Читать книгу Mami Bestseller 55 – Familienroman - Myra Myrenburg - Страница 3
ОглавлениеImposanter, eindrucksvoller und herrlicher denn je wölbte sich die mächtige Vorderfront des Reichenbachschen Palais’ in der untergehenden. Sonne.
Unweit des Rondells, mit seinen Springbrunnen, seinem sanften Vorfrühlingsgrün und seinen gepflegten weißen Kieswegen, verborgen hinter einer Taxushecke, stand eine Frau und starrte zu den unzähligen rund gebogenen, glänzenden Fensterscheiben hinüber.
Zwanzig Jahre lang war sie nicht hier gewesen. Zwanzig Jahre lang hatte sie das Reichenbachsche Palais nicht gesehen. Zwanzig Jahre lang hatte sie die Erinnerung daran verdrängt.
In der Tat, sie hatte es fast vergessen gehabt.
War das Rondell damals schon ein öffentlicher Park gewesen? Sie zuckte unwillkürlich die Schultern und seufzte leicht. Sie wußte es nicht mehr, nein, sie wußte vieles nicht mehr. Zu intensiv hatte das Leben nach ihr gegriffen in diesen zwanzig Jahren.
Zu sehr war sie bestrebt gewesen, das Palais hinter sich zu lassen und damit die Menschen, die es bewohnten.
Noch einmal schweifte ihr Blick über die blaßgelbe Fassade, das besonnte Rondell mit den Springbrunnen und den leicht begrünten Rosenbüschen, dann wandte sie sich ab. Der Wagen wartete an der nächsten Straßenecke.
»Wenn ich nur wüßte«, sagte ihr Begleiter halb zu sich selbst, »was dich bewogen hat, heute hierher zurückzukehren.«
»Wenn ich das wüßte, Fedja«, seufzte die Frau und ließ sich in die dunklen Polster fallen, »dann wäre mir auch wohler. Es trieb mich hierher, mehr kann ich dir nicht sagen. Ich habe das Gefühl, es kommt etwas auf uns zu.«
»Deinem Tonfall nach zu urteilen«, unterbrach sie der Mann am Steuer, »etwas Unangenehmes?«
»Unangenehm?« sagte sie gedehnt. »Das ist nicht das richtige Wort. Etwas Schicksalhaftes, Fedja, etwas, was sich nicht aufhalten läßt.«
»Hör mal«, murmelte er und sah sie kopfschüttelnd von der Seite an, »so habe ich dich noch nie reden hören, in diesem Ton, meine ich. Das paßt so gar nicht zu dir – das ist doch sonst nicht deine Art.«
Sie lächelte vor sich hin.
»Du kennst mich eben erst seit zwanzig Jahren. Aber vorher – hier im Palais – da war ich immer schon schicksalsgläubig. Heute ist mir wieder so zumute. Wahrscheinlich hat mich der bloße Anblick der Fassade in die Vergangenheit zurückversetzt.«
»Dann laß dir sagen«, versetzte der Mann und startete den schweren Wagen, »daß du gut daran tust, jetzt schleunigst wieder in die Gegenwart zurückzukehren. Wir haben nur drei Stunden Weg bis nach Hause.«
Im Westen ging die Sonne unter und tauchte das Palais in strahlend goldenes Licht »Nach Hause«, wiederholte die Frau und hüllte sich fester in ihre Stola, »ja, nach Hause.«
Sie sah sich nicht mehr um.
*
»Wendi«, segte Wendi Lippit und betrachtete ihr Gesicht im Ankleidespiegel, »was ist das bloß für ein Name. Hast du ihn jemals gehört, Lisette?«
»Na, jeden Tag hundertmal, seit wir dich im Haus haben«, entgegnete die alte Frau mit dem weißen Löckchenkranz trocken, »genügt dir das nicht?«
»Ach was, Lisette, du weißt genau, was ich meine. Niemand außer mir heißt so.«
»Wer heißt heutzutage schon Lisette? Ich habe in den letzten dreißig Jahren auch keine getroffen, die diesen Namen trägt, außer mir natürlich. Und das reicht für mich allemal.«
»Aber Lisette heißt Elisabeth, das weiß doch jeder. Kannst du mir sagen, was Wendi heißen soll?«
Die alte Frau schaute etwas ratlos in den Spiegel und begegnete Wendis dunkelblauen runden Augen.
Kinderaugen, auch heute noch, da sie zweiundzwanzig war. Kinderaugen, Märchenaugen, mal glänzend, mal trüb, mal verträumt, mal verschmitzt. Aber immer gläubig, vertrauensvoll, arglos. Kinderaugen…
Lisette seufzte ein bißchen und legte den Stapel Wäsche aus der Hand, den sie gerade gebügelt hatte.
»Tante Nora weiß es auch nicht«, murmelte Wendi und verrieb dabei Sonnenöl auf Stirn und Wangen, »sie meint, meine Mutter sei sehr jung und sehr kindlich gewesen, damals. Anders könne sie sich diesen ulkigen Namen nicht erklären.«
»Mag sein, mag sein«, sagte Lisette hastig, um das Thema abzuschließen, das ihr, ganz im Gegensatz zu ihrer Chefin, immer noch peinlich war.
Wenn’s nach ihr gegangen wäre, hätte Wendi nie erfahren, daß sie adoptiert worden war. Keiner hätte das jemals gemerkt. Sie wuchs als Kind des Hauses auf, und Lisette fand das nicht ganz in Ordnung, daß Nora Lippit mit Wendi von Zeit zu Zeit ganz unbefangen über die Tatsache sprach, daß sie nicht ihre leibliche Tochter war.
So was tat man doch nur, wenn man damit rechnen mußte, daß Wendi dies von anderer Seite erfahren würde. Da aber außer ihr, der Lisette, niemand etwas darüber wußte, hätte Frau Lippit wahrhaftig nicht die Katze aus dem Sack zu lassen brauchen. Sie, Lisette, hätte sich eher die Zunge abgebissen, als jemals ein Sterbenswort über Wendis Herkunft verloren.
»Wendi«, sagte Wendi abschätzend zu ihrem Spiegelbild, »wenn schon sonst nichts, einen vernünftigen Namen hätte sie mir wenigstens mitgeben können ins Waisenhaus.«
Lisette zuckte ein wenig zusammen, wie sie es immer tat, wenn davon die Rede war.
