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I.

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Für einige Augenblicke war da nur ein klaustrophobisches Gefühl. Festes Halbdunkel und angedeutete Gitter darin. Dann setzte die Bewegung ein, schickte ein Zittern durch den Boden. Der Ruck zog seinen Magen in die Tiefe. Irgendwo über ihm klagte Metall, übertönte das leise Motordröhnen. Es ging aufwärts, langsam und vibrierend, die Dunkelheit angefüllt mit einem mechanischen Ächzen und Stöhnen. Jacob Severin starrte in die Schwärze, dorthin, wo er seine Füße vermutete. In seinem Kopf pochte es dumpf, ein Laut, den nur er selbst hören konnte. Ein monotoner Takt, der ihm den Schweiß aus dem Körper trieb. Der Kragen seines Hemdes schien zu eng, die Krawatte lag wie eine Schlinge um seinen Hals. Unter den Armen spürte er brennende Feuchtigkeit.

Dünne Lichtfäden fraßen Holzlatten aus dem Halbdunkel, entblößten den zerkratzten Untergrund, das glänzende Leder seiner Schuhe. Sie erstarkten, drangen nun in dichten Bahnen von ihrem grellen Glühbirnenzentrum herein. Obwohl Jacob sie erwartet hatte, stach ihn das Licht in die Augen. Nadeln punktierten schmerzende Stellen in seinem Schädel. Sein Blick haftete auf dem Schatten, der da unförmig aus ihm herauswuchs. Eine schwarze Karikatur seiner selbst, mehr und mehr in die Länge gezogen, während sie an der künstlichen Sonne vorbei weiter hinauf glitten. An seinem längsten Punkt stieß der groteske Jacob mit zwei weiteren Schatten zusammen. Ihre Köpfe verwuchsen für wenige Sekunden miteinander, verschmolzen zu einem abstoßenden Dreileiberhybriden, ehe sie das entfliehende Licht wieder auseinander riss, klein schrumpfte und in der Dunkelheit zwischen den Stockwerken verbarg. Sein Mund fühlte sich ausgetrocknet und taub an, in seinen Augen brannte es. Als das Licht das nächste Mal begann, die Geheimnisse hervorzuzerren, starrte er auf die groben Querstangen vor sich. Aus den Augenwinkeln sah er die beiden Männer. Klobige Umrisse, denen er keine Bedeutung beimessen konnte. Obwohl sie nicht direkt hinter ihm standen, fühlte er sich von ihnen bedrängt, mischte sich ihre Nähe mit dem würgenden Gefühl in seinem Hals.

Nicht viel, und Jacob hätte aufgegeben, keine Anstrengung mehr unternommen, auf den Beinen zu bleiben oder die Augen offen zu halten. Mit jedem Millimeter, den sie nach oben glitten, verlor er an Kraft. Schweiß perlte auf seiner Stirn, rann ihm über Brauen und Schläfen, sickerte den Hals hinab.

Mit einem leisen Rumpeln kam die Welt zum Stillstand, erstarb der mechanische Lärm um ihn herum. Einige Momente herrschte völlige Stille, als hätte sich eine wohltuende Taubheit in seinen Ohren eingenistet. Jacob schloss die Augen, sperrte das schmerzende Licht aus. Er trieb für Bruchteile eines Augenblicks in diesem erlösenden Nichts. Dann vernahm er das Atmen der Männer und kehrte mit einem Lidschlag ins Innere des alten Lastenaufzuges zurück. Das Gefühl der Schwäche, des Aufgebens, war verschwunden. Er fühlte sich noch immer ausgelaugt, aber gleichzeitig fähig, sich umzuwenden. Synchron zu seiner Bewegung vollführten auch die beiden Männer eine Drehung. Jacob starrte auf ihre Rücken. Der Größere zog das Gitter mit einem Ruck in die Höhe. Er war groß, größer als Severin selbst, der sich für gut gewachsen und kräftig hielt. Muskulöse Arme, ein breites Kreuz und dunkles Lockenhaar, das über den Kragen eines tiefblauen Anzuges quoll. Das Gittertor rasselte nach oben, brachte den Aufzug durch seinen Aufprall zum Zittern.

Der andere Mann war kleiner, gedrungener, etwa so groß wie Jacob selbst. Der Ansatz kurzer pechschwarzer Haare war in seinem Nacken zu sehen. Er trug einen Frack und einen samtenen Turban auf dem Kopf. Seine Haltung war sehr aufrecht, die Brust weit rausgedrückt, die Arme davor verschränkt.

Gleichzeitig setzten sich die beiden Fremden in Bewegung, traten bestimmten Schrittes hinaus in den langen Flur. Eine nackte, grelle Glühbirne baumelte von der Decke, verbreitete knöcherne Helligkeit. Dunkle Backsteinmauern, vom Alter geschwärzt, ein grauer, sauberer Linoleumboden. In der Wand eine Tür, grau lackiertes Metall. Den Gang hinauf und hinunter siegte bald die Dunkelheit, hinterließ nur eine Ahnung weiterer Eingänge.

Jacob folgte den beiden, während er sich zu erinnern suchte, wer sie waren, warum er bei ihnen war und wo sie waren. Aber da gab es keine Antworten, nur einen unerträglichen Druck in seinem Schädel. Sie blieben vor der Feuerschutztür stehen. Neben ihr stand ein kleines Tischchen mit einer gläsernen Vase darauf. Drei Rosen darin, eine weiße, eine schwarze und eine vertrocknete zwischen ihnen, deren Farbe nicht mehr zu erkennen war. Ihr Anblick beunruhigte Jacob. Ein Anflug von Panik wallte in ihm auf. Der Geschmack von Blut lag ihm auf der Zunge, sein Puls begann in seinen Ohren zu rasen. Der Flur geriet ins Wanken, kippte erst in einem Bogen nach links, dann nach rechts, die nackte Birne der Drehpunkt. Übelkeit kroch seinen Hals hinauf, nistete sich in seinem Rachen ein. Plötzlich legte sich eine schwere Hand auf seine Schulter, rückte die schwankende Welt gerade. Die Panik ebbte ebenso schnell ab, wie sie gekommen war. Finger drückten sich auffordernd in seine Schulter und Jacob hob den Blick. Er sah zur Seite, schaute in ein Gesicht, das zwischen Turban und dichtem Krausbart nur helle, blaue Augen zu besitzen schien. Klare Augen, die im grellen Licht funkelten, denen etwas Zwingendes anhaftete. Der Bärtige nickte in Richtung der Tür und Severin wandte sich langsam um, tat einen zögerlichen Schritt vorwärts, hob seine Hand und ballte sie zur Faust, um kräftig gegen das Metall zu schlagen. Einmal, ein weiteres Mal. Der hohle Laut hallte geisterhaft durch den Flur.

Sie warteten. Jacob ließ die Hand sinken. Seine Zunge glitt unruhig über seine aufgesprungenen Lippen. Als sich endlich die Tür öffnete, atmete er erleichtert aus. Eine tiefrote Stofftapete rückte in sein Blickfeld, dann eine Frau. Sie war Mitte Fünfzig mit einem stark geschminkten Gesicht, auf dem sich Falten eingegraben hatten. Ihre Lippen glänzten in einem feuchten Rot, die Lider schimmerten blau, ebenso die klobigen, eckigen Kristallohrringe. Ihr blondes Lockenhaar ging bis zu ihren bloßen, glatten Schultern. Sie trug ein blaues Kleid, dessen Freizügigkeit nicht mehr zu ihrer verlorenen Jugend passte. An ihrer Hand glitzerte ein Ring mit einem weiteren Kristall. Sie schaute ihn mit einem Anflug von Überraschung in den Augen an: „Hallo, Jacob.“

„Hallo, Mutter.“ Seine Stimme ebenso überrascht, ein wenig unsicher. Er sah sich Hilfe suchend um, bemühte sich, seine Gedanken zu ordnen. Sich an den Flur zu erinnern, daran, dass er schon einmal hier gewesen sein musste. Aber die Erinnerungen lagen noch immer unter einem erstickenden Schleier.

Sie öffnete die Tür, ließ eine aromatische Wärme in den Gang dringen. „Und du hast Freunde mitgebracht.“ Sie musterte die beiden Männer, war zufrieden mit dem, was sie sah und trat zur Seite, den Rücken durchgedrückt. „Immer herein. Jacobs Freunde sind auch meine Freunde.“ Sie lächelte und klimperte dabei mit den Lidern.

„Mutter, ich …“, setzte er verzweifelt an, aber sie zuckte nur die Schultern: „Schon in Ordnung, Jacob. Es ist nur, … ach, sieh selbst.“ Damit forderte sie ihn auf, einzutreten. Er ging den beiden anderen voran, vorbei an seiner Mutter, hinein in den dezent erleuchteten Flur. Rot war die vorherrschende Farbe. Die Wände, der Teppich, selbst der Rahmen des hohen Spiegels neben einer offen stehenden Tür. Jacob kam an einem mit Gold und Porzellan überfrachteten Badezimmer vorbei, die Ablage über dem Waschbecken voller Parfümfläschchen. Die Luft war hier warm und süß, führte die Nuancen von fremdländischen Speisen und Räucherstäbchen mit sich. Der Flur öffnete sich in ein großflächiges Wohnzimmer. Heller Kerzenschein schwängerte den Raum mit seiner Hitze, machte die Luft schwer und träge. Im Zentrum stand eine enorme Tafel mit Stühlen darum. An den roten Wänden hingen Ölgemälde mit Szenen aus einem freizügigen, orientalischen Harem. Nackte Sklavinnen, vorangetrieben von muskulösen Wächtern, ergeben in den Armen eines dünnbärtigen Edelmannes. Von einem Beistelltisch, auf dem kleine Schälchen und die goldene Figur einer dreiköpfigen Gottheit arrangiert waren, stiegen Rauchfäden auf, mischten ihren Duft unter die Hitze der Kerzen, die überall verteilt standen.

„Ich wusste nicht, dass du … dass du hier eine Wohnung hast, Mutter“, brachte er hervor.

Sie griff nach seinem Arm, drückte ihn leicht. „Ich habe es dir bestimmt gesagt, Jacob. Meine kleine Oase der Entspannung.“

Er zuckte unsicher die Schultern: „Vermutlich habe ich es nur überhört.“ Sein Blick glitt durch den Raum, mühte sich gegen den schimmernden Glanz der Flammen.

„Vermutlich hast du das, Jacob.“

Am Ende der Tafel saß jemand, eine Frau, die auf einen Teller vor sich starrte. Die Tischplatte war reichhaltig bestückt – Schüsseln und Platten mit dampfenden Speisen, jeder Platz war gedeckt. „Du hast Besuch, Mutter?“ Er trat näher an den Tisch, besah sich die Frau. Eine vage Unruhe ergriff ihn bei ihrem Anblick, eine Mischung aus Neugier und furchtsamer Ahnung.

„Ich wusste nicht, dass du kommst, Jacob“, bemerkte seine Mutter in entschuldigendem Ton.

