche. Setzt man in einer Szene den Körper für etwas Praktisches ein, beginnt der Körper sich dabei wohlzufühlen, und es folgt zeitnah die Unterstützung der Psyche. Dazu aber später ausführlich. An dieser Stelle sei nur darauf hinweisen, dass Schauspieler eine andere Gewichtung der Pole haben.

Gefühle

Außer dem Thema und der Figur fehlt noch ein dritter Baustein, um eine Geschichte interessant zu machen: Sie muss uns emotional berühren. Tatsächlich ist es uns ein tiefes Bedürfnis, Gefühle zu haben; andernfalls stumpfen wir ab, verlieren die Lust am Leben und unsere Existenz scheint kaum von Bedeutung. Gefühl ist die Sprache des Unterbewussten, dessen, was man als ureigen wahrnimmt. Wenn diese Sprache nicht zu hören ist, fällt jede individuelle, subjektive Motivation weg; man wird innerlich desorientiert und das ganze Ich beginnt zu bröckeln. Man braucht Gefühle, um zu wissen, dass man als Individuum existiert.

Trotz der offensichtlichen Notwendigkeit, Gefühle zu haben, können sich diese nicht unterschiedlicher in den Menschen offenbaren. Bei manchen gleichen sie einem unaufhaltsamen, zerstörerischen Tsunami, bei anderen ist kaum eine Regung wahrnehmbar. Ich kenne eine junge Frau, die so impulsiv ist, dass sie bei Aufregung ihrem Ärger — ja, meistens ist es ein Ärger — buchstäblich Luft machen muss; andernfalls stockt ihr der Atem und ihr Herz rast, dass sie befürchtet, einen Anfall zu kriegen. Andererseits können wir einen Menschen, der keine Gefühle hat oder sie unterdrückt, sodass nichts nach außen dringt, nicht verstehen, sein Verhalten intuitiv nicht abschätzen und das beunruhigt uns.

Aber wie entstehen Gefühle? Um sie beim Publikum auszulösen, sollten wir dieser Frage auf den Grund gehen. Leider streitet die Wissenschaft darüber und keiner kann sie mit Gewissheit beantworten. Ich verstehe Gefühle als ein Signal- und Steuerungssystem. So meldet unser Unterbewusstsein nach der Analyse der aktuellen Situation: Es ist alles in Ordnung, es geht mir gut, alle wichtigen Organe sind ausreichend versorgt, die Umgebung ist sicher, man kann sich entspannen und den Moment genießen: Ein leises Glücksgefühl stellt sich ein. Oder aber es stimmt etwas nicht, da schlummert eine Gefahr, man schaltet auf Abwehr und, voilà, da ist sie, die Wut. Natürlich ist dieses Beispiel sehr vereinfacht und weist auf die tierischen Wurzeln unserer Emotionen hin. Übrigens, diese tierischen Wurzeln (manche Wissenschaftler bestreiten die Auffassung, dass unsere Emotionen von unseren tierischen Vorfahren vererbt wurden und verorten sie mit treffenden Argumenten im sozialen Miteinander) bereiten uns Kopfschmerzen und machen Angst, denn in unserer menschlichen Welt ist Wut nicht der beste Ratgeber. Unsere Alltagssituationen, die unser Unterbewusstsein ununterbrochen analysieren, sind unermesslich kompliziert, vielschichtig und vernetzt, und so sind auch unsere Gefühle kompliziert, flüssig, oft unklar und ab und zu gewaltig.

Je existenzieller oder dringender eine Situation ist, desto größer die Emotion, die sie hervorruft. Fernsehen gibt uns die Möglichkeit, an vielen wahren Geschichten teilzuhaben. Bestimmt können Sie sich an einen Beitrag erinnern, in dem ein Mensch aus Ergriffenheit zu weinen anfängt, während er erzählt, was ihm oder einem anderen zugestoßen ist. Vielleicht, weil er oder der andere die Situation trotz aller Schwierigkeiten überstanden hat, oder es eben nicht schaffte.