»Wenn dir so viel daran liegt«, meinte sie und kramte in Wendis Schmuck herum, der unaufgeräumt war wie immer, »dann bitte doch Frau Lippit, dir einen anderen Namen zu geben.«
»Nein, Lisette, das geht nicht. Wenn sie das gewollt hätte, dann hätte sie es gleich getan, als sie mich adoptierte. Aber das wollte sie eben nicht. Sie nennt das Pietät meiner Mutter gegenüber, die mir diesen seltsamen Namen gab. Wenn eine Frau schon nicht die Möglichkeit hat, sagt Tante Nora, ihr Kind aufzuziehen, dann hat sie wenigstens das Recht, ihm einen Namen zu geben, den es sein Leben lang trägt.«
»Also, ich weiß nicht«, murmelte Lisette aus den Tiefen des Schrankes, »eine Mutter, die ihr kleines Kind aussetzt, hat überhaupt keine Rechte auf irgend etwas, wenn du mich fragst. Ich finde das sündhaft.«
»Aber Lisette, sie hat mich nicht ausgesetzt. Sie hat anscheinend alles versucht, um mich zu behalten, aber dann ging’s wohl nicht mehr. Als ich ein halbes Jahr alt war, brachte sie mich ins Waisenhaus, na ja, sie ließ sich natürlich auf nichts ein. Keine Fragen und so. Sie gab mich ab, samt meiner Babywäsche und dem Zettel mit meinem Vornamen, eben Wendi, und meinem Geburtsdatum, was ich wirklich nett finde, denn sonst wüßte ich ja gar nicht, wann ich Geburtstag hätte und wie alt ich genau wäre. Dann allerdings verschwand sie rasch und spurlos. Jesses, Lisette, was sollte sie denn machen? Sich ausfragen lassen? Sie war bestimmt in einer üblen Situation, sonst hätte sie mich behalten.«
»Meinst du?«
»Na klar. Tante Nora hat mir das erklärt. Früher war es eine schreckliche Schande für ein junges Mädchen, ein Baby zu bekommen. Denk nur dran, wie viele ins Wasser gegangen sind! Sie war sehr jung, das steht in meinen Akten, und sehr verzweifelt.
Na siehst du, was sonst hätte sie mit mir machen sollen? Mich verhungern lassen? Nein, ich bin da nicht so. Ich nehme ihr das nicht übel. Tante Nora meint, es wäre noch das beste gewesen, mich dort abzugeben, wo ich wenigstens zu essen bekam.«
Wendi drehte eine silberblonde Locke um den Finger und starrte nachdenklich auf ihre kleine Stupsnase.
Die schemenhaften Erinnerungen aus ihrer frühen Kindheit hatten ihren Schrecken verloren.
Auch das hatte Tante Nora erreicht. Aber die endlosen Korridore, die farblosen Wände, die ständig wechselnden Gesichter und Stimmen waren nie spurlos aus Wendis Leben verschwunden. Sie standen im Hintergrund ihres Herzens, nicht mehr bedrohlich, nicht mehr bedrückend, aber sie waren da.
Das ewige Kinderweinen um sie herum, die Trostlosigkeit in den kleinen Gesichtern der anderen, die sie ihre eigene Trostlosigkeit ahnen ließ, all das war ihr unauslöschlich eingeprägt.
»Laß nur«, pflegte Tante Nora zu sagen, »jeder Mensch hat ein Recht auf seine Erinnerungen, wie auch immer sie beschaffen sind. Und glaub mir, Wendi, jeder Mensch hat seine schmerzlichen Erinnerungen. Jeder, ob er es zugibt oder nicht.«
»Weißt du noch, Lisette«, fragte Wendi träumerisch, »weißt du noch, als ich hierher kam?«
»Ja, das weiß ich noch, als wäre es gestern gewesen. Obwohl du warst damals drei Jahre alt.«
»Wie sah ich aus, Lisette?«
Die alte Frau sah forschend in das junge Gesicht. Dann lächelte sie versonnen und sagte: »Wie heute, Wendi, genauso wie heute. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Wendi strich sich das lockige Haar aus der Stirn und versuchte ein strenges Gesicht zu machen.
»Findest du, daß ich immer bloß ein Kind bleibe?« erkundigte sie sich bekümmert. »Hast du es so gemeint, Lisette? Das wäre ja schrecklich.«
»Ach was!« wehrte die alte Frau ab und bückte sich nach ihrem Korb. »Der Ernst des Lebens kommt noch früh genug auf dich zu, Wendi. Sei froh, wenn du mit zweiundzwanzig nicht aussiehst wie dreißig. So was gibt’s auch. Komm, es ist gleich sieben. Abendessenszeit. Es gibt Thunfischsalat, dein Lieblingsessen.«
»Hurra!« schrie Wendi und riß Lisette den Korb aus der Hand. »Hab’ ich einen Hunger!«
*
Im kleinen Speisezimmer saß Nora Lippit am Fenster und blickte in die Dunkelheit.
»Nanu!« sagte Wendi verblüfft. »Hast du deine nachdenkliche Stunde?«
»Das auch«, erwiderte Nora und strich sich geistesabwesend über das dunkle krause Haar, »vor allem aber habe ich Kopfschmerzen… Zum erstenmal seit – nun – seit sehr länger Zeit.«
»Was hast du denn gemacht?« erkundigte sich Wendi teilnahmsvoll und vorwurfsvoll zugleich. »Ich habe dich der ganzen Nachmittag gesucht und nicht gefunden. Ich dachte, du wolltest heute mit dem Zirkusdirektor sprechen.«
Nora Lippit stand auf, schloß das Fenster und zog die schweren Vorhänge zu.
»Ja, das wollte ich. Hab’s mir dann aber anders überlegt, weil ich zuvor noch ein Wort mit diesem Pierre reden muß. Pierre… wie heißt er noch? Behalte diesen Namen einfach nicht. Ist ja auch egal. Ich denke, der Direktor wird einverstanden sein, wenn ich ihm Pierre für die nächsten Tourneen als Agenten vorschlage. Was sollte er dagegen haben? Ich bin eine alte Frau, und
Pierre, wie immer er heißt, ist ein junger Mann.«
Wendi starrte ihre Adoptivmutter so fassungslos an, daß ihre dunkelblauen Augen kreisrund wurden.
»Seit wann…«, sie schluckte, »seit wann fühlst du dich bloß als alte Frau, Tante Nora? Das hast du doch noch nie gesagt. Ist irgend was passiert? Sind es diese dummen Kopfschmerzen, oder hast du irgend etwas – ich meine versiebt, verschlampt – ist etwas nicht richtig gelaufen?«
Nora mußte lachen.
»Wendi, Wendi, ist dir nie der Gedanke gekommen, daß man mit mehr als fünfzig Jahren langsam sein Geschält abbauen sollte, so man es sich leisten kann? Meinst du nicht, ich sollte mir zur Abwechslung mal ein ruhigeres Leben machen?«
Wendi setzte sich auf ihren Stuhl am runden Tisch und starrte auf den Thunfischsalat.
Dann begann sie mechanisch, die Weißbrotscheiben in den Toaster zu stecken.