Mit zögernden Schritten trat er näher. Der Raum um ihn herum schien sich zurückzuziehen, bildete einen Rahmen für die braunhaarige Frau. Ihr Haar fiel in lockigen Wellen auf ihre Schultern, berührte sanft den hellen Stoff des eng geschnittenen Kostüms. Severins Herz schlug heftig, er hörte es in seinen Ohren rasen. Der Lärm wuchs heran, bis er selbst das taube Gefühl in seinem Schädel übertönte. Wie in Zeitlupe hob sie nun den Kopf und die Erkenntnis fraß sich dabei aus Jacobs Innerstem heraus, drängte sich in den Vordergrund, schnitt sich daraus hervor, um in schmerzender Klarheit in ihm aufzusteigen. Ein feines Gesicht, hohe Wangenknochen, Andeutungen von Sommersprossen auf dem schmalen Nasenrücken. Sinnliche, dezent geschminkte Lippen, ein zierliches Kinn. Ihre Rehaugen mieden einen Moment die seinen, dann strich ihr Blick über ihn. Die Erkenntnis traf ihn mit quälender Eindeutigkeit, gleichzeitig spürte er die Wut zurückkehren. Sie war ein gleißender Schnitt und kam so heftig aus ihm hervor, dass Severin schluckte und seine Nägel tief in sein Handbett grub. „Angelica …“

Ihre Stimme, leise und weich: „Hallo, Jacob.“ Sie hielt seinem brennenden Blick nicht stand, sah auf die Lichtreflexionen im Besteck vor ihr.

Er wandte sich in einer heftigen Bewegung um, seine Worte voller Abscheu und Vorwurf: „Was macht sie hier, Mutter?“ Sein zitternder Finger deutete auf die braunhaarige Frau. „Was verdammt noch mal, tut Angelica hier?“

Seine Mutter sah ihn traurig unter den blauen Lidern an. „Beruhige dich, Jacob. Ich habe sie eingeladen.“

„Du hast was?“ Seine Frage bohrte sich in die schwülstige Atmosphäre des Zimmers. Alles darin kam ihm wie blanker Hohn vor, wie billiger, glitzernder Tand. „Warum?“

„Wir hatten etwas miteinander zu besprechen, Jacob.“

Er trat wütend von einem Fuß auf den anderen: „Diese Person hat hier nichts verloren. Ich dulde nicht, dass sie hier ist!“

„Führ dich nicht so auf, Jacob. Du benimmst dich wie ein kleiner Junge.“

„Ich setze mich nicht mit dieser … dieser Schlampe an einen Tisch!“

„Dann bleibst du eben stehen. Aber deine Freunde haben sicherlich Hunger und möchten Platz nehmen.“ Sie deutete mit einem Kopfnicken auf die beiden schweigsamen Männer. Severin nahm sie verwirrt zur Kenntnis. Den vollbärtigen Fremden mit dem Samtturban und den klaren Augen. Seine weiße Hemdbrust war makellos und gestärkt, der Frack saß perfekt an seinem gedrungenen Körper. Und der andere, der Riese, mit seinen Prankenhänden, glatt rasiert, mit einer Hakennase. Sie musterten ihn mit reglosen Gesichtern. Mit ihrem Anblick verrauchte die Wut in seinem Inneren, die einen Moment lang so tiefrot wie die Stofftapeten gewesen war, und machte wieder dem dumpfen Gefühl von Hilflosigkeit Platz. „Ich …“ Seine Stimme, beraubt aller Schärfe, klang nun wieder brüchig und unsicher.

„Genug davon. Nehmt alle Platz. Zum Glück habe ich genügend Essen anrichten lassen, es dürfte für alle reichen.“ Ein befehlender Unterton in der Stimme seiner Mutter. Severin ließ sich widerwillig zu ihrer Rechten nieder, bemüht, seinen Blick auf alles zu richten, nur nicht auf die Frau gegenüber. „Ist Joseph nicht da?“, fragte er und breitete übertrieben sorgfältig die rote Stoffserviette auf seinem Schoß aus.

Seine Mutter, am Kopfende der Tafel, sah in unruhig an. „Wen meinst du?“

„Joseph, deinen Butler und …“ Er ließ den Satz in einem anzüglichen Grinsen enden.

Sie seufzte: „Ach, der ist doch nicht mehr bei mir. Der neue heißt Jean, aber ich habe ihm und dem Mädchen freigegeben. Bedient euch.“

Er besah sich das Essen. Gelber Reis, der von innen heraus zu leuchten schien, dünne Fleischstreifen, gedünstetes Gemüse, unzählige Soßen und Gewürze in kleinen Schälchen. Dann wandte er den Blick ab, um die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Die anderen begannen zu essen, er hörte ihr Kauen, den Klang des Silberbestecks auf den Tellern.

„Was macht sie hier, Mutter?“ Die Worte kamen ganz von selbst über seine Lippen, als hätten sie die ganze Zeit darauf gelegen, um einen ungeschützten Moment abzuwarten, um ausgesprochen zu werden.

Die blonde Frau ließ die Gabel sinken, ihre Finger mit dem klobigen Ring umfassten den langen Stiel eines Weinglases. Kerzenschein fing sich in dem blauen Kristall, funkelte darin. Jacob kam zu dem Schluss, dass es nur billiger Strass war. Ein protziger Angeberstein. Ehe er etwas dazu bemerken konnte, antwortete seine Mutter: „Stell dich bitte nicht so an, Jacob. Eure Verlobung ist nun schon seit vier Monaten gelöst.“

„Mich anstellen?“ Er sah sie empört an: „Du stellst dich an! Was ist nur los mit dir, Mutter? Du konntest Angelica noch nie leiden, warum ist sie also hier?“

„Beherrsch’ dich doch, Jacob. Wir haben immerhin Gäste.“ Sie nahm einen gezierten Schluck.

Er sah sich um, versuchte erneut, die beiden Fremden einzuordnen, die ihr Gespräch still verfolgten. Der Lockenkopf saß ihm schräg gegenüber, neben ihm wirkte Angelica klein und zierlich. Er schien voll auf mit seinem Essen beschäftigt zu sein, betrachtete jeden Bissen sehr sorgsam, ehe er ihn langsam zum Mund führte. Seine Miene blieb dabei ausdruckslos, als schmeckte es ihm weder, noch als würden ihn Jacob und seine Mutter sonderlich interessieren. Nur in seinen dunklen Augen schimmerte ein Anflug von Interesse, der sein unbeteiligtes Verhalten Lügen strafte. Der andere, der mit dem Turban auf dem Kopf, schnitt sein Fleisch in winzige Stücke, die er sorgsam aufspießte und auf denen er lange herum kaute. Seine klaren, auffälligen Augen bewegten sich dabei mit verstehender, amüsierter Arroganz zwischen den zwei Frauen und Jacob hin und her.

„Sollen sie doch zuhören“, stieß Severin hervor. Sein Blick streifte seine Gegenüber. „Ist doch schließlich kein Geheimnis, dass wir uns getrennt haben.“ Er sprach übertrieben laut und beiläufig. Dann schüttelte er verbittert den Kopf, hob sein Glas und prostete Angelica zu: „Auf gelegentliche Untreue!“

„Jacob!“ Seine Mutter fuhr ihn scharf an. „Ich dulde solche Unverschämtheiten nicht in meinem Haus. Angelica ist da in etwas hineingeraten und ich versuche ihr zu helfen.“

„Helfen? Ihr?“

„Du weißt, dass ich einflussreiche Leute kenne. Leute, die ihr in ihrer Lage womöglich beistehen können.“

Er winkte genervt ab: „Ja, ja, ich weiß! Deine wichtigen Leute! Du schläfst sogar mit ihnen.“

Sie tupfte sich pikiert den Mund ab. „Das war sehr ungezogen von dir, Jacob.“ Darauf folgte ein langes, bedrückendes Schweigen am Tisch. Severin sah sich um, spürte die Wärme der Kerzen, die sich mit dem Duft des Essens zu einer zähen Masse verband. Im hinteren Teil des Raumes gab es eine offene, moderne Küche. Gegenüber befand sich eine teure Wohnzimmergarnitur im selben Farbton wie die Tapeten. Rot. Er versuchte, Angelica zu ignorieren, sie auszublenden, aber ihr Antlitz schimmerte durch die fremdländischen Frauengesichter auf den Haremsbildern.

„Sie sind also Freunde von Jacob?“, brachte seine Mutter das Gespräch nach einer kleinen Ewigkeit wieder in Gang.

„Ihr Sohn war so freundlich, uns für den Abend einzuladen, Madame.“ Der Mann mit dem Turban sprach mit weicher Stimme, in der ein fremdländischer, vielleicht osteuropäischer Akzent mitschwang. Jacob horchte auf. Irgendetwas an diesem Tonfall kam ihm bekannt vor, gleichzeitig verspürte er eine deutliche Irritation. Verwirrt schaute er den Redner an, als dieser fortfuhr: „Wir brauchten ein wenig Abwechslung zwischen den Vorstellungen, mein Assistent und ich. Ihr Sohn meinte, Sie wären eine göttliche Gastgeberin, Madame.“

Die ältere Frau winkte mit einer zierlichen Geste ab: „Sie sind ein netter Charmeur, aber ein lausiger Lügner. Mein Sohn würde so etwas niemals sagen.“

Der Bärtige lächelte entschuldigend. „Verzeihen Sie mir, Madame. Ich müsste es allerdings besser verstehen, die Wahrheiten zu verzaubern. Vermutlich benötige ich für derlei Dinge das Rampenlicht.“

„Sie sind Künstler? Schauspieler vielleicht? Ich kenne einige Ihrer Kollegen.“ Sie zwinkerte ihm zu.

„Kein Schauspieler, Madame. Eher Schausteller. Varietezauberer, wenn Sie so wollen.“ Seine Finger glitten über den üppigen Bart.

„Ein Zauberkünstler, wie aufregend! Ich bin überrascht, dass du zur Abwechslung einmal ungewöhnliche Leute mitbringst, mein Junge.“ Sie tätschelte Jacobs Arm.

„Nenn mich nicht Junge. Du weißt, dass ich das nicht mag. Und … ich … habe die beiden nicht … eingeladen.“ Die Worte kamen nur zögerlich über seine ausgetrockneten Lippen. Jacob versuchte sich an etwas in dieser Richtung zu erinnern, fragte sich, wer die Fremden waren. Der Bärtige kam ihm vage vertraut vor, wie jemand, an den er sich erinnern müsste. Aber da war nur dumpfer, undurchdringlicher Trübsinn. Keine deutlichen Bilder, keine Namen, nichts.

Seine Mutter beugte sich verschwörerisch vor, ihre halbgeflüsterten Sätze an den Fremden gerichtet. Das zu enge Kleid ließ dabei einen mehr als deutlichen Einblick auf ihre Brüste zu. „Jacob ist angespannt, wissen Sie. Er und Angelica haben sich vor nicht allzu langer Zeit getrennt. Sie waren sogar verlobt und wollten heiraten. Es gab sehr viel Streit und böse Worte. Aber, Jacob, ich kann dir versprechen, dass Angelicas Besuch hier gar nichts mit dir zu tun hat.“

Severin schwieg verbissen und sah seine Mutter missmutig an. Die billigen Strasssteine funkelten bei jeder ihrer Bewegungen.

„Dann tut es mir leid, dass wir zu einem so ungünstigen Zeitpunkt erschienen sind. Vielleicht kann ich etwas tun, die Situation zu entspannen?“ Der Bärtige hob in einer entschuldigenden Geste die Hände. An seiner Rechten blitzte ein Diamantring.

„Entspannen?“ Die Stimme seiner Mutter wechselte in einen weicheren Tonfall. „Was meinen Sie?“ Ihre Lider klimperten in einer schnellen Abfolge.

Der Mann beugte leicht den Kopf. „Ein paar kleine … Tricks vielleicht, wenn es Sie nicht stört, Madame?“ Seine Finger strichen sorgsam die gefaltete Serviette glatt, die er neben seinen Teller gelegt hatte.