Gefühle geben ein signifikantes Zeugnis darüber, ob etwas Wichtiges mit einem Menschen geschieht. Wenn man eine Geschichte zum emotionalen Erlebnis machen will, muss man sie mit existenziellen Situationen spicken, die dem Zuschauer nahegehen, ihm also etwas bedeuten.

Dabei sind Gefühle nicht nur für den Eigengebrauch. Als soziale Wesen „scannen“ wir die Gefühlslage anderer und passen uns dieser an. Empathie ist ein Kleber, der eine menschliche Gruppe zusammenhält. Mehr sogar, wir senden einander Zeichen über das eigene Befinden, mal unbewusst, mal bewusst, mal bewusst täuschend. Wir informieren die Welt, was von uns momentan zu erwarten ist. So werden eine Bewegung zu einer Geste und ein Gefühl zum Kommunikationsmittel. Für das Schauspiel ist diese Erkenntnis von unschätzbarem Wert, die leider viel zu oft vernachlässigt wird. Sie bringt nämlich die flüchtige und kaum steuerbare Emotion auf die Ebene des Tuns und Handelns. Nebenbei bemerkt, die moderne Psycho-Neurologie sieht die Emotion generell als Vorbereitung zu einer anschließenden Aktion. Dazu später mehr.

Das Geheimnis einer fesselnden Geschichte

Die süßen Zeiten der Kindheit sind leider schnell vorbei. Das, was uns als Kinder faszinierte und uns so viel Spaß machte, sieht im Nachhinein klein und irgendwie belanglos aus. Wir sammelten Erfahrungen, wir lernten Regeln und wissen irgendwann, wie es geht. Wenn eine Geschichte zu gewöhnlich, zu banal verläuft, zerstreut sich unser Interesse in Sekundenschnelle. Der Wiedererkennungseffekt, so wichtig für die Entstehung des Interesses, kann unglücklicherweise in Langweile münden. Binsenweisheiten verschwenden unsere kostbare Zeit. Kurz gesagt, uns reizt nur das Neue, das Außergewöhnliche mit einem großen Entdeckungspotential. So entsteht die zweite Anforderung: Die Geschichte muss frisch und spannend sein.

Und damit kommen wir zum Problem: zum einen sind die etablierten klassischen Geschichten dem Publikum bekannt, zum anderen gibt es generell nur eine begrenzte Anzahl an Sujets — abhängig von der zugrundeliegenden Wissenschaft, zwischen 3 und 36 — und sämtliche Plots sind nur eine Variation weniger Themen. Mehr hat sich der Mensch noch nicht ausgedacht, vielleicht gibt es schlichtweg auch nicht mehr. Als Regisseur kenne ich das Problem nur zu gut: Bei der Suche nach einem neuen Stück liegt die Quote anregender Texte bei maximal fünf Prozent und das sind schon die, die es bis in die Kataloge geschafft haben. Auf eine Textvorlage ganz zu verzichten, bringt auch nicht viel. Wenn die Künstler auf Improvisation setzen, kommt dabei nicht mehr heraus, als schon vorhanden: Wir schöpfen lediglich aus unseren Erfahrungen und unseren Erkenntnissen und diese sind — so schmerzhaft es auch ist, uns das einzugestehen — meist nicht unbedingt bahnbrechend. Die Errungenschaften des postdramatischen oder performativen Theaters bestätigen diese These: Auch wenn sich die Künstler noch so viel Mühe geben, die Geschichte zu dekonstruieren, sobald der Zuschauer zwei und mehr situative Einheiten wahrgenommen hat, beginnt er sie zu verknüpfen, einzuordnen und konstruiert dadurch seine eigene. Und diese beruht auf einem der wenigen oben erwähnten Sujets.

Wie lässt sich dann ein altbekanntes Sujet frisch darstellen? In neuer Form? Kurzzeitig funktioniert es bestimmt, doch allein die Form hält uns nicht lange wach. Das menschliche Gehirn braucht Millisekunden, um eine Form zu erkennen und einzuordnen. Wenn sie komplex und nicht eindeutig ist, kann es vielleicht einige Sekunden dauern. Danach wird aber der Form keine Aufmerksamkeit mehr geschenkt, vorausgesetzt, es löst beim Beobachter keine andauernde Reaktion aus.