»Du und ruhiges Leben? Tante Nora, das ist ein Witz. Das kann nicht dein Ernst sein. Was stellst du dir denn unter einem ruhigen Leben vor? Keine Klienten mehr, keine Verhandlungen, keine Künstler mehr in deinem Salon, in deinem Büro, in deinem Leben? Keine Reisen mehr, keine Aufregungen, nichts mehr – das ist nicht dein Ernst!«
Nora Lippit faltete ihre Serviette auseinander und blickte zerstreut auf die Tür.
Dann wandte sie sich wieder Wendi zu, die immer noch mit verwirrtem Blick auf den Toast starrte.
»Komm, komm, beruhige dich, mein Kleines. Es war nur ein Gedanke. Wenn du es mir so ausmalst, kann ich mir das Ganze auch nicht mehr so recht vorstellen. Aber einen Teil meiner Kunden abgeben, das werde ich auf jeden Fall. Dieser junge Mann hat den nötigen Elan, findest du nicht auch?«
Wendi atmete erleichtert auf. Es mußten die Kopfschmerzen sein. Tante Nora war normalerweise eine Frau der Tat und nicht eine Frau der Resignation.
Sie war unerschöpflich an Kraft, Begeisterung und Mut. Das konnte sich nicht von heute auf morgen ändern. Nicht, wenn sie gesund war.
»Ach Gott ja«, lenkte Wendi ein und begann endlich zu essen, »Pierre ist nett. Mehr weiß ich eigentlich nicht von ihm. Wenn wir alle nach der Vorstellung noch ein bißchen bummeln gehen, ist er immer dabei. Ich könnte mir schon vorstellen, daß er gut mit den Leuten auskommen würde. Er hat den richtigen Ton, und er ist sehr anständig. Er würde sie nicht übers Ohr hauen, was ja auch wichtig ist. Nur hat er nicht deine Erfahrung und nicht deine Beziehungen, er kennt sich nicht aus in der Branche wie du.«
»Wie ich«, sagte Nora Lippit und griff plötzlich munter zu, »keiner kennt sich in der Branche so aus wie ich. Aber wir müssen ja alle mal anfangen, nicht wahr? Er mit seiner Künstleragentur, du mit deinem Studium, ich mit etwas mehr Müßiggang.
Ich werde ihn einführen, den jungen Mann, das kann ihm nicht schaden und mir auch nicht. Wirklich, Wendi, ich würde gern mal nach Acapulco oder San Francisco oder meinetwegen nur nach London fahren, ohne Terminkalender und ohne geschäftliche Besprechungen zwei Stunden nach meiner Ankunft.
Stell dir das doch mal vor. Wir beide haben noch nie eine Reise gemacht, die nicht geschäftliche Gründe hatte.«
»Wir beide?« echote Wendi skeptisch. »Was ist mit mir? Soll ich mich deinem Müßiggang anschließen, Tante Nora? Wenn ja, warum?«
»Nun, bei deinen endlosen Semesterferien dürfte dir das doch nicht schwerfallen.«
»Schon«, murmelte Wendi vorsichtig und stocherte in ihrem Thunfischsalat. »Wann willst du denn weg? Ich habe noch eine Klausur vor mir und dann…«
»Seit wann bist du denn so eifrig, Kleines?« Es klang belustigt, und Wendi wurde so rot wie ihr Pulli.
»Na, irgendwann muß ich ja mal ernsthaft anfangen«, und da sie einen ironischen Blick Tante Noras auffing, fuhr sie fast trotzig fort: »Mit dem Studium, meine ich.«
»Das meine ich auch«, war Noras vieldeutige Antwort. »Ich hatte ohnehin nicht vor, dich aus deinem ernsthaften Streben zu reißen. Mir reicht’s, wenn wir in vier Wochen fahren. Dann hast du deine Klausur hinter dir, und das Ende des Semesters hat noch nie viel Sinn gezeigt, meiner Ansicht nach. Macht dir denn die Sache langsam mehr Spaß als am Anfang?«
Wendi kaute auf ihrem Toast herum und senkte den Blick. Aber lange hielt sie das nicht aus.
»Nein«, gestand sie zerknirscht, »noch weniger als am Anfang. Ich tauge zu nichts, Tante Nora, glaub’s nur ruhig. Am besten ist es, ich such’ mir einen Job, irgendeinen, dann liege ich wenigstens dir nicht mehr auf der Tasche.«
»Solange meine Tasche nicht leer ist«, erwiderte Nora Lippit gelassen, »mach du dir darum mal lieber keine Sorgen. Sieh dich um, überall, in der Universität, in der Stadt, in den Häusern, wo du eingeladen wirst. Sprich mit den jungen Leuten über das, was sie tun, was sie gern tun, was ihnen als Zukunftstraum vorschwebt.
Meinst du, ich hätte in deinem Alter gewußt, was ich will, was für mich richtig ist? Meinst du, ich hätte auch nur eine Ahnung vom Beruf gehabt, von dem Beruf, den ich heute immerhin sehr erfolgreich ausübe? Keinen blassen Dunst hatte ich. Jeder hat irgendwelche Qualitäten, irgendwelche Stärken, man muß nur herausfinden, wo sie liegen. Und wo die Interessen sind. Das findet sich alles, Wendi, alles.«
Sie waren miteinander allein in dem kleinen Speisezimmer mit Blick auf den Kurpark, mit rundem Biedermeiertisch und blau bezogenen Kirschbaumstühlen. Lisette aß abends nicht mit ihnen, und auch mittags nur noch dann, wenn das Essen weich war und leicht zu kauen. Lisette hatte Schwierigkeiten mit ihren Zähnen, und kein Mensch der Welt hätte sie zum Zahnarzt gebracht.
»Tante Nora«, sagte Wendi in die Stille, die zwischen ihnen herrschte, »warum soll ich verreisen?«
»Um deinen Horizont zu erweitern!« war die ruhige logische Antwort. »Wir sprechen ja gerade davon, nicht wahr? Darüber, daß du noch viel zuwenig kennst und weißt, um dich selbst richtig einschätzen zu können. Das ist der eine Grund. Der zweite ist der, daß ich nicht sehr gern allein reise.«
»Nanu? Du bist doch aber immer gern allein gereist – zumindest bist du sozusagen immer auf Reisen gewesen, so lange ich denken kann.
»In diesem Fall«, sagte Nora Lippit sehr bestimmt, »würde ich nicht gern allein reisen. Ich hätte dich lieber bei mir, Wendi. Alles klar?«
»Alles!« seufzte Wendi und schob ihren Teller weg. »Es ist zwar jammerschade, aber wenn’s denn sein muß…«
Sie stand auf, warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und lächelte Nora unbefangen an.