Die ältere Frau klatschte in die Hände. „Wenn es Ihnen keine Umstände macht. Ich wäre entzückt, wenn Sie uns etwas zeigen würden.“

„Doch keine Umstände für Sie, Madame. Es wäre mir ein Vergnügen.“ Er erhob sich langsam.

„Dann lassen Sie sich nicht aufhalten. Benötigen Sie dazu mehr Platz? Jacob könnte die Stühle beiseite räumen.“

Seine kräftigen Hände winkten ab: „Nicht nötig. Ich werde heute Abend keine Jungfrau zersägen.“ Er trat hinter das Kopfende der Tafel, blieb für alle deutlich sichtbar stehen.

„Wie überaus Schade! Aber Sie hätten auch Mühe, so eine hier zu finden.“ Sie lachte leise und warf dem Bärtigen einen koketten Blick zu.

Seine klaren Augen sahen ins Publikum, fixierten die Gastgeberin, Angelica und schließlich Jacob, dem beim Blickkontakt der Schweiß auf die Stirn trat. Es war, als strahlten die Augen von innen heraus, als wären sie erfüllt von einem magischen Leuchten. Die blasse Haut, der dichte Bart und der schimmernde Turban glitten in den Hintergrund. Severin hatte Mühe, sich davon abzuwenden, in seinem Schädel begann es zu pochen. Ein stetiges Hämmern, wie etwas, das sich unerbittlich aus den tiefsten Abgründen heraufarbeitete. Sein Atem ging stoßweise, seine Finger klammerten sich an den Tisch, krallten sich in das Tuch.

„Nur ein paar kleine Zaubereien, eine kleine Vorstellung.“ Der Bärtige verbeugte sich, ließ seine Hände wie einen aufgescheuchten Vogelschwarm durch die Luft gleiten. Schnelle, fließende Bewegungen, die vergängliche Symbole darin niederzuschreiben schienen. An seiner Hand glitzerte der Edelstein an einem goldenen Ring. Sich brechende Lichtreflexionen der Kerzen, ein Tanz wie unruhige Irrlichter. Das Schimmern huschte umher, war hektisch und schnell wie ein Kolibri, zog Münzen aus dem Nichts, Spielkarten, eine Rose. Jacob folgte den Bewegungen, ließ sie nicht aus den Augen. Diamantenrausch, Glanzfieber. Er versuchte die Schrift darin zu lesen, die Zeichen zu erkennen. Es war wichtig. Er spürte, dass es ungeheuer wichtig war. Aber in seinem Schädel schlug nur der Hammer, beschleunigte seinen Takt, brach sich im hellen Aufblitzen einen Weg heraus. Severins Lider fühlten sich bleiern an, aber er war unfähig, sie zu verschließen, sie aufeinander zu pressen, um das stechende Licht auszuschließen. Sein Blick verlor die Fixierung, zuckte ziellos umher. Die Welt drehte sich leicht, schwankte von einer zur anderen Seite. Schweiß und Hitze, die warme Luft brannte in seinen Lungen. Und sie roch. Da war ein zäher Duft, schwer und klebrig, der einen Augenblick zuvor nicht da gewesen war. Er kroch in Severins Mund, in seine Nase, drängte sich in seinen heftig pochenden Schädel hinauf. Nistete sich in seinem Magen ein, spielte mit der Übelkeit. Er sah undeutlich die Rose vor sich, eine verschwommene Dornenblume aus tiefem Rot und Grün. Ihre Blüte war bereits vom Niedergang gezeichnet. Die klaren Augen, die in den Grund seiner Seele starrten, die das Pochen und Hämmern sahen. Der Lärm schmerzte in seine Ohren. Die Finger mit dem grell funkelnden Edelstein daran, der die Luft ritzte, in Severins Gedanken schnitt. Ein Kaleidoskop von Farben, die sich mit dem Duft der Rose mischten. Der Blick ätzte sich in Severin hinein, unaufhaltsam durch das Chaos hindurch. Das rasende Pochen schlug nun in einen schnellen Rhythmus um, einte sich mit dem Takt seines Pulsschlages. Jacob versuchte dem Funkeln des Ringes zu entkommen, aber seine Augen gehorchten ihm nicht mehr. Der schillernde Samtturban, der struppige Bart, die klaren, wissenden Augen. Sommersprossen. Seine Zunge fühlte sich unförmig und aufgedunsen an, als wollte sie ihn ersticken. Schweiß brannte auf seinem erhitzten Körper. Dieser unausweichliche Blick. Die hektischen Finger. Das Pochen in seinem Schädel dröhnte nun im Klang seines Pulses, brandete unerbittlich gegen die wenigen, fragilen Gedanken. Das bannende Funkeln und Glitzern des Edelsteins, das immer wieder den Schein der unzähligen Kerzen einfing und noch überstrahlte. Sanft geschwungene Lippen, leicht geöffnet. Wieder dieser Blick, nah und überdimensional groß, die Pupillen verschwammen zu einem nachtschwarzen Zentrum. Braunes, weiches Lockenhaar. Der zähe Duft, die letzten Räume ausfüllend, alles mit seiner Klebrigkeit bedeckend. In seinem Kopf ein einziger Sog aus Bildern und Licht, in seinen Ohren das Crescendo seines Herzschlages. Und Augen, rehbraun und sanft. Ihre Weichheit angefüllt mit Verlangen. Die einzelnen Fragmente setzten sich zusammen. Kinn, Mund und Augen glitten an ihren Platz, Lippen, schimmernde Zähne und eine feuchte Zungenspitze. Alles andere verschwamm hinter ihrem Gesicht, blieb nur mehr ein blasses Farbenspiel. Leichte Röte unter ihrer weichen Haut, die Sommersprossen wie Myriaden winziger Inseln darin, ihre Augen dunkle Meere. Unergründlich tief im Glanz des Verlangens.

Jemand stieß ihn unsanft an. „Hey, wachen Sie auf, Severin. Der Staatsanwalt will ein bisschen plaudern.“ Ein rauer, behäbiger Tonfall. In die Pausen zwischen den Worten drang ein leises Quietschen. Ein gequälter, dissonanter Laut. Jacob wandte den Kopf etwas zur Seite. Dicke Finger malträtierten einen Expander. Die Hand gehörte zu einem kräftigen Arm in einem billigen grauen Jackett, dessen Nadelstreifen eine leichte Krümmung aufwiesen. Der Hemdkragen darunter stand offen. Aus seiner Nase schauten graue Härchen hervor.

„Ich habe nichts zu sagen.“ Jacobs Antwort brauchte einen Moment, ehe sie sich aus seiner Kehle gelöst hatte und in schneidendem Ton aus ihm hervor kam.

Der Mann roch nach billigem Aftershave. „Das sollten Sie aber. Die Dinge stehen nicht gerade gut für Sie.“ Zwischen den Sätzen das wiederkehrende Quietschen.

„Ziemlich schlecht, Severin.“ Eine weitere Stimme drang auf ihn ein. Neben der geschlossenen Tür saß ein anderer Mann, die Beine übereinander geschlagen. Sein Anzug stand ihm besser als dem ersten, auch sein Gesicht war feiner ausgeprägt. Aber seine Augen strahlten dieselbe Härte und Unnachgiebigkeit aus. Um seine Mundwinkel lag ein brutaler Zug.

Kramer und Feldberg. Severin erinnerte sich wieder an ihre Namen, an ihre Stimmen, die ihn mit endlosen Fragen bombardiert hatten. Fragen, Vorwürfen und Anklagen. Aber das alles war nur ein zäher Brei in seinem Kopf. Feldberg … war der an der Tür. Kramer der mit dem Expander. „Ich habe euch Bullen nichts zu sagen.“ In seinen Worten schwang Wut mit. Tiefe Wut über ihre Sturheit, ihre Engstirnigkeit, ihren Unwillen.

Kramer grinste. „Haben wohl schlecht geschlafen in Ihrer Zelle.“ Er saß vorne übergebeugt, gaukelte Vertrautheit vor. „Sind ziemlich unbequem, diese Zellenbetten, was? Aber man gewöhnt sich daran.“

„Sie müssen es ja wissen.“ Jacob lehnte sich in seinem Stuhl zurück, so weit es ging. Weg von Kramer und seinem stinkenden Aftershave. Fast wollte er den Bullen wegstoßen. Seine Hände … Severin ließ den Blick zu seinen Knien hinabwandern. Das harte Metall, blank poliert, voller unheilvoller Reflexionen, schnitt in seine Handgelenke. Er zerrte versuchsweise daran, aber der Stahl blieb unnachgiebig.

„Warum so unfreundlich, Severin?“ Kramer schüttelte in gespielter Enttäuschung den Schädel. Seine Finger quälten das kleine Gerät in einer Abfolge schneller Bewegungen.

„Nehmen Sie mir diese verfluchten Dinger ab!“ Er deutete mit dem Kinn auf die schweren Handschellen.

„Tut uns wirklich leid, Severin, aber das können wir nicht tun.“ Feldbergs desinteressierte Stimme. Jacob sah zu ihm herüber. Der Beamte warf einen kleinen Schlüssel in die Luft und fing ihn wieder auf.

„Machen Sie mich los!“

Der Mann schüttelte den Kopf, ließ den Schlüssel in der Seitentasche seines dunkelblauen Jacketts verschwinden und tätschelte sie überschwänglich. „Ihre Hände bleiben, wie sie sind. Immerhin sind es die Hände eines Mörders.“ In Feldbergs beiläufigem Ton schnitt der Satz wie ein Skalpell in Severins Gedanken. Das Wort fuhr glatt durch alles hindurch, trennte Wut und Verwirrung entzwei.

„Ich bin kein Mörder!“ Seine eigene Stimme klang in der Stille des Raumes wie ein Paukenschlag. Die beiden Beamten blickten auf, zeigten gleichzeitig ein Lächeln, das unbarmherzig und kalt war, als übten sie für einen Wettbewerb in Synchronmimik. „Ich bin kein Mörder!“ Die Worte hallten durch seinen Kopf, schlugen gegen unscharfe Bilder, gegen all die Entgegnungen. Trafen Angst und Wut und Schmerz.

„Ich …“ Angelica. „… bin …“ Tiefe Furcht kroch aus ihm hervor. „… kein …“ Es war nicht wahr. „… Mörder.“ Konnte nicht sein. Blut rauschte in seinen Ohren, Tränen überzogen den Raum mit einem verschwommenen Schimmer.

Kramer sprang auf, sein Stuhl schwankte einen Augenblick, drohte zu kippen, tat es aber doch nicht. Der Expander in seiner Hand zuckte heftig. „Reden Sie keinen verdammten Mist, Severin.“ Sein Gesicht schob sich bedrohlich näher, die Nasenflügel bebten unkontrolliert. „Sie sind ein Mörder.“ Speicheltropfen wirbelten durch die Luft, besprühten Jacobs Gesicht. Kramers Atem strich über ihn hinweg. Er stank nach Zwiebeln und Magenbeschwerden.