Ein einfacheres Beispiel dafür wäre ein Ausstellungsbesuch. Wie lange stehen wir vor einem Gemälde, wenn es uns nicht viel sagt? Wir erkennen sehr wohl die Blumen oder Häuser, vielleicht eine Landschaft oder menschliche Figuren, oder nur ein paar bunte Flecken und Striche, aber interessiert uns das? Nur wenn uns das Gemälde emotional berührt und wir hinter dieser Emotion einen Sinn verspüren, vielleicht sogar ein Geheimnis, das wir unbedingt lüften möchten, erst dann bleiben wir stehen und lassen diesen rätselhaften Eindruck tief auf uns einwirken. Ein Beispiel dafür sind die Gemälde von Kandinsky. Trotz ihrer abstrakten Formen wirken sie tief emotional und wohl nicht nur auf mich, was sein Status in der Kunst nahelegt.

Noch ein Beispiel aus dem Theateralltag. Ein Mitglied unserer Truppe lud ein paar Bekannte zu unserer Vorstellung ein, einem dreiaktigen Familiendrama. Darunter war eine Dame, die sich gerade so überreden ließ. Sie blieb die ganze Vorstellung und erwähnte im Anschluss, dass sie eigentlich keine Dramen mag, dass es aber schon schön gewesen sei. Am nächsten Tag erzählte sie, dass sie die halbe Nacht nicht schlafen konnte, weil sie darüber nachdachte, welche von den Schwestern aus dem Stück sie wohl sei. Ein solches Bekenntnis ist für mich der Kern der großen Aufgaben des Theaters und der Kunst im Allgemeinen.

Diese andauernde Wirkung ist ein Prozess des Unterbewusstseins, etwas Neues entsteht oder wenigstens eine Neuordnung der vorhandenen Komponenten. Betrachten wir genauer, was da in unserem Kopf abläuft: Das menschliche Gehirn ist eine Steuerungs- und Planungszentrale. Es bildet automatisch Verknüpfungen zwischen wahrgenommenen Objekten und deren Eigenschaften und ordnet deren Verhältnis untereinander. Es sucht, formt und speichert Muster, die aus diesen Verknüpfungen und Verhältnissen entstehen. Sobald ein solches Verschaltungsmuster entsteht und auf Richtigkeit geprüft wurde, beginnt das Hirn nur noch dieses zu nutzen und anhand dessen vorauszusagen, was weiter geschehen mag. Zum Beispiel, wenn wir das Wort „Baum“ hören, schnappt sich unser Bewusstsein kein konkretes Exemplar, sondern ein Schema mit Stamm, Ästen, Zweigen, Laub und vielleicht den zugehörigen Wurzeln. Weitere Informationen z. B. über Farben, Größe, Gewicht und dergleichen sind ebenfalls gespeichert. Ohne solche schablonenhaften Vorstellungen könnten wir keinen Apfel pflücken, keinen Tee kochen, geschweige denn, unseren Urlaub oder gar unser Leben planen. Manches wird schnell in ein Muster umgewandelt, wie etwa der Baum, und man kann es leicht anwenden, manches braucht dagegen Jahre, um uns dann in Sekundenschnelle einzuleuchten. So kreiert unser Hirn eine Abbildung der Realität und nutzt sie, um unsere Aktivitäten zu steuern.

Das ist auch der Grund, warum sich die Zuschauer unausweichlich ihre eigene Geschichte aus dem Gesehenen basteln. Das menschliche Gehirn braucht Ordnung und tut wirklich alles, — verzerrt, verdrängt, verblendet — um diese zu bekommen. Die schlimmsten Kriege waren und sind Glaubenskriege. Aber was ist denn der Glaube, wenn nicht eine innige Weltordnung, die der Mensch um keinen Preis verlieren will? Fällt eine der tragenden Säulen, bricht das ganze Netz zusammen und der Mensch verliert unwiderruflich sich selbst, seine Motivationen, seine Zukunft, seine Freude, wenn nicht sogar seinen Verstand.