»Ich geh’ jetzt«, sagte sie leichthin, »kann sein, daß wir nach der Vorstellung noch ein bißchen bummeln gehn. Weißt ja Bescheid, gelt?«
»Weiß ich«, entgegnete Nora Lippit gelassen und stand ebenfalls auf, »viel Spaß, mein Kind!«
*
Die Trapezkünstler begannen ihren Akt, es roch nach Staub und Pferden, die Kapelle auf ihrem hölzernen Podium spielte eine der unverkennbaren Zirkusmelodien.
Dunkelgrau wölbte sich das Zelt über den vielen Köpfen. Das Schlagzeug begann tingelnd sein Solo und steigerte sich ins Crescendo, als die beiden Artisten in ihren dunkelroten Trikots die Spitze der Stange erreichten.
Nora Lippit setzte sich in die letzte Reihe, obwohl sie Logenplätze für alle Vorstellungen in der Tasche hatte. Aber hier hinten war man schön ungestört, niemand würde einen entdecken, weder der Direktor noch Wendi.
Hoffentlich, dachte Nora Lippit und wedelte den Staub rechts und links von der roh gezimmerten Bank ohne Lehne, hoffentlich lassen sie mich alle in Ruhe. Gut, die beiden am Trapez, nicht mehr taufrisch, zumindest die Dame, aber solides artistisches Können ist immer noch die Hauptsache. Ein schwerer Beruf ist das geworden, wenn man nicht ganz oben ist, nicht an der Spitze der Stars, keine Fernsehverträge hat und keine Chance, welche zu bekommen. Ein Mittelklasse-Zirkus mit ordentlichen Künstlern, einer seriösen Leitung und annehmbaren Leistungen – was ist das heute? Man möchte fast sagen, dachte Nora Lippit in der ihr eigenen Sachlichkeit, es ist ein Idealistenberuf. Krasser ausgedrückt – ein hoffnungsloser Fall.
Sie hatten den ganzen Winter über nicht gastiert, hatten in dieser Stadt ihr Winterquartier bezogen und würden jetzt wieder hinausziehen – drei Stationen hatte sie ihnen besorgen können, aber selbst das war nicht einfach gewesen. Der Zirkus Stargast gehörte nicht zu den renommiertesten.
Warum eigentlich nicht, dachte Nora Lippit und bemühte sich um ein kritisches Auge. Aber alles, was sie sah, war künstlerisch einwandfreie Leistung, nicht besser, nicht schlechter als manches andere, was man in einer großen Show zu sehen bekam.
Aber all das wußte Nora Lippit längst. Sie kannte ihre Klienten jahrelang, sie interessierte sich für jede Einzelheit, für jede Neuerung, für jede Kündigung, für jeden Krankheitsfall, für alles, und deshalb war sie die beste und beliebteste Künstleragentin geworden, die es im europäischen Raum geben mochte.
Ein Zirkus fiel eigentlich nicht in ihr Ressort. Aber sie hatte eine Schwäche für diese Art von Kunst, die einstmals verlorengehen würde, weil der Sinn für das echt Komödiantenhafte sich in einer hektischen, kommerziell betonten Zeit nicht halten konnte.
Auch das wußte Nora Lippit. Sie war nicht gekommen, um sich über den artistischen Stand des Unternehmens Stargast zu informieren. Sie war auch nicht gekommen, um die verwirrende, aufregende Zirkusluft zu atmen.
Sie war gekommen, um einen Clown zu sehen, einen Nachwuchsclown mit Namen Alexis. Einen jungen Mann, von dem Wendi seit Weihnachten täglich erzählte.
Und wenn Wendi von einem Menschen täglich sprach, dann bedeutete das ihr spezielles Interesse an diesem Menschen.
Höchste Zeit, dachte Nora Lippit, daß ich zumindest sein Können unter die Lupe nehme. Er arbeitet mit Jonas, dem alten Clown zusammen, hatte Wendi eifrig erzählt, aber manchmal hat er auch schon eigene Solonummern. Dann arbeitet er mit Pferden.
Nora stützte das Kinn in die Hand und beugte sich vor, weil sie keine Lehne hatte, um ihren Rücken auszuruhen.
Sie war eine Frau mittleren Alters, sehr groß, breitschultrig, imposant. Sie hatte starkes, dunkles krauses Haar, das nur mit Mühe einmal wöchentlich so gebändigt wurde, daß es gepflegt und weich am Kopf anlag. Ebenso dicht und schwarz waren ihre Augenbrauen, was ihrem Gesicht einen intensiven Ausdruck gab, der nur durch die Gelassenheit gemildert wurde, mit der sie sich bewegte.
Kein Zweifel, sie war eine bekannte und berühmte Persönlichkeit im weltweiten Schaugeschäft, sie vermittelte Spitzenstars und Anfänger, sie kümmerte sich um komplette Ensembles ebenso wie um Einzelgänger.
Sie hatte nicht nur einen brillanten Verstand, sie hatte auch ein weites starkes Herz.
Jeder, der jemals mit ihr zu tun hatte, spürte das. Und jeder dankte es ihr mit unerschütterlicher Treue.
Es gab verworrene Schicksale unter den Künstlern, tragische Lebensläufe und schwierige Situationen. Und es gab eine Menge heikler Charaktere unter ihnen, aber es gab keinen, mit dem Nora nicht irgendwie fertiggeworden war.
Und das lag allein an der Tatsache, daß auch der komplizierteste Mensch merkte, daß Nora unerschöpfliches Verständnis hatte. Daß sie alles und jedes respektierte, alles ernst nahm, alles tolerierte.
Und wer tiefer zu sehen vermochte, der ahnte, daß Noras Leben nicht einfach gewesen war, daß sie ihre dunklen Punkte in der Vergangenheit hatte wie viele andere auch.
Die Artisten kletterten behende von ihrem Seil und verbeugten sich.
»Alsdann!« murmelte Nora halblaut und sah auf die Uhr. »Jetzt könnte allmählich der große Meister erscheinen.«
Und schon stolperte er herein, Jonas, der alte Clown. Noras Herz wurde warm bei seinem Anblick. Einer der ganz Großen, dieser kleine alte Mann mit dem breit geschminkten Mund und den treuherzigen Augen. Einer von denen, die Königen die Hand geschüttelt und von Präsidenten empfangen worden waren. Und der trotzdem seinem alten Zirkus die Treue hielt, obwohl er woanders Triumphe hätte feiern können. Der bei Stargast blieb, weil Stargast ihn dereinst von der Landstraße aufgelesen hatte, als er noch ein kleiner Junge war. Nicht der jetzige Direktor, nein, dessen Vater, der leider längst in Palermo begraben lag.
Aber Jonas konnte sich nicht trennen, hier war sein Standquartier, hier, in einem nur mittelmäßigen Zirkus, den er mit seinen eigenen Lorbeeren nun vorwärtszubringen gedachte.