„Nein!“

Die Faust schoss hoch, Severin zuckte in der Erwartung eines Schlages zurück. Aber er blieb aus. „Am liebsten würde ich ein Geständnis aus Ihnen herausprügeln, Sie eingebildetes Arschloch.“ Das Metall des Expanders bohrte sich in seine Wange. „Jedes einzelne Wort. Die ganze Scheiße aus Ihnen raus.“

Jacob hob den Blick, stellte sich Kramers brennenden Augen. Sie quollen förmlich aus den Höhlen hervor, das milchige Weiß von roten Äderchen durchzogen. „Ich war es nicht!“

Der Druck der Faust verstärkte sich. „Sie haben sie erwürgt, Severin. Erst haben Sie das Mädchen gevögelt und sie dann stranguliert. Mit einem Seidenstrumpf.“ Seine freie Hand fuhr sich in einer theatralischen Geste an den Hals.

„Nein!“ Jacob spürte Panik in sich aufsteigen. Bilder drangen aus dem Schatten nach vorne, legten sich wie ein schmieriger Film über seine Sicht. Ihr Gesicht, Angelicas Gesicht: Sommersprossen, Rehaugen, weiche Lippen. Und das Rauschen in seinen Ohren. Ein blutiges, unruhiges Meer im Klang seines Pulses. „Nein!“

Plötzlich ließ Kramer von ihm ab, seine Hand sackte herab, der Expander beruhigte sich wieder, verfiel erneut in seinen monotonen Rhythmus. Im Gesicht des Beamten zeichnete sich ein zufriedenes Lächeln ab. „Aber wissen Sie was? Ich muss es gar nicht aus Ihnen herausprügeln. Sie müssen es nicht einmal gestehen.“ Er schob seinen Stuhl zurecht und ließ sich schwer darauf fallen.

„Ich werde nichts gestehen. Ich war es einfach nicht.“

Kramer zuckte gleichgültig die Schultern. „Erzählen Sie nur wieder Ihren Quatsch, Severin. Unsere Beweise sind eindeutig. Aber der Herr Staatsanwalt hört sich Ihr Hirngespinst gerne an. Dafür sind wir ja überhaupt hier.“

Jacob wandte seine Aufmerksamkeit von dem Polizisten ab und sah zum Mann hinter dem Schreibtisch hinüber. Er war hager und jung, mit wachsamen Augen und einem Mund, dessen Winkel nach unten deuteten, auch wenn er redete. Sein Anzug war teuer, ihm aber etwas zu weit. Das Haar trug er streng nach hinten gekämmt. Die feingliedrigen Finger gegeneinander gedrückt, die Lider halb geschlossen, beobachtete er Jacob. „Nun, erzählen Sie mir Ihre Geschichte.“ Die Linke deutete eine einladende Geste an. Seine Stimme war sanft und leise genug, dass man sich anstrengen musste, ihm zuzuhören.

„Warum? Sie glauben mir doch ohnehin nicht.“ Jacob schob sein Kinn vor und starrte den Staatsanwalt an.

„Trotzdem haben Sie die Möglichkeit, mir Ihre Version zu erzählen. Das wollten Sie doch, oder nicht?“

„Ich will, dass man mir glaubt!“

Der Mann legte die Stirn in Falten. „Sie stehen unter Mordanklage …“, setzte er an, doch Jacob unterbrach ihn: „… aber ich bin unschuldig!“

„… und die Beweislast ist erdrückend.“

„Scheiß auf Ihre Beweise! Ich war es nicht. Ich habe Angelica nicht …“ Seine Worte zerbröckelten.

„… umgebracht?“

Severin stieß gequält die Luft aus: „Nein, habe ich nicht.“

„Sondern?“

Jacob zuckte müde mit den Schultern und schwieg. Der Staatsanwalt beugte sich vor, stützte die Arme auf der blanken Tischplatte ab und sagte: „Hören Sie, Severin, strapazieren Sie meine Geduld nicht. Ich höre mir Ihre Geschichte an. Was wollen Sie mehr?“

„Haben Ihnen diese beiden Clowns nicht bereits meine Aussage gegeben?“ Kramer richtete sich auf, ließ sich auf den Wink des Staatsanwaltes aber wieder zurücksinken.

„Ich tue das hier nicht, weil es mir Spaß macht, sondern weil Ihre Mutter jemand ist in dieser Stadt.“

„Warum ist sie nicht persönlich gekommen, um mir zu helfen?“, fragte Jacob unsicher.

„Erzählen Sie es mir. Erzählen Sie mir, was passiert ist. Ich fordere Sie nicht noch einmal auf.“ Der hagere Mann lehnte sich zurück, die Lider halb geschlossen. Severin fragte sich, ob seine Finger manikürt waren. Die Nägel glänzten wie poliert, kein Härchen auf den Handrücken.

„Spucken Sie es schon aus, Mann, oder sollen wir Sie in Ihre Zelle zurückbringen?“ Feldberg redete drängend auf seinen Rücken ein.

„Ich … ich kann mich kaum erinnern“, brachte Jacob hervor. Die Angst war wieder da, schnürte ihm die Kehle zu.

„Können nicht, oder wollen nicht?“

„Ich kann nicht, verdammt! Die Einzelheiten sind verschwommen. Als … als hätte jemand versucht sie mit einem Schwamm auszuwischen.“

„Sie selbst?“

„Nein! Nein, verdammt. Meinen Sie, ich will mit Löchern in meiner Erinnerung herumlaufen?“ Jacob wurde lauter, die Furcht rann durch seine Gedanken hindurch und hinterließ einen roten Schein aus Wut. „Glauben Sie, ich weiß nicht, wie das alles klingt? Meinen Sie, ich würde das alles erzählen – so unglaubwürdig wie alles darin ist?“

„Beruhigen Sie sich, Severin. Bisher haben Sie mir noch gar nichts erzählt.“

Jacob biss sich auf die Lippe, wartete, bis er den Schmerz wahrnahm. Die Wut trat etwas zurück, dennoch zitterte seine Stimme: „Es sind alles nur lose, nur verwirrende Teile, die nicht zusammenpassen wollen, die in meinem Kopf herumspuken. Sie lassen mich nicht los! Aber ich bilde sie mir nicht ein, das weiß ich. Ich … ich habe Angelica nicht umgebracht. Das hätte ich niemals gekonnt. Ich … ich war wütend auf sie – sie hat mich immerhin betrogen, als wir noch verlobt waren, aber … deshalb bringe ich sie doch nicht um! Irgendwie … vielleicht liebe ich sie auch einfach noch irgendwie. An diesem Abend hatte sie Sorgen. Deshalb war sie bei meiner Mutter. Ich hatte ja keine Ahnung davon, ansonsten wäre ich niemals dorthin gegangen. Aber sie war nun einmal da. Wir haben nicht viel gesprochen. Ich war wütend, ja. Auf sie oder auf meine Mutter, vielleicht auf mich selbst. Am liebsten wäre ich sofort wieder gegangen, aber sie hat uns eingeladen. Meine Mutter, meine ich. Sie hatte reichlich kochen lassen, aber das Personal bereits fortgeschickt. Also aßen wir. Mutter redete die ganze Zeit mit … mit diesem Mann.“ Severin starrte mit offenem Mund vor sich hin, versuchte die Bilder jener Nacht heraufzubeschwören, aber sie blieben unscharf wie flüchtige, verwackelte Photographien.

„Sprechen wir über diesen Mann, Severin. Wer war er?“

Er zuckte hilflos mit den Schultern: „Ich weiß es nicht.“

Der Staatsanwalt tippte nachdenklich mit den Fingerspitzen gegen seine Handfläche. „Das ist ein bisschen wenig, oder nicht?“

„Hören Sie, wenn ich es wüsste, würde ich es Ihnen doch sagen. Aber ich habe keine Ahnung, wer er ist. Ein Bühnenzauberer, das ist alles was ich weiß.“

„Bühnenzauberer?“

„Ja, er führte Tricks vor. Karten und Münzen aus der Luft fischen und so. Aber …“

Der Mann hinter dem Schreibtisch seufzte resigniert: „Aber …?“

Jacob mied seinen Blick und starrte wieder auf die Regenflecken am Fenster. Das kleine Büro lag im ersten Stock, die Aussicht beschränkte sich auf einen Parkplatz und eine lange Gebäudefront aus sandfarbenem Stein. Hinter ihren Fenstern glaubte er unzählige weitere Büros zu erkennen. Der Himmel musste grau und schwer sein, denn die Helligkeit draußen wirkte kühl und regnerisch.

„Aber?“ Feldbergs Stimme schnitt in den trostlosen Anblick, riss Severin zurück in die Enge des Zimmers. Er sah sich um, blinzelte, um einen plötzlichen Anflug von Erschöpfung abzuschütteln. Ein zaghaftes Gefühl von Unwirklichkeit lag über allem. Der Schreibtisch, die metallenen Aktenschränke und die Bilder an den Wänden wirkten wie billige Filmrequisiten, die drei Männer um ihn wie schlechte Komparsen in einer noch schlechteren Szene. „Das kann doch alles gar nicht passieren …“

Kramer schob sich ein Stück weit vor, der Expander in seiner Hand ächzte. „Hier wird gleich noch etwas ganz anderes passieren, wenn du uns weiter zum Narren hältst.“ Aus den Augenwinkeln sah Jacob, wie sich der Beamte mit einem herablassenden Grinsen zurücklehnte und das Sportgerät in seiner Hand betrachtete. „Erzähl dem Herrn Staatsanwalt schon den Quatsch, den du uns aufgetischt hast, Sportsfreund.“

Severins Wangen färbten sich rot, Scham und Wut begannen darin zu pochen. Er funkelte Kramer an, aber dessen Grinsen wurde nur noch breiter.

„Also“, schaltete sich der Mann hinter dem Schreibtisch wieder ein, „was ist das für eine Geschichte?“

Einige Augenblicke lang grub sich sein wütender Blick in Kramer, dann wandte Jacob sich ab. „Ich kann Sie schon lachen hören“, presste er feindselig hervor.

„Überlassen Sie diese Entscheidung mir.“

„Wenn Sie es sagen … Ich kann es nicht beweisen, aber ich vermute, dass man mich hypnotisiert hat.“ Severin schloss die Augen, stellte sich Kramer und Feldberg vor, wie sie dem Staatsanwalt viel sagende Blicke zu warfen.

„Hypnotisiert?“

„Ich weiß, es klingt verrückt, aber dieser Fremde, dieser Zauberer, er hat irgendetwas gemacht. Mit seiner Stimme und seinen Augen. Ich kann mich an kaum etwas erinnern, aber seine Augen, … die werde ich niemals vergessen. Sie waren irgendwie … unheimlich.“

„Unheimlich?“ Ein trockener, beinahe spöttischer Tonfall.

Jacob vermied es, den Blick zu heben. „Man konnte ihnen nicht entgehen und musste immer wieder zu ihnen hinsehen. Und dann sein Ring. Er hat etwas mit den Lichtreflexionen angestellt.“

„Braucht man dazu nicht ein Pendel?“ Feldbergs Stimme.

Severin riss die Augen auf, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Das Metall der Handschellen schnitt in seine Haut. „Was weiß ich, was man dazu braucht! Finden Sie es heraus. Finden Sie diesen verdammten … Hexer!“ Die Sätze kippten in lautes Geschrei.

„Ihnen ist bekannt, dass niemand gegen seinen Willen hypnotisiert und schon gar nicht zu einem Mord befohlen werden kann?“

„Ich habe sie nicht getötet! Die … die waren das. Die haben es getan und mich als Sündenbock benutzt.“ Jacob biss auf seine Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Seine geröteten Augen starrten den Mann ihm gegenüber an, dessen Miene milden Unglauben ausdrückte. „Ich weiß auch, dass man nicht einfach so hypnotisiert werden kann. Aber … vielleicht hing es mit diesem Parfüm oder was es war zusammen.“

„Was für ein Parfüm denn schon wieder?“, fragte Kramer genervt. „Davon haben Sie uns noch gar nichts erzählt. Es wird ja immer schöner.“ Der Expander quietschte entrüstet.