Die Entstehung eines Verschaltungsmusters in unserem Kopf unter der Berücksichtigung aller möglichen Einflussfaktoren fordert einen enormen Aufwand und ist ohne Konzentration nicht denkbar. Aufmerksamkeit ist ihrerseits ein rares Gut und kostet den Körper zudem viel Energie. Aus diesem Grund schalten wir sie, sobald es möglich ist, um oder ab — die Batterie muss neu geladen werden. Wenn das Rätsel geknackt, die Objekte eingeordnet sind und sich die Planung als brauchbar erweist, wird die Aufmerksamkeit zurückgezogen und die Aktivität läuft nun halbautomatisch weiter. Wer einen Führerschein hat, weiß, wie anstrengend das Autofahren als Fahranfänger war, da man sich keine Ablenkung leisten konnte, und wie locker es nach ein paar Jahren geworden ist, sodass man sogar während des Fahrens einen Kaffee trinken, sich unterhalten und sogar die Frisur nachbessern kann. Das passiert, wenn das Fahren auf Halbautomatik läuft. Um die Aufmerksamkeit wieder auf den Prozess zu lenken, darf der bekannte Ablauf nicht mehr funktionieren oder den Erwartungen nicht mehr entsprechen. Das heißt, die halbautomatische Steuerung muss gestoppt werden, es muss ein Störelement oder eine problematische Funktion identifiziert und in einem neuen Schema berücksichtigt werden. So entstehen frische Reize, welche die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Die neusten Erkenntnisse der Neuropsychologie besagen übrigens, dass das menschliche Gehirn wohl nichts anderes ist als eine „Prognosemaschine“.

Was bedeutet das für das Schauspiel? Eine Geschichte ist eine Entwicklung bestimmter Situationen, ein Prozess. In Prozessen erkennt man erstaunlich schnell eine bestimmte Tendenz und macht sofort Vorhersagen. Wenn das Resultat dieser Entwicklung dem Zuschauer bekannt ist oder bekannt scheint, wird er sie kaum weiterverfolgen. Um das Interesse des Publikums zu halten, muss hin und wieder für neue Reize gesorgt werden. Der lineare Verlauf der Entwicklung muss also unterbrochen und die Geschichte in eine unvorhersehbare Richtung gelenkt werden.

Dafür sind Ereignisse nötig. Ein Ereignis kann unterschiedliche Auslöser haben, zum Beispiel ist das Auftreten einer neuen Figur ein Ereignis, weil sie zur laufenden Situation etwas beiträgt; ein lautes Geräusch ist auch ein Ereignis, das, unabhängig von den behandelten Inhalten, auf instinktiver Ebene wirkt, dann aber gezwungenermaßen und restlos geklärt und eingeordnet wird. Im deutschsprachigen Theaterraum bezeichnet man bestimmte Geschehnisse, die auf der Ebene des Sujets stattfinden, als Wendepunkt. Das Verdienst des performativen und postdramatischen Theaters liegt übrigens in der Befreiung anderer Arten von Ereignissen von der Dominanz des sujet- oder textbezogenen Ereignisses. Wir betrachten das Ereignis als solches später genauer. An dieser Stelle ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, dass man ständig unerwartete Wendungen und Überraschungen braucht. Die Schlussfolgerung daraus ist: Ereignisse verleihen einer Geschichte Spannung und nicht das Sujet. Sujet, Thema, Figuren sind nur der erste Anstoß, der unser Interesse entfacht, kurz darauf muss ein Ereignis her.

Kommen wir also kurz zu der am Anfang gestellten Frage zurück — was suchen wir eigentlich im Theater oder im Kino? - und blicken nun auf die Antworten: Eine spannende Geschichte erleben, sich und die eigene Welt darin wiedererkennen, emotional und geistig mitfiebern. Wie ein Schauspieler diesen Erwartungen auf seiner Ebene gerecht wird, versuche ich im nächsten Kapitel näher zu erläutern.

1 Csíkszentmihályi, M.: Kreativität: wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden, 8. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta, 2010, S. 159, 160.

2 Csíkszentmihályi, M.: Kreativität: wie Sie das Unmögliche schaffen und Ihre Grenzen überwinden, 8. Aufl., Stuttgart: Klett-Cotta, 2010, S. 338, 339.

Schauspiel: ein Grundriss

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