Und das, dachte Nora, als sie ihn ohne Ressentiment kritisch betrachtete, wird er wohl spätestens in einem Jahr geschafft haben.
Nanu, ging es Nora durch den Kopf, während sie den braunen Nerz fester um die Schultern zog, denn es war empfindlich kalt geworden an diesem Märzabend im zugigen Zirkuszelt, wo bleibt denn unser Kleiner?
Gleichzeitig richtete sie sich etwas auf, um nach Wendi Ausschau zu halten. Aber da saß sie ja noch, in der vordersten Reihe, wie immer, neben Direktor Stargast und diesem Pierre.
Pierre Alsass, jetzt fiel es Nora wieder ein. Ein fähiger junger Mann. Ein bißchen zu geschäftstüchtig, nicht genügend Fingerspitzengefühl – bis jetzt. Aber das würde er schon lernen, weil’s anders gar nicht ging in diesem Beruf. Ach ja, der würde seinen Weg machen.
Die Pferde tänzelten in die Manege, und hinter ihnen tänzelte im bunten Clownsgewand Alexis, der jüngste
Clown des Hauses, derjenige, um dessentwillen Nora Lippit ihren gemütlichen Sofaplatz heute abend mit einer harten Holzbank vertauscht hatte.
Seit Weihnachten hatte sie vorgehabt, ihn einmal in Augenschein zu nehmen. Aber dies hier war erst die zweite Vorstellung in diesem Jahr gewesen, und vorher hätte sie inoffiziell erscheinen müssen, wenn sie ihn sehen wollte. Beim Training höchstens. Und Nora Lippit hatte keine Lust gehabt, ihr Interesse an dem jungen Mann so auffällig zu bekunden.
Sie wußte, worauf sie zu achten hatte.
Gutes Material, dachte sie zufrieden und nickte vor sich hin. Er verstand es, richtig zu fallen, was ungemein wichtig war. Ein anderer hätte sich bei diesen komischen und erheiternden Stürzen das Genick gebrochen.
Nicht so Alexis!
Mit ein bißchen Protektion, dachte Nora sachlich weiter, kann er es weit bringen. Er hat das Zeug dazu, er ist ein Komödiant. Einer, dem die Manege die Welt ist, dem der Staub die beste Luft zum Atmen und das Zirkuszelt der Himmel ist.
Der Junge, dachte Nora, der Junge ist echt. Ein Komödiant. Sein Lachen, seine Gesten, sein Talent für die Komik sichert ihm den Aufstieg. Mit Pferden umgehen, das kann er seit Jahren. Soviel sieht man gleich. Aber er wird mehr lernen müssen, Artistik, Seil, Balance. Nun, er ist jung. Er hat noch alles vor sich. Alles?
Nora Lippit stand langsam auf, schlich sich durch die linke Reihe hinter einen Pfosten und blickte aufmerksam in das Gesicht des Clowns, das jetzt ganz nah, dicht vor ihr auftauchte.
Er lachte. Und er legte dabei die Stirn in Falten wie ein Greis oder wie ein Baby – und er wiegte den Kopf wie einer, der hundert Jahre Weisheit erfahren hat.
Er lachte.
Nora Lippit lehnte an dem hölzernen Pfosten und starrte in den aufgewirbelten Sand der Manege.
Da stand sie noch, als der Clown sich längst auf eines der zotteligen Pferdchen geschwungen und unter jubelndem Beifall hinter dem Vorhang verschwunden war.
Mit einer unsagbar müden Bewegung stieß sich Nora von ihrer Stütze ab, langsam und geistesabwesend ging sie den schmalen Gang hinunter der offenen Tür zu und setzte sich in ihr Auto.
Mechanisch ließ sie den Motor an, wischte die Scheibe von innen blank und dachte: Fedor hat recht behalten. Alexis. Er ist Alexis. Und er wird keine einzige Chance haben, keine einzige.
Er wird über diesen Zirkus nicht hinauskommen, wo er mit so viel Mühe hineingekommen ist. Keine Chance, nein. Und dabei ist er ein echter Clown, ein guter Clown, einer, der es in sich hatte, von Anbeginn. Mit diesen Augen, die lachen und weinen zugleich, ein Komödiant eben. Ja. Fünfundzwanzig Jahre alt, und er weiß mehr über das Leben als mancher mit hundert.
Der Wagen rollte über den nassen Asphalt.
Es hatte geregnet, es war ein nasser, kalter Frühlingsabend.
*
Lisette war schlafen gegangen. Im Kamin brannte das Feuer schwach.
Nora goß sich die zarte chinesische Tasse voll duftenden heißen Tee, der im Silberkessel bereit stand.
Dann trat sie ans Telefon, wählte eine Nummer, die sie im Schlaf kannte, und sagte: »Du hast recht behalten, Fedja. Er ist es. Wie hat er das bloß geschafft?«
Die Stimme am anderen Ende sagte etwas, was Nora trocken auflachen ließ.
Dann hängte sie den Hörer ein und tat das, was sie heute schon in der Dämmerung getan hatte.
Sie setzte sich ans Fenster des kleinen Speisezimmers und starrte hinaus in die unbelaubten Bäume des Kurparks.
Der Kurpark war in der Form eines Rondells angelegt, mit Springbrunnen inmitten grünender Rosenbüsche.
Sie sah es nicht. Aber sie ahnte es deutlich: einen Kilometer weiter, in einer kleinen Weinstube, legte gerade jetzt ein junger Mann im dunkelblauen Anzug den Arm um Wendi, keine besitzergreifende, eher eine zufällig wirkende Geste. Und ihre runden Kinderaugen strahlten ihn an wie zwei Sterne, während rechts und links und gegenüber die Kameraden vom Zirkus ihren Wein bestellten, redeten, Pläne schmiedeten, unter ihnen Jonas, der alte Clown, und Pierre, der junge Agent.
»Alexis«, murmelte Wendi, und wer auch immer ihr zutrinken und mit ihr lachen würde, sie sah nur den einen, diesen einen, und was die anderen dachten, das war ihr egal.
»Wann zieht ihr weiter?« fragte sie halblaut.
»Der Zirkus? Mal sehen, ich glaube, in zehn Tagen geht’s los. Wir treten hier noch einmal auf, dann bauen wir ab. Aber es wird eine Weile brauchen, bis alles reisefertig ist. So ein Winterquartier löst sich nicht so schnell auf, weißt du…«
»Dann sehe ich dich nur noch einmal«, flüsterte Wendi und legte die kleine Hand um den Stiel ihres Weinglases, »und dann?«
»Warum nur noch einmal« fragte er leise und lächelnd zurück. »Wir können ja noch ein bißchen was dazwischenschieben, meinst du nicht auch? Oder bist du immer beschäftigt?«
»Ich?« Wendi stieß fast das Glas um.