„Daran habe ich mich vorher nicht erinnert.“ Severin richtete sich auf. „Da war ein Duft, sehr intensiv. Anfangs hielt ich ihn für ein Parfüm, aber jetzt bin ich mir sicher, dass es keins war. Es war auch vorher überhaupt noch nicht da. Erst als er mit seinen Tricks anfing.“

„Das ist doch der größte Schwachsinn, den ich je gehört habe. Warum buchten wir den Kerl nicht wieder ein?“, schnaubte der Beamte.

„Hören Sie, Kramer, ich weiß, dass es verrückt klingt. Aber Sie kennen doch die Geschichten über Sexuallockstoffe und so. Vielleicht hatten die Kerle ja so etwas. Etwas, das so ähnlich wirkt. Und zusammen mit seiner Stimme und dem Glitzern seines Rings …“

„… hat man Sie hypnotisiert und zum Mord an Ihrer ehemaligen Verlobten gezwungen.“ Feldberg lachte laut auf. „Aber vorher wollten die noch, dass Sie mit ihr schlafen. Oder konnten Sie wegen des Lockstoffs nicht an sich halten?“

Jacob schluckte schwer, seine Kehle war wie ausgetrocknet. „Ich kann mir vorstellen, dass die Geschichte phantastisch klingt, aber ich weiß, dass ich nicht falsch liege. Hypnose … damit können die auch Erinnerungen löschen, oder nicht? Darum habe ich diese Lücken.“

„Mumpitz! Ich sage Ihnen, warum Sie diese Lücken haben: Weil Sie zu feige sind, sich zu erinnern.“

„Nein, ich kann es nicht! Der ganze Abend ist so … so wenig greifbar. Ich kann kein klares Bild fassen. Ich kann mich nicht erinnern!“ Er hob die Hände, um sich über das schweißnasse Gesicht zu fahren, bemerkte die Handschellen und ließ entsetzt die Arme sinken.

Feldbergs leise, schneidende Worte in seinem Rücken: „Sie sind nur ein mieser kleiner Mörder, nichts weiter. Und wir kriegen Sie dafür am Arsch.“

„Nein! Nein!“ Severin schüttelte heftig den Kopf. „Ich war es nicht! Glauben Sie, ich würde dann eine solche Geschichte erzählen? Die … die benutzen mich als Sündenbock!“

„Es gibt keine sie. Außer Ihnen und der Toten war niemand in der Wohnung.“

„Waren sie doch! Zwei Männer. Der Zauberer und noch ein anderer - ich glaube, er war Franzose. Er hatte einen französischen Namen.“ Jacobs Stimme zitterte.

„Wir haben sämtliche Varietes abgeklappert, nirgends ein Hinweis auf einen solchen Mann.“

„Vielleicht tritt er nicht auf. Oder er war nicht von hier.“

Kramer winkte ab. „Auch einschlägige Agenturen haben nichts ausgespuckt. Es gibt keinen, auf den Ihre Beschreibung passt.“

„Es muss ihn geben! Sie müssen intensiver nach ihm suchen.“ Seine Finger gruben sich krampfhaft ineinander.

„Wir werden nichts dergleichen tun.“ Dem Satz des Staatsanwaltes folgte ein beklemmendes Schweigen.

Jacob sackte ein Stück weit in sich zusammen. „Sie … glauben mir nicht.“

„Nein.“ Seine Hände trommelten leise auf die Kante der Tischplatte. „Und ich werde Ihnen sagen, warum, Severin. Da war niemand außer Ihnen und Ihrem Mordopfer.“

„Ich habe Angelica nicht …“, begehrte er auf, aber der andere schnitt ihm das Wort ab. „Halten Sie den Mund. Ich habe mir Ihre Geschichte angehört, weil Ihre Familie nicht unbedeutend in dieser Stadt ist. Ich habe erlaubt, dass Kramer und Feldberg nach Ihrem Hirngespinst suchen. Aber jetzt genügt es. Ich kann Ihnen nicht mehr helfen. Und ich will es auch nicht. Sie sind erledigt, Severin.“

„Ich … bin …“

„… erledigt“, ergänzte der Beamte und drückte vergnügt seinen Expander.

„Nein. Nein! Die waren da, ganz bestimmt.“ Angst kroch aus ihm hervor, griff nach seiner Stimme und riss tiefe Wunden hinein. Schweiß lief ihm in Bahnen das Gesicht hinab, klebte seine Hose an der Sitzfläche des Stuhles fest. „Sie müssen mir glauben! Die wollen mich fertig machen. Die haben Angelica das angetan.“ Jacob zerrte an den unerbittlichen Stahlbändern an seinen Handgelenken.

„Es gibt keine die. Nur Sie und die Tote.“

„Meine Mutter! Meine Mutter kann bezeugen, dass sie da waren. Um Gottes Willen, fragen Sie sie!“ Severin sah sich gehetzt um, Tränen standen in seinen Augen, verschleierten das kleine Büro und die drei Männer, die ihn voller Abscheu musterten.

„Ihre Mutter, Severin, ist auf Weltreise.“

„Auf … Weltreise? Aber … Deshalb ist sie nicht hier.“ Er schüttelte ungläubig den Kopf. Sie hatte ihm nichts davon gesagt. Gar nichts. „Aber Sie können sie doch erreichen. Anrufen oder kabeln. Sie wird Ihnen alles sagen!“

„Sie ist bereits seit drei Wochen auf Weltreise.“

„Was?!?“ Severin sprang auf, krümmte sich aber gleich darauf wieder zusammen und fiel auf seinen Stuhl zurück, als hätte ihn ein unsichtbarer Hieb in den Magen getroffen. „Was erzählen Sie da für einen Unsinn, Mann?“, presste er heraus.

Kramer verzog verwundert das Gesicht, aber in seinen Augen glitzerte es gefährlich. „Was erzählen Sie da für einen Unsinn, ist wohl die Frage.“

Jacobs Wangen brannten wie Feuer. „Das … das kann nicht sein. Ich … sie war da an diesem Abend! Sie war da!“

Der Staatsanwalt schüttelte den Kopf. „Sie war weder vor zwei Tagen, noch vor vier oder sechs Tagen hier.“

„Aber …“ Er starrte in ungläubigem Entsetzen den Mann hinter dem Schreibtisch an.

„Ihre ohnehin schon bescheuerte Geschichte geht damit endgültig den Bach runter. Schade für Sie.“ Feldberg bemühte sich nicht, sein Vergnügen zu verbergen.

„Nein! Ich könnte Angelica niemals etwas antun. Wir … Ich liebe sie noch immer, verstehen Sie? Ich war nur verbittert, weil wir uns getrennt haben.“ Jacob bekam kaum Luft. Der unnachgiebige Stahl der Handfesseln hatte sich wie ein brennendkalter Ring um sein Herz gezogen.

„Ich sage Ihnen was, Severin: Sie haben sie gehasst. Nicht nur, dass Sie unerträglich eifersüchtig waren, Sie haben auch mit Morddrohungen um sich geworfen, als die Beziehung in die Brüche ging.“

„Sie hat mich betrogen, Kramer!“

„Deshalb bedroht man noch lange niemanden mit dem Tod.“

„Wer hat …“

Der Beamte winkte ab: „Wir haben so unsere Quellen.“

Jacob sah bestürzt auf den Linoleumboden zwischen seinen Füßen. Die Maserung darin schmerzte in seinen vertränten Augen. Ein Bild stieg in ihm auf, floss langsam aus der Verschwommenheit zusammen. Er riss die Lider weit auf, ließ die stechende Helligkeit auf den Eindruck prasseln, aber er wurde dennoch deutlicher. „Ich hätte ihr niemals etwas getan. Niemals. Wir sind uns einfach aus dem Weg gegangen. Das ist alles.“ Seine Stimme war ein zerbrechliches Flüstern. Im Raum war es still genug dafür.

„Wir glauben etwas anderes: Sie haben Ihre ehemalige Verlobte in Ihre Wohnung eingeladen.“

„Nein, es war das Loft meiner Mutter.“

Kramers Entgegnung troff vor Sarkasmus: „Sie waren also ganz zufällig dort und unerwartet kam Ihre Verlobte vorbei, blieb zum Abendessen, sie haben miteinander geschlafen und sie spontan umgebracht. Danach schließlich noch die Leiche in Ihr eigenes Apartment geschleppt.“

„Nein, so war es nicht.“

„Oder Sie waren von Anfang an nur scharf darauf, sie zu vögeln. Haben ihr gesagt, dass sie sich mit ihr versöhnen wollten. Frauen stehen ja auf so etwas. Ein bisschen gutes Essen, etwas zu viel Wein und dann ab in die Kiste …“

Jacob schüttelte kaum merklich den Kopf. „Ich habe nicht …“ Das Bild kam immer näher.

„Nicht mit ihr geschlafen?“ Kramer wartete Jacobs Reaktion gar nicht erst ab. „Dann waren das wohl alte Spermaspuren von Ihnen, die wir da in der Toten gefunden haben?“

„Ich …“ Es war Angelicas Gesicht, das nun deutlich vor ihm stand. Der Anblick schnürte ihm die Kehle zu. Ihr leicht geöffneter Mund, die sommersprossige Nase und ihre rehbraunen Augen, die einen Glanz in sich trugen, den er nur zu gut kannte. „Ich … wollte nicht … Die haben mich dazu gezwungen.“ Jacob spürte, dass weitere Erinnerungsfetzen aus der Dunkelheit aufstiegen. Eindrücke, die das Blut in seinen Ohren rauschen ließen. Sein Schwanz zuckte unruhig in seiner durchschwitzten Hose. „Die haben mich zu alledem gezwungen …“

„Jetzt erinnern Sie sich also doch, mit ihr geschlafen zu haben?“

Severins weit aufgerissene Augen tränten. Sein Atem ging schwer, rasselte in seiner pochenden Brust, aus der die Bilder emporstiegen. Angelica. Ihr Name rauschte in seinen Ohren, flutete durch seinen Schädel, erstickte alle anderen Gedanken. Er begann heftig zu zittern, spürte Ekel und hilflose Wut in sich aufsteigen. Ein zäher Brei, in den sich das Gift der Erregung schlich. Angelica. Ihr Name pulsierte durch seinen Körper. Das Glitzern brennender Lust in ihren Augen.