»Ich bin so gut wie nie beschäftigt. Wenn ich nicht dieses dumme Studium an Hals hätte, ich wäre die reinste Drohne. Du hast’s gut, du hast ein Talent, einen Beruf, ein Ziel, aber ich dagegen…«
»Ja, ja«, sagte er leichthin und legte den Finger auf ihre Nasenspitze, »ich bin ein gemachter Mann, ein kommender Mann, einer, der für die Manege geboren ist.«
Sein Lachen klang tief und kehlig wie in der Vorstellung, wenn er einen guten Witz machte, und seine Augen blickten genauso dunkel und weich und abwesend, um nicht zu sagen traurig.
Das war es ja. Er verwirrte Wendi immer.
Sie wußte nicht, wie der Mensch Alexis wirklich aussah, sie wußte es nicht, wenn er geschminkt im Clownskostüm in die Manege tänzelte, sie wußte es auch nicht, wenn er, so wie jetzt, abgeschminkt neben ihr saß und sie anlachte.
»Werde ich es jemals wissen?« murmelte Wendi vor sich hin.
»Was denn, kleines Mädchen?«
»Wer du wirklich bist, Alexis.«
Sein Lachen verklang. Seine Augen blickten ernst und unerbittlich in ihr schmales Gesicht.
»Doch!« sagte er, ungeachtet des allgemein eingetretenen Schweigens, das seine Worte um so mehr hervorhob. »Eines Tages wirst du das wissen. Leider. Aber bis dahin…«, und das Lachen war wieder da, tief und kehlig und voll hintergründiger Heiterkeit, »wollen wir noch ein paar Gläser leeren, du und ich, und ihr auch, Freunde. Hoch lebe die Freiheit, der Zirkus und das Leben! Hoch!«
Die Gläser klangen, lachende Gesichter tanzten einen wilden Reigen vor Wendis verschleierten Augen, und sie hörte sich selbst »hoch!« rufen, und sie schmeckte den Wein herb und jung und würzig auf der Zunge.
An diesem Abend küßten sie sich zum erstenmal. Im Schatten der Rosenbüsche, unter unbelaubten Bäumen im Kurpark, der in der Form eines Rondells angelegt war.
Aber Nora sah es nicht mehr. Es war weit nach Mitternacht, und sie lag in ihrem breiten Bett.
Sie brauchte es auch nicht zu sehen, sie wußte es sowieso.
*
»Tag, Onkel Fedja!« rief Wendi strahlend, obwohl offenbar sehr eilig. »Wie gefällt dir mein neues Kostüm?«
»Du siehst aus wie eine Ballettratte. Aber das liegt an der Kürze. So trägt man’s jetzt allgemein, nicht wahr? Nun, wohl dem, der sich das leisten kann. Zu diesen Glücklichen gehörst du, Wendi. Manchmal könnte man meinen, du hättest seit deinem zwölften Lebensjahr kein Pfund zugenommen. Wirklich, allmählich müßtest du ein bißchen mehr Formen kriegen, meinst du nicht auch?«
Und er lachte aus vollem Hals, weil er wußte, daß dies Wendis stiller Kummer war.
Sie hatte die Figur eines Porzellanfigürchens, klein, unsagbar zierlich, zerbrechlich.
»Macht mir nichts aus!« war Wendis unerwartet heitere Antwort, und damit flog sie auch schon die Treppe hinunter, Fedor Rasin sah ihr kopfschüttelnd nach, denn er konnte ja nicht wissen, daß Wendi nicht mehr unter ihrer Winzigkeit litt, seitdem ein junger Mann mit undeutbaren dunklen Augen ihr gestanden hatte, daß er nichts so sehr liebe wie ihre Leichtigkeit und Zierlichkeit und daß es ihm überhaupt nichts ausmache, daß sie so klein sei.
»Sieh mal an«, sagte Fedor zwei Minuten später und ließ sich in den schweren braunen Ledersessel fallen, »unser kleines Kätzchen mausert sich aber ganz gehörig, Nora. Wie hast du denn das angestellt?«
»Ich«, erwiderte seine alte Freundin Nora Lippit, »ich habe nichts dazu getan, im Gegenteil. Am liebsten hätte ich es total verhütet, jedenfalls in diesem Zusammenhang – ach, Moment, wir haben ja noch keinen Kaffee…«
»Du sprichst in Rätseln«, sagte Fedor Rasin kopfschüttelnd und schnitt das untere Ende seiner Zigarre sorgfältig ab, »willst du mir nicht erklären, was du damit meinst?«
Nora rollte den Teewagen mit Kaffee und Gebäck herein, rief noch etwas zu Lisette hinaus und ließ sich ihrem Gast gegenüber nieder.
»Es hat sie erwischt, Fedja.«
»Na und? Mit zweiundzwanzig warst du schon unter der Haube, meine Liebe.«
»Es ist nicht ihr Alter, das mich daran stört. Es ist ihre Wahl.«
»Sag bloß – es ist…«
»Ja«, seufzte Nora und rührte in ihrer Tasse, »er ist es. Wendi ist wie ein aufgeschlagenes Buch, und man kann ruhig ein paar Seiten vorblättern, dann weiß man Bescheid, bevor sie es selbst weiß. Aber nachdem nun ich im Bilde bin, hat sie es endlich auch begriffen. Was schlägst du vor, Acapulco oder der Norden Finnlands?«
»Acapulco«, antwortete Fedor Rasin sehr entschieden. »Finnland würde ich ganz ausklammern. Diese Temperaturen, Nora, ich bitte dich. In zwei Tagen kannst du vor lauter Rheuma nicht einen Schritt mehr gehen.«
»Erinnere mich nicht an meine Leiden und an mein Alter, Fedja, sondern überlege dir lieber mal, was man sonst noch unternehmen könnte. Acapulco ist so mondän geworden in den letzten Jahren. Wendi macht sich nicht viel aus dem Rummel der großen Welt. Sie erforscht lieber auf eigene Faust etwas Neues, sie ist naturverbundener, als ich es war oder du.«
»Oh«, wehrte sich Fedor Rasin energisch. »Ich bin ein Naturmensch, Nora, wie kannst du daran zweifeln? Ich habe früher eine Woche lang in Jagdhütten gehaust und nichts anderes getan, als das Wild zu beobachten, den Wald, die Bäume, na, du weißt schon, was ich meine.«
»Ich weiß es in der Tat!« lächelte Nora und trank ihre Tasse leer. »Zumindest kann ich es mir ausgezeichnet vorstellen. Du hast den Pegel der Wodkaflaschen beobachtet, die ihr dort in den Jagdhütten munter kreisen ließet. Nein, Fedja. Wendi ist von anderer Art als du und ich. Um sie wirklich abzulenken, brauche ich mehr als ein Luxushotel mit Swimmingpool.«
»Na schön, Nora. Aber es braucht doch nicht gerade am Nordpol zu liegen. Im Ernst, du verträgst das nicht. Weißt du noch, wie du damals in Helsinki gefroren hast, als wir eine Tournee beendeten? Und dabei warst du bloß drei Tage dort.«
»Ich hatte mich eben noch nicht dran gewöhnt, Fedja. Wenn ich mich länger dort aufhalte, wird sich das vielleicht ändern.«
Fedor Rasin seufzte tief und abschätzig.
»Das schlimmste an den meisten Frauen«, sagte er mit Nachdruck, »ist die Tatsache, daß sie sich selbst so wenig kennen. Sie weigern sich einfach, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen. Und leider bist du in diesem Punkt nicht anders als die anderen.
Erstens, Nora, wirst du die Sache damit nicht ändern, indem du das Kind einige tausend Luftkilometer weiter nördlich oder südlich versetzt. Zweitens wirst du dir das Zipperlein holen, wenn du in Temperaturen unter Null leben willst, und sei es auch nur für eine kleine Weile. Nimm doch Vernunft an, Nora, du bist doch sonst nicht so kopflos.
Was willst du mit dieser Flucht überhaupt erreichen, denn nur als Flucht kann man das bezeichnen. Wendi wird es genauso durchschauen wie ich. Sie ist ein liebenswertes Menschenkind, ein bißchen unfertig noch und ziellos, na, was soll’s! Sie braucht eben länger als andere.
Aber Glück hattest du ja mit ihr, das gebe ich unumwunden zu. Nur – Nora mach dir einmal klar, daß du sie nicht vor allem bewahren kannst und sollst. Wendi wäre heute vielleicht ein reiferer Mensch, wenn du ihr Gelegenheit dazu gegeben hättest. Du bist eine Glucke, was das Kind angeht, mit einem eigenen hättest du dich nicht mehr engagieren können – entschuldige, ich vergaß…«
Nora Lippits starrer Blick löste sich von der Zimmerdecke.
»Nun gut«, murmelte sie heiser, »ich weiß, was du sagen willst. Du meinst es gut, aber du bist im Irrtum. Nicht Wendis wegen will ich auf Reisen gehen, nicht ausschließlich ihretwegen jedenfalls. Auch meinetwegen, Fedja. O ja, meinetwegen.«
Ihre dunklen Augen hefteten sich auf sein breitflächiges braunes Gesicht.
»Aber…«, begann er und zwang sich und seine Stimme zur Ruhe, wurde jedoch sofort von Nora unterbrochen.
»Kein Aber, Fedja. Ich stehe das alles nicht noch mal durch, falls du weißt, was ich sagen will. Ich habe das einmal erlebt, ich bin jung gewesen damals und stark. Ich bin mit heiler Haut davongekommen. Aber ein zweites Mal – nein, ein zweites Mal durch diese Mühle – du hast ja keine Ahnung! – das schaffe ich nicht mehr, Fedja, heute nicht mehr. Ich will es auch nicht mehr. Die Welt ist voller reizender junger Männer, warum muß es ausgerechnet dieser sein?«
Fedor Rasin hob die breiten Schultern und ließ sie wieder sinken.
Sein Lächeln war das eines resignierten älteren Herrn.
»Irgendwann, Nora, wirst du dein Geheimnis lüften müssen, zumindest Wendi gegenüber. Und was die unzähligen jungen Männer angeht, so wird Wendi dir klipp und klar antworten, daß es für sie nur diesen einen gibt. So ist die Jugend, und weiß der Himmel, Nora, ich finde das auch gut und richtig so. Laß sie sich doch durchbeißen, gib ihr die Chance, sich zu beweisen. Ihr und ihm, Nora…«
»Hör auf!« sagte sie heftig und erhob sich. »Bitte, Fedja, hör jetzt auf, ja?«
Er schüttelte langsam den Kopf, aber er sagte nichts mehr.
Er kannte Nora seit zwanzig Jahren. Er war ihr erster Klient gewesen, ein russischer Emigrant mit einem kleinen Kosakenchor. Er hatte ihr den Start ermöglicht und sie ihm ebenfalls.
»Komm, Nora!« murmelte er und legte ihr die Hand auf die Schulter, was gar nicht so einfach war, weil er bedeutend kleiner war als sie.
»Wir zwei alten Kämpfer werden uns doch nicht wegen einer jungen Liebe in die Haare geraten. Tu, was du für richtig hältst, laß dich nicht von mit beeinflussen. Acapulco, in Gottes Namen, und wenn’s denn sein muß, schon nächste Woche. Von dort fliegst du dann ein bißchen weiter nach Süden, dort findet Wendi ihre unerforschte Welt und du die Sonne, die du brauchst. Ich mach’ dir einen schönen Reiseplan und bringe euch zum Flugzeug.«
Sie wandte sich ihm zu, schob ihren Arm unter seinen und sagte mit einem tiefen Seufzer: »Du hast recht, Fedja, wie immer. Alte Freunde wie wir sollten sich nicht wegen einer Kinderei zerstreiten. Im übrigen ist dein Standpunkt in der Sache wahrscheinlich der bessere. Aber ich muß mit meinen Reserven haushalten, weißt du.«
»Nicht nur du«, erwiderte er stirnrunzelnd, »ich auch. Deshalb komme ich auch nicht mit euch, obwohl es natürlich das beste wäre. Ich werde in deiner Abwesenheit nach dem Haus sehen und Lisette zum Zahnarzt bewegen.«
»In diesem Punkt nimmst du dir aber wirklich zu viel vor«, versetzte Nora lachend, »das habe ich in all den Jahren nicht erreicht, obwohl es fast so wichtig wäre wie unsere Reise nach Acapulco.«
»Unterschätze nicht meinen Charme«, gab Fedor ernsthaft zurück, »sie wird fromm wie ein Lamm zur Schlachtbank gehen. Lisette – Lisette – wo bleiben Sie denn? Ich will mich verabschieden…«
Trippelnde Schritte klapperten über die Treppe, ein weißer Löckchenkranz schimmerte in der Sonne, Lisette lächelte ihn an, wie sie ihn immer anzulächeln pflegte: in demütiger Ergebenheit.
Für sie war er der bewundernswerteste Mann der Welt, nie hatte sie eine Aufführung versäumt, die er gab, und niemals hätte sie eine andere Stimme neben der seinen gelten lassen.