Hitze. Das Lichtermeer der Kerzen verbreitete träge, schweißtreibende Wärme. Sein Glanz blendend, verschwommen. Die Luft geschwängert von einem zähen, süßen Duft. Hinter den Flammen, die unzählig wie die Sterne am Nachthimmel wirkten, verlor sich das Schlafzimmer in unklaren Schatten. Und über allem ein durchdringender Takt, stetig, bestimmend. Severin hörte den Pulsschlag, seinen Pulsschlag. Er lag über allem, erstickte Worte und Laute, das Rauschen der Seide, die klatschenden Berührungen der Leiber, die im unwirklichen Flammenschein wie gegossene Bronze schimmerten. Er spürte, wie das Pulsieren ihn durchdrang, jeden Winkel in ihm ausfüllte, ihn erzittern ließ. Vorwärts trieb. Sein Blick sog sie in sich auf, heftete sich erst auf ihre Brüste, folgte den deutlichen Rundungen, bis sie sein Blickfeld ausfüllten, monströse Ausmaße erreichten. Seine Hände nahmen die Schweiß bedeckte Haut in Besitz, umfassten das weiche Fleisch. Begannen, die Spitzen zu kosen, anfangs zögernd, bald grob und unbeherrscht. Unter dem Jagen seines Pulses hörte er ihr Echo, ein hastiges Keuchen, voller Lust und sachtem Schmerz. Seine Augen ließen schließlich davon ab, wanderten weiter hinunter, strichen über die makellose Wölbung ihres Bauches. Beschrieben einen Bogen, um sich ihrem Geschlecht von unten herauf zu nähern. Die empfindsame Haut ihrer Schenkel entlang. Glatte, zyklopische Säulen, deren Endlosigkeit in feuchter, geschwollener Erwartung endete. Geöffnete Blütenblätter, deren benetzte Geheimnisse riefen. Jacobs Hände glitten über die seidene Haut, um sich im nächsten Moment in die empfindliche Oberfläche zu graben, ihre Beine auseinander zu treiben. Das unruhige, zuckende Geschlecht weiter zu offenbaren. Der Takt in seinem Kopf steigerte sich zu einem tosenden Hämmern. Er spürte, wie er seine Gedanken zerschlug und die bloße, lodernde Lust darunter befreite. Schweiß strömte über seinen Körper, brannte die Fragmente des bloßen Frauenleibes in seine Augen. Weit entfernt waren Laute – animalisch, urtümlich, die sich im rasenden Rhythmus verloren. Die Erregung steigerte sich, fand ihr Zentrum in seinem schmerzenden, steifen Schwanz, dessen Ausmaße zwischen seinen Beinen ebenso monströs schienen, wie ihre Brüste und Schenkel. Jacobs Finger fassten die samtweiche Haut fester, eine Ankündigung der hemmungslosen Begierde. Alles in ihm drängte vorwärts, einverleibt in die ertränkende Mischung aus betäubendem Duft, träger Hitze, Schweiß und Pulsschlag. Er gierte nach Erlösung, danach, das Pochen zu überdauern, es endlich zur Kapitulation zu zwingen, den drängenden Schmerz in wilden Stößen herausströmen zu lassen. Bald waren da nur noch unzusammenhängende Bilder, denen er sich ergab, die im Takt des Hämmerns in seinen Gedanken aufblitzten. Jeder Eindruck ein stechender, kaum zu ertragender Hieb. Ihre Brüste, glatt und glänzend und groß, schließlich zusammengepresst, grob umgeformt durch seine unwirschen Finger. Jede Berührung hinterließ blassrote, leuchtende Abdrücke. Dazwischen die Hitze, ein zähes, stickiges Meer aus Ausdünstung, Kerzen und klebriger Süße. Ströme von Tränen und Schweiß auf seinem fiebrigen Leib. Dann, endlich, der Anfang der Erlösung. Sein zuckendes, bersten wollendes Glied an ihren geschwollenen Lippen. Ihre läufige, feuchte, umschlingende Wärme, nachgiebig, pulsierend. Jedes Drängen schmerzlich erlösend, ein sich steigerndes Stoßen, Fleisch gegen Fleisch. Sein unkontrollierter Körper, entseelt. Alle Mühe konzentriert auf jenen letzten Moment, jenes sprudelnde, erlösende Ausatmen. Seine Essenz kanalisiert in weiße Ströme, die aus seinem tiefsten Inneren hervorbrachen. Begleitet von Keuchen und Stöhnen und einem erschütternden Schrei. Unter ihm ihr Leib, puppenhaft, willenlos, hingegeben. Bebend unter jedem Stoß, verletzlich unter der heftigen Wucht, die geröteten Brüste ein einziges Wogen, die Rehaugen aufgerissen, strahlend bis auf den Grund des Universums. Ihre Lippen, rot wie der Geschmack in seinem Mund, als er sich endgültig in sie trieb, all seine Kraft in sie stieß. Geöffnet zu einem tonlosen Schrei, feucht und dunkel, voller Mysterien. Während die Flut aus ihm herausbrach, den Schmerz in klebriger Gischt fort katapultierte. Ihre Lippen, nah und glänzend und so rot.

ROT

ROT

ROT

„Kommen Sie, Severin. Es ist vorbei, endgültig.“ Kramers Stimme trieb das willkürliche Muster der Linoleumplatten auseinander. Die Formen in der Maserung entglitten ihm, zogen sich zurück, wie ein unwiederbringlich verlorenes Geheimnis. Jacob schloss für einen Moment die Augen, um die krampfhafte Trockenheit daraus zu vertreiben. Eine kräftige Hand zerrte an seiner Schulter, schüttelte ihn unsanft. „Los, Mann! Ihre Zelle wartet schon.“ Die Finger gruben sich in sein Jackett, rissen ihn in die Höhe. Er warf einen erneuten Blick auf das unruhige Muster, aber die Linien blieben am Rande seiner Wahrnehmung, unscharf, ungreifbar. Die durchschwitzte Kleidung klebte an seinem Körper, rieb bei jeder Bewegung schmerzhaft über seine Haut. Er kam auf die Beine, unsicher, das karge Zimmer schwankte. Ohne den Kopf zu heben, wandte er sich um. Kramers große, zerkratzte Schuhe tauchten neben ihm auf, jeder seiner Schritte begleitet vom leisen Protest des Expanders. „Na, los!“ Ein harter Stoß ließ ihn vorwärts taumeln. Ein mühsames Fortkommen, als lägen Eisengewichte um seine Knöchel. Der Stahl um seine Handgelenke schimmerte im kalten Licht des Tages, das durch die geöffnete Tür hereinfiel.

Feldberg ging vorneweg, seine teuren Halbschuhe blank poliert. Er wandte sich nicht um, sprach mehr zu sich selbst, aber laut genug, dass Jacob es hören konnte: „Hypnose, Magier – was für ein Schwachsinn.“

Sie traten aus dem stickigen Büro in einen langen Flur. Grauer Steinboden, weiße Wände, unzählige geschlossene Türen, Holzbänke daneben. Hinter den hohen Fenstern ein weiterer Parkplatz, spärlich mit bunten Fahrzeugen bestückt, in seiner Mitte ein Springbrunnen, dessen Wasser speiende Figuren Jacob nicht näher erkennen konnte. Der Geruch nach Reinigungsmitteln und Zigarettenqualm hing unbeweglich in der Luft.

Die Tür schloss sich hinter ihnen, ein lauter, endgültiger Knall in der widerhallenden Stille des Flures. Die beiden Beamten hielten an, Feldberg kramte eine Packung Zigaretten aus seiner Tasche, zog eine daraus hervor und zündete sie sich mit einem Streichholz an. Zwischen zwei Zügen blies er den Rauch in Severins Richtung. „Ging wohl nicht auf, Ihre kleine Ausrede.“ Er schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ich war es nicht!“

Kramer hantierte mit seinem Expander herum. „Halten Sie das Maul, Severin. Hab mir ganz schön die Sohlen durchgelaufen für Ihre beschissene Geschichte.“ Er ballte erbost die Faust. „Aber ich wusste von Anfang an, dass das nur heiße Luft war.“

„Sie müssen mir glauben …“, setzte Jacob schwach an, aber die Blicke der beiden Beamten ließen ihn sofort wieder verstummen. Das Gefühl der Scham brannte in seinen Wangen.

„Für ein Plädieren auf Geistige Unzurechnungsfähigkeit hätten Sie sich schon mehr ausdenken müssen.“ Feldberg deutete über die Schulter auf die geschlossene Tür. „Der Staatsanwalt wird sich vermutlich wegschmeißen vor Lachen. Aber er wollte es uns ja nicht glauben.“ Er schnippte achtlos die Asche fort.

„Aber jetzt haben Sie bald mächtig Ruhe, Freundchen. Die buchten Sie erst einmal ordentlich ein.“ Kramer kratzte sich mit der freien Hand hinter dem Ohr und sah beiläufig aus dem Fenster. „Könnte für lange Zeit der letzte erfreuliche Anblick sein.“

„Na, wenigstens haben Sie vorher noch mal gevögelt, auch wenn sie jetzt tot ist.“

Ihre Worte schnitten in Severins Benommenheit, hallten in der Leere seiner Gedanken wieder. Jeder einzelne Klang voller Endgültigkeit. Gleich einem Käfig, dessen Zellentür sich unausweichlich schloss, während Jacobs Einwände dazwischen zu Tode gequetscht wurden.

„Ich kann Typen, die ein Mädchen nach einem Fick abmurksen, ohnehin nicht leiden.“ Kramer grinste schief und zeigte dabei gelbliche Zähne.

Jacob schüttelte den Kopf, versuchte ihre Stimmen aus seinem Kopf zu bekommen. Aber ihre Endgültigkeit schlug einen zu heftigen Takt. „Nein …“, flüsterte er.

„Doch. Wird Ihnen da gefallen. Wenn Sie auf Kerle stehen.“ Er zwinkerte Kramer zu.

„Nein!“ Sein Schrei verlor sich im aufsteigenden Rauschen. Ein donnerndes Tosen, das durch seinen Körper jagte, in ihm aufstieg, eine wohltuende Hitze im Schlepptau. Es war das Rauschen seines Pulses, das wie ein eruptiver Vulkan zu kochen begann. „Nein!“ Und hervorbrach. Ein Geschmack von Blut auf der Zunge. Die spöttischen Beamtengesichter sprangen ihn an, ihre hämischen Grimassen überdimensional verformt, in die Länge gezogen, bis sie nur mehr lachende Zahnreihen waren. Während ihr gackerndes Gelächter auf ihn eindrang.

Er ballte die Hände zu Fäusten, spürte, wie der Stahl in seine Handgelenke schnitt. Holte von unten herauf aus und ließ sie mit Wut und Wucht gegen Kramer rasen. Der Aufprall schoss in glühenden Bahnen seine Arme hinauf, explodierte in grellen Lichtblitzen in seinem Schädel. Der Hieb landete auf der Brust, trieb dem Polizisten die Luft aus den Lungen. Der Schmerzensschrei ein gepeinigtes Röcheln. Sein Kopf lief rot an, die Augen traten aus den Höhlen, ehe er nach hinten taumelte. Severin wurde vom Schwung seines Angriffs nach vorne gerissen, korrigierte die Richtung nur ein wenig, um Feldberg seine Schulter in den Magen zu rammen. Der Beamte sah ihn fassungslos an, seine Reaktion zäh und träge. Die frische Zigarette verließ wie in Zeitlupe seinen Mundwinkel, seine Hand sank langsam in Richtung Gürtel. Jacob stieß sich ab, legte sein ganzes Gewicht hinein und prallte mit dem Mann zusammen. Ein Ellenbogen streifte seinen Hinterkopf, während sich seine Schulter in Feldbergs Bauch grub. Dann waren sie nur noch ein Knäuel am Boden. So gut es ging schlug Severin mit seinen gefesselten Armen um sich, bemüht, mit der Stirn nicht auf dem Steinfußboden aufzuschlagen. Feldbergs Finger krallten sich in seine Haare, rissen schmerzhaft daran, ließen erst wieder ab, als Severins Hiebe sich hocharbeiteten. Jacob rollte auf die Knie, spürte ein Brennen auf der Wange, wo die Nägel seines Gegners blutige Spuren hinterlassen hatten. Er holte aus und ließ die geballten Hände auf Feldbergs Schädel niedergehen. Der Beamte hob schützend die Arme vor sein Gesicht, aber der Schlag aus Knochen und Stahl durchdrang die Verteidigung. Severin spürte den heftigen Aufprall, war aber schon wieder dabei, auf die Beine zu kommen. Hinter ihm stöhnte Kramer. Hastig fuhr er herum, die Welt um ihn in einem wabernden Schleier aus Verzweiflung, Wut und rotem Nebel. Der Bulle hatte sich halb aufgerichtet, auf seinem grünlich angelaufenen Gesicht glänzte der Schweiß. Seine Hand versuchte fahrig unter das Jackett zu gelangen, zerrte an dem grauen Nadelstreifenstoff. Der Expander lag neben ihm. Severin stolperte vorwärts, riss das Bein hoch und trat dem Mann mit aller Kraft in den Bauch. Er spürte den nachgiebigen Widerstand, der sich verhärtete, als Kramer seinen Körper zusammenzog. Die Augen des Getroffenen groß und blutunterlaufen, sein Mund zu einem Schrei aufgerissen. Dann sackte er kraftlos zurück, keuchend und wimmernd. Jacob versetzte ihm einen ungezielten Tritt in den Unterleib, dann sah er sich gehetzt um. Feldberg stöhnte und versuchte, sich zur Seite zu drehen. Sein Gesicht war zerschunden, ein Auge begann zuzuschwellen, aus einer Platzwunde an seiner Stirn rann eine dünne rote Linie. Mit zwei Schritten war Severin bei ihm, packt die Krawatte und zerrte den geschwächten Körper hoch. Feldberg starrte ihn aus seinem heilen Auge an. Seine Unterlippe war aufgeplatzt, wo ihn die Handschellen getroffen hatten. „Machen Sie keinen Unsinn …“ Seine Stimme war rau und brüchig. „Sie haben doch keine Chance.“

Jacob schüttelte ihn wütend. „Ich habe es nicht getan!“ Mit einer Hand tastete er die Taschen des Beamten ab, fand den kleinen Schlüssel und zog ihn hervor.

„Keine … Chance …“, hustete Feldberg.

Severins Blick fiel auf das Holster an dessen Gürtel. Hellbraunes Leder, in dem dunkel schimmerndes Metall steckte. „Das werden wir ja sehen!“ Die Waffe ließ ihn nicht los, der Glanz zog seine Finger an.

„Seien Sie nicht noch dümmer …“, ächzte Feldberg, der Severins Bewegung mit seinem gesunden Auge folgte. Er versuchte einen Arm zu bewegen, aber es gelang ihm nicht.

„Seien Sie still!“, zischte Jacob und beobachtete fasziniert, wie seine Finger den Gürtel entlang schlichen. Das Metall fühlte sich kühl und glatt unter seiner Berührung an.

„Hey, Sie, was machen Sie da?“ Der Ruf eines Mannes. Während Severin noch zu ihm herüber sah, griff seine Hand bereits nach der Waffe. „Nicht …“, stöhnte Feldberg. Jacob ließ die Krawatte abrupt los, hörte, wie der Schädel leise auf dem Steinboden aufschlug. Durch eine Glastür am Ende des Flures trat ein uniformierter Wächter. Seine Arme waren angewinkelt, einer lag auf dem Halfter an seiner Hüfte.

Severin sprang auf die Beine, den Schlüssel in der einen, die Automatik in der anderen Hand, und stürmte los. Der Wachmann hinter ihm schrie, Schritte näherten sich. Jacob rannte weiter, vorbei an geschlossenen Türen und verwaisten Bänken. Hinter den Fenstern ging es ein Stockwerk in die Tiefe, nichts als nackter Beton dort unten. Keuchend erreichte er eine Glastür, stieß sie auf und stolperte in ein Treppenhaus. Hastig sah er sich um, sein Blick folgte der Treppe nach unten. Als er sich schon darauf zu bewegen wollte, tauchte an ihrem Fuß ein weiterer Wachmann auf, die Dienstwaffe bereits gezogen. Er bemerkte Jacob, setzte an, die Stufen hinauf zu laufen. „Bleiben Sie stehen!“

Severin taumelte zurück, blickte über die Schulter in den Gang hinter sich. Der erste Wächter kniete über Kramer, hob jetzt den Kopf und sah zu ihm hin. Seine Hand zuckte nach oben, Metall blitzte darin auf. Gleichzeitig hastige Schritte auf den Stufen. Jacob sprang auf die Treppe nach oben zu, hetzte sie hinauf, immer zwei Stufen auf einmal. Seine gefesselten Arme pendelten wild hin und her, Waffe und Schlüssel in den schweißnassen Fingern. Eine weitere Etage, ein langer Flur hinter der Glaswand. Unschlüssig machte er eine Bewegung auf die Tür zu, dann fuhr er herum und rannte zur nächsten Treppe. Stimmen drangen von unten zu ihm herauf, leises Geschrei, Schritte.

Jeder Atemzug stach in den Lungen, Tränen verzerrten sein Blickfeld. Eine Stufe, eine andere. Hinauf. Weiter. Endlich der letzte Absatz. Sein Fuß rutschte ab, er geriet ins Stolpern. Der graue Flur kippte, tat einen aberwitzigen Satz, dann schlug er hart auf dem polierten Boden auf. Ein heftiger Schmerz jagte durch seine Arme, das gnadenlose Metall schnitt in seine Handgelenke. Ein taubes Kribbeln kroch in seine Finger und Schultern. Lichtpunkte tanzten vor seinen Augen.

Und von unten der Lärm schwerer Schuhe auf dem glatten Stein, langsamer nun, vorsichtig.

Severin rollte sich mühsam herum, schob die Knie unter seinen Körper und richtete sich auf. Trotz des dumpfen Pochens hielt er die Automatik noch immer in der Hand. Er kam auf die Beine. Übelkeit stieg in ihm auf, füllte seinen Mund mit Galle und Blut. Er stand, tat einen taumelnden Schritt. Der Schlüssel drohte seinen Fingern zu entgleiten, aber er schloss sie krampfhaft darum. Er erreichte die Tür, getöntes Glas, ein weiterer langer Flur dahinter, leer. Jacob lehnte sich daran an, drängte mit der Schulter dagegen. Vergeblich. Seine Hand fuhr zum Griff, aber da war keiner, nicht auf dieser Seite. Ein erstickter Laut drang über seine Lippen. Er warf sich gegen die Tür, aber es brachte nichts. An die gläserne Barriere gelehnt, schob er sich schließlich vorwärts. Die Beine gehorchten ihm nicht mehr richtig, drohten jeden Moment unter ihm wegzuknicken. Die nächste Treppe verschwamm vor seinen Augen. Die Stufen zogen sich in die Länge, in Bewegung wie Klaviertasten unter den Fingern eines Pianisten. Jacob stieß gegen die Wand, vor ihm nun die großen Fenster. Der Parkplatz drei Stockwerke unter ihm. Er schluckte schwer, die Zunge ein geschwollener Klumpen in seinem Rachen. Seine Beine gaben nach und er rutschte langsam am kalten Glas hinab. Fand mühsam Halt und bemerkte wieder die Stahlarmbänder um seine Handgelenke. Der Schlüssel! Mit den ungeschickten Fingern seiner Linken versuchte er, einen der Ringe zu öffnen. Aber das Schlüsselloch tanzte unruhig auf und ab, wich dem winzigen Metallding in seiner Hand aus. Wieder stieß er zu, ohne Erfolg. Überall war Schweiß, sogar ein wenig Blut auf dem Stahl. Und in seinem Schädel dröhnte eine ganze Fabrikhalle, ein betäubender Lärm, unter dessen Schlägen jeder klare Gedanke ausgelöscht wurde. Severin kicherte wie von Sinnen, als der Schlüssel stecken blieb, sich mit einem leisen Klicken drehte. Wie in Zeitlupe glitt der Ring von seinem Handgelenk, baumelte lose hin und her. In seiner Haut waren tiefe, blaurote Kerben. Eine Winzigkeit Freiheit, die etwas Kraft in seinen Leib zurückbrachte. Er hob den Arm, sah die Pistole in seiner Hand. Während er ihr Gewicht irgendwie als beruhigend empfand, irritierte ihn das kalte Schimmern. Eine Ahnung des Todes, der Endgültigkeit.

„Machen Sie keinen Unsinn!“ Eine laute, nervöse Stimme, die ihn vom Boden und Glas anzuspringen schien. Aber Jacob brauchte einen Moment, ihren Sinn zu verstehen. Im ersten Klang war sie nur eine Störung, etwas, das hier und jetzt nicht sein sollte. Es bereitete ihm Mühe, den Blick von seiner Hand zu lösen, ihn darüber hinaus wandern zu lassen. Über die grauen Fliesen, in denen sich das trübe Tageslicht fing. Die blank geputzten Schuhe hinauf, eine dunkelblaue, sorgsam gebügelte Hose entlang. An einem breiten Gürtel mit einer glitzernden Schnalle verharrte er. Ein leise knisterndes Funkgerät und ein leeres Holster daran. Auf beinahe derselben Höhe ein angewinkelter Arm, kräftige Finger, um den Griff einer Pistole gelegt. Ihr Lauf ein einziges gähnendes Loch, pechschwarz und unergründlich, eine Rückbesinnung an die Zeit der ersten Dunkelheit. Und der letzten. „Fallen lassen!“ Severin sah ein junges, rot angelaufenes Gesicht. Eine runde Nase, geweitete Augen, deren Pupillen der Mündung der Pistole glichen. Ein dünner Schnurrbart über einem schmalen Mund. Unter der Uniformmütze spärliches Haar. Er stand an der Treppe, eine Hand klammerte sich am Geländer fest. „Los, Mann!“ Angst in seiner Stimme, ein kurzer, gehetzter Blick nach unten.

Die Hoffnung brach unter seinen Worten. Severin spürte, wie ihm etwas entglitt. Ein kaum fassbares Gefühl, das Wissen, dass etwas Immenses verloren ging. Für einen Moment war der tosende Lärm in seinem Schädel klar, fokussierte sich in einem einzigen Laut, dessen Klang einen qualvollen Stich in sein Herz trieb. Eine zuschlagende Tür, heftig und endgültig. „Nein!“ Er war nicht sicher aus welcher Kehle der Schrei aufstieg. Seinen Mund spürte er nicht, der des Wachmannes verzerrte sich zu einer Grimasse des Entsetzens. Jacobs Arm bewegte sich wie von selbst, als hinge er an einem unsichtbaren Seil. Außerhalb seiner Kontrolle zog ihn jemand in die Höhe, brachte die Pistole empor. Für einen Moment sah er die Panik in den Augen des anderen, nackt und einschneidend, der Tod eine würgende Ahnung. Dann war da nur noch Lärm und Schmerz und Leere. Ein Schuss löste sich, durchschlug die Stille des Treppenhauses, kratzte über die Steinplatten und Glasscheiben, drang mit betäubender Intensität in Severin. In seinen Ohren begann es zu klingen, ein hoher, stechender Laut, in seinem Schlepptau weitere Qualen, eine sengende Hitze in der Schulter. Wieder ein Schuss. Zuckte die Waffe in seiner Hand? Oder war es der Schmerz, der ihn erzittern ließ? Jacob spürte nur das Brennen, das sich in seinen Körper fraß. Hinter ihm ging eine Kugel durch die Fensterscheibe, ließ das Glas in einem schrillen Ton zerplatzen. Wieder ein peitschender Knall, unmittelbar gefolgt von einem dumpfen Pochen in seiner Brust. Severin schnappte nach Luft, aber sie schien aus flüssigem Feuer und weigerte sich, in seine Lungen zu dringen. Vor seinen Augen tanzten Lichtpunkte. Schmerz raste durch seinen Leib, zerbarst in grellen Blitzen. Er taumelte, die Pistole entglitt seinen leblosen Fingern. Fiel langsam zu Boden, in eine Tiefe, die nicht da sein konnte. Er rang nach Atem, einen Schrei in der Kehle. Fort. Einen Schritt zur Seite. Die Welt eine einzige Sturmflut aus wankenden Bildern, voller Pein und Übelkeit, bereit ihn zu ertränken. Hinter dem Schmerz die Müdigkeit, Erschöpfung, der große Schlaf. Sich festhalten. Halt finden. Ihn nicht verlieren. Seine Hand griff nach der Wand, eine Stütze inmitten des vernichtenden Chaos. Leere. Neben ihm war nichts, kein helfender Widerstand. Severin verlor die Balance, stolperte. Blaugrauer Himmel kippte in die Sandsteinfassade. Glitzernde, gezackte Glasscherben dazwischen, die unter seinem Gewicht nachgaben. Selbst der unruhige Boden unter seinen Füßen war fort. Da war nichts mehr. Eine seltsame Kühle in seinem Körper. Ein Augenblick der Leichtigkeit, der Schwerelosigkeit. Die rotierende Welt. Himmel, Beton, funkelnde Glassplitter. Blut. Vielleicht ein Schrei. Und die Schwerelosigkeit verging, stürzte mit ihm zusammen in die Tiefe. Grauer Beton, ein starres, feindliches Meer, blecherne Inseln dazwischen. Alles raste nun darauf zu, die Bilder und Formen flossen zu einem Mahlstrom zusammen, in dessen Zentrum Severins Herz unerträglich laut pochte. Ein einziges Schlagen, als wollte es zerspringen. Der Fall zurück, weit zurück. An die Anfänge, in die wohlbehütete Dunkelheit. Er zog sich zusammen, rollte sich ein, barg sich in sich selbst, zum Schutz vor der rasenden Welt und dem Aufprall.

Das Branden eines sturmgepeitschten Meeres. Blutige Wellen, die heiß und salzig gegen sein Ich schlugen. Ein Tosen und Ächzen, als wollte sich der Urkontinent aus den roten Tiefen erheben. Blitze zuckten über diesen Karmesinozean, grelle Impressionen, eingebrannt in die Unruhe der ungeborenen Tage. Er lief. Seine Schritte wirbelten blutige Tropfen auf, die um ihn herum in der Luft stehen blieben. Eingefrorene, winzige Flecken, kaum erkennbare Formen und Linien. Immer weiter. Durch die Unordnung hindurch, mitten hinein. Die Brandung steigerte sich, begann zu rasen, war bald ein heftiges Staccato. Dröhnender Lärm füllte seinen Schädel. Die Lichtlinien tanzten, zogen um ihn herum. In seinem Inneren der Wellenklang, nur mehr ein statisches Rauschen. Schneller. Immer schneller. Erdbebenartig, apokalyptisch sein Pulsschlag, in den sich ein grelles Heulen mischte. Jacob jagte über die blutigen Lachen, die nun schimmernde Pfützen voller blinkender Reflektionen waren. Verkehrslärm wie die Trompeten des Jüngsten Gerichts. Hupen, Motoren, Bremsen. Passanten um ihn herum, ihre Augen und Leiber schoben sich aus den aufgewirbelten Tropfen zusammen. Und das Chaos der Stadt, graue Fassaden vor dem bleiernen Himmel. Regen auf erhitzter Haut. Die kalte Luft brannte wie Feuer durch die Hölle in seinen Lungen. Noch ein Schritt. Das Ächzen des eigenen Körpers inmitten der Straßenbrandung. Weiter. Nur vorwärts. Lichtblitze, grell, stechend, Rasierklingen in seinen Augen. Die Scheinwerfer eines Wagens. Der gellende Klageton einer Hupe. Kühles Blech unter seinen Fingern. Zitternd von der Kraft des Motors. Noch ein paar taumelnde Schritte. Ein Hindernis. Die Welt schob sich über den Abgrund, kippte und brach in sich zusammen. Schlug gemeinsam mit Severin heftig auf dem feuchten Asphalt auf.

Einige Momente blieb er reglos liegen, unfähig sich zu bewegen. Nur seine Lider zuckten unkontrolliert, ließen bruchstückhafte Bilder in die Schwärze dahinter. Gläserne Fassade der Hochhäuser, in der sich graue Wolken spiegelten. Eine träge, unförmige Masse, die den Mond und die Sterne überzog. Regentropfen und das rote Licht einer Ampel. Davor eine Gestalt, ein Mann. Dessen unscharfes Gesicht unter einem aufgeweichten Hut. Eine faltige Hand, die nach ihm griff.

Jacob biss die Zähne zusammen, spürte Blut im Mund. Seine tauben Finger tasteten über den nassen Boden. Etwas berührte ihn an der Schulter. Undeutliche Worte. Er kämpfte sich in die Höhe, jemand stützte ihn, bewahrte ihn davor, zurück in die kochende Dunkelheit zu driften. Er sog gierig die Luft in seine gepeinigten Lungen. Nadelstichluft. Die Welt wurde deutlicher, schälte sich aus der Verschwommenheit, ihre Ränder nun klarer. Eine Straße, über die sich Fahrzeuge schoben. Die Fahrer hinter den Scheiben nur vage Eindrücke, Flecken in den sicheren Schatten. Hochhäuser, deren Spitzen begierig waren, die Wolkenschicht zu durchstoßen. Die Ampeln und Neonlichterblinkten in ihrem eigenen Herzschlag. Menschen auf dem Bürgersteig, hinter den Schaufenstern, als träger Strom in den U-Bahnschlund.

Jacob richtete sich auf. Der Schmerz war allgegenwärtig, hallte in seinem Rücken, rief in seinen Beinen, schrie in seiner Brust. Aber … er lebte. Seine Hand stützte sich auf die Schulter des Alten. Graue Haare und müde, gütige Augen unter einem blauen Hut. Ein graubrauner Mantel um den ausgemergelten Körper. Er spürte den billigen Stoff unter seiner kribbelnden Haut. Das verbrauchte Gesicht war ganz nah, der Mund mit der zerkauten Unterlippe formte Worte, die Severin nicht verstand. Seine Aufmerksamkeit galt einem schrillen Ton, der über dam Toben in seinem Kopf zu hören war. Ein einschneidender Klang, der beharrlich heranwuchs, näher und näher kam. Seine Finger krallten sich in die Schulter des alten Mannes. „Was ist das?“ Näher. Verbunden mit tiefer Furcht, die in ihm empor kroch. „Was?“ Er schüttelte den Greis so heftig, dass ihm der Hut auf dem knochigen Schädel verrutschte.

„Bleiben Sie ruhig, gleich kommt Hilfe.“

„Was ist das?“ Der Lärm wurde lauter, schien nun alles um ihn herum auszufüllen, all die Geräusche um ihn herum auszulöschen. „Was?“

Der Mann legte unsicher den Kopf schief, sah sich um. „Was meinen Sie?“

„Der Lärm! Gott, dieser Lärm!“ Jacob presste sich die freie Hand auf das Ohr.

„Aber … beruhigen Sie sich doch, es sind nur die Sirenen.“

„Sirenen?“ Severin spürte, wie die Kraft aus seinem Körper zu entfliehen drohte.

„Ja doch. Die sind gleich da, um Ihnen zu helfen.“

Jacob grub seine Finger in das verbrauchte Fleisch. „Nein!“

In den Augen des Alten löste Angst die Güte auf: „Bitte …“

Das Heulen schnitt wie ein Messer in Severins pochenden Kopf. „Nein!“ Ein beklemmendes Gefühl packte ihn, legte sich wie ein Ring um seinen Hals.

Passanten blieben stehen, misstrauische, feindselige Mienen. Die Sirenen waren nun ganz nah, die Glasfassaden fingen ihr zuckendes Licht ein, warfen es in die Pfützen.

Jacob sah sich hektisch um, Panik flutete in seinen zerschundenen Körper. „Nein!“ Seine Stimme ein raues Keuchen. Jemand trat von hinten an ihn heran, er sah den Schatten aus den Augenwinkeln, spürte die unmittelbare Nähe. Hastigem zerrte er den Alten herum, stieß ihn hinter sich. Der Mann schrie, prallte er gegen die andere Gestalt. Jacob sah beide zu Boden gehen, dann begann er zu laufen. Die ersten Schritte noch zäh und langsam, als käme er kaum von der Stelle, die Beine leblos und weich. Seine Arme schoben die Passanten zur Seite, bahnten sich grob einen Weg durch die reglosen Leiber und starren, unbeteiligten Gesichter. „Lasst mich … durch!“ Er stieß eine junge Frau von sich, die ihm entgegentrat, ließ ihren Körper in einem Rauschen aus blondem Haar und blauem Kleid auf den Bürgersteig stürzen. Weiter. Jemand fasste nach ihm, aber Severin stieß einen Ellenbogen in den Angreifer. Seine Schultern verbreiterten die Gasse, drängten die Menschen zurück. Dann war er durch. Weniger Passanten, zufällig verteilt auf dem glitzernden Asphalt. Er schlug nun Haken, hastete schwer atmend an ihnen vorbei. Da war ein Murmeln und Rufen, ganz am Rande des Sirenengeheuls. Entsetzte, verängstige Blicke. Bleiche Frauengesichter mit geweiteten Augen. Unsicherheit, Ärger, Desinteresse. Er erreichte eine Seitenstraße, hielt inne, um sich hektisch umzusehen. Da, an ihrem Anfang, keine fünfzig Meter von ihm entfernt, bogen zwei Männer um die Ecke. Keine Uniformen, aber eine eindeutige Bestimmtheit in ihrem Gang. Sie sahen ihn, erkannten ihn. Einer wedelte mit dem Arm, deutete auf Jacob, dann fingen sie an zu laufen. Er schaute sich um, warf einen eiligen Blick zurück. Eine Menschentraube an der Stelle, an der der Alte lag. Und auch sie teilte sich, ließ einen weiteren Mann hindurch, dessen Hand an seinem Jackett zerrte, versuchte, darunter zu fassen.

Severin erwachte aus seiner Erstarrung, bewegte sich nun wieder. Über die Straße, im Schein der roten Ampeln. Das Hupen eines Wagens. Mit einem Satz wich er dem bremsenden Fahrzeug aus. Die Geschäftsfassaden entlang, zwischen den Spaziergängern hindurch. Hinter sich Schreie, vor sich das schrille Heulen einer Sirene. Die unruhigen Lichter eines Streifenwagens, der mit quietschenden Reifen zum Halten kam. Jacob wartete nicht, bis die Männer ausgestiegen waren. Er rannte.

Dunkelheit. Allgegenwärtige Schwärze, betäubend in ihrer Intensität. Ein Dahindriften, endlos, ewig, wie in den eisigen Schatten zwischen den Sternen. Hinaus in lichtlose Abgründe. Frei, friedlich. Aber dann: ein Ziehen, ein Klammern. Etwas riss aus dieser letzten, wohltuenden Reise, an deren Ende das Vergessen wartete. Zerrte davon fort, verwandelte die befreiende Endlosigkeit in einen quälenden, erstickenden Druck, raubte den Atem, presste ihn mit brutaler