»Hör mal zu, Lisette!« sagte Fedja Rasin und hielt Lisettes Hand in der seinen. »Ich singe für Sie das ›Einsame Glöcklein‹, für Sie ganz allein, wenn Sie mir einen ganz großen Gefallen tun.«
»Jeden!« rief Lisette in ungehemmter Begeisterung, aber dann siegte ihr gesundes Mißtrauen. »Welchen denn?« erkundigte sie sich schon bedeutend kühler.
»Darüber«, sagte Fedor Rasin geheimnisvoll, »werden wir beide reden, wenn Frau Lippit nach Amerika fährt, In zwei, drei Wochen ungefähr.«
»Da bin ich aber neugierig«, murmelte Lisette unzufrieden, weil sie nicht wußte, was sie da erwartete.
»Und ich erst«, seufzte Fedja, als er die Treppe hinunterstieg, »wovon ernährt sie sich eigentlich, Nora?«
»Von Kartoffelpüree, größtenteils wenigstens«, erwiderte Nora halblaut »sie schwindet mir richtig dahin, findest du auch?«
»Eben, drum. Na, laß nur, Onkel Fedja macht das schon. Alles andere mußt du leider allein besorgen – toi, toi, toi.«
Einer Eingebung folgend fuhr er den Fluß entlang, dort, wo die Promenadenwege einsamer und romantischer wurden.
Und dann sah er sie – zwei junge Leute, die gemächlich unter zartgrünen Birken dahinschlenderten.
Er hatte den Arm um ihre Schulter gelegt, und sie rieb zuweilen den Kopf an seiner Brust.
Über ihnen spannte sich ein blaßblauer Märzhimmel, und die Sonne malte Kringel auf den Kiesweg.
Wie immer und zu allen Zeiten, dachte Fedor Rasin, so ist das Leben, so wird es bleiben, zwei Verliebte auf einsamem Parkweg. Das wird es noch geben, wenn sie den Mond heruntergeholt haben, wenn sie alle Atome zersplittert haben, wenn nichts mehr übrigbleibt – das wird es geben. Denn das ist der Anfang allen Lebens, und nichts wird es auslöschen können.
»Glück auf, ihr beiden«, murmelte er halblaut und hob die Hand wie zu einem Gruß. Aber sie sahen nicht hin zu ihm, sie entfernten sich langsam aus seinem Blickfeld, gingen der Brücke zu, und er wendete den Wagen und fuhr nach Haus.
*
»Ausgerechnet heute!« jammerte Wendi. »Warum kommt dieser miese Professor nicht an einem anderen Abend, Tante Nora? Heute ist doch die Abschiedsvorstellung im Stargast – ach bitte, bitte, laß mich trotzdem gehen! Du weißt nicht, was mir das bedeutet…«
Nora stülpte den Deckel auf ihre Schreibmaschine und raffte ein Bündel Papiere zusammen.
»Wendi, es ist nicht mein Professor, sondern deiner. Du hast mir damit in den Ohren gelegen, daß du ein Examen machen willst, unbedingt und mit aller Gewalt. Daß du dir selbst etwas beweisen willst. Ich halte nichts davon, dir Vorschriften zu machen, du mußt lernen, dich frei zu entscheiden und einmal im Leben etwas zu Ende zu führen.
Professor Becker kommt nicht von ungefähr, er kommt vielmehr auf Grund einer Einladung, die wir beide, du und ich, kürzlich beschlossen haben. Du wolltest dich über die neuen Prüfungsordnungen informieren, und ich war nicht abgeneigt, ihn einmal wiederzusehen.
Er war ein guter Gesellschafter damals, als wir zufällig auf einem Schiff zusammentrafen. Womit ich nicht sagen will, daß mir rasend viel an seiner Gesellschaft liegt. Ich hätte es bei weitem vorgezogen, mit Onkel Fedja Schach zu spielen. Wenn wir ihn ausladen sollen, bitte schön, das ist dann deine Sache.«
»Tante Nora, versteh mich doch – ich will ihn nicht ausladen! Das wäre ja geradezu empörend, unmöglich, provozierend, um Gottes willen, nein, das keinesfalls. Ich meine nur – ob ich denn unbedingt dabeisein muß…«
»Tja, Wendi, wie stellst du dir das vor? Was soll ich denn mit ihm anfangen? Ich hab’ ihn mir nicht eingeladen, wie ich eben schon sagte. Ich habe keine Fragen an ihn, mich interessiert keine Prüfungsordnung. Entweder du bleibst, oder ich lade ihn aus.«
»Nein, nein!« rief Wendi. »Nur das nicht. Dazu ist er viel zu wichtig, wenn ich auch gestehen muß – ach, mir ist im Grunde alles gleichgültig, außer Alexis. Sie brechen doch morgen auf, Tante Nora, begreifst du das nicht, dann werde ich ihn nicht mehr sehen können – es sei denn, ich fahre nach Wien, was ja nicht aus der Welt ist, wenn man es recht bedenkt, nicht wahr? Ich könnte doch ganz gut mal nach Wien fahren, die nächsten beiden Stationen sind viel weiter weg.«
Nora war aufgestanden. Ihr Haar lag weich und gepflegt um ihren schmalen Kopf. Sie wußte, was man dem Professor schuldig ist, der die Tochter examinieren würde.
»Wendi, bleib jetzt mal bei diesem Abend. Wien und alles andere können wir später besprechen. Also, was ist nun?«
Wendis kleine Gestalt sank in sich zusammen. Ihr Gesichtchen wurde spitz und blaß.
»In Gottes Namen«, flüsterte sie, »ich bleibe hier.«
*
Es wurde der ungemütlichste Abend, an den sich Nora erinnern konnte, seitdem sie diese behagliche alte Villa bezogen hatte, und das war lange her. Nicht nur Wendis Einsilbigkeit, ihre flatternden Hände, ihr geistesabwesender Blick, nein, auch ihre eigene unerklärliche Unruhe wirkte sich alles andere als gastlich aus.
Der Professor war seinerseits ein sehr nervöser Mann, dem das moderne Universitätsleben durch den krassen Gegensatz zum Althergebrachten mehr zu schaffen machte, als er sich selbst eingestehen mochte. Von dem Gesellschaftslöwen von früher war keine Spur mehr vorhanden, an jene Schiffsreise erinnerte er sich nur noch mit einem wehmütigen Lächeln.
Aber er konnte die Fragen präzis beantworten, die Wendi schließlich zögernd an ihn stellte, und da er ein Frühaufsteher war, verabschiedete er sich bereits um elf.
Kaum hatte er das Haus verlassen, als Wendi in ihren Ledermantel schlüpfte und Nora abbittend um den Hals fiel.
»Laß mich gehen, Tante Nora, bitte, laß mich gehen. Sie treffen sich immer noch nach der Vorstellung im ›Grünen Baum‹. Ich habe Alexis versprochen, hinzukommen, falls ich irgendwie kann. Und nun kann ich ja…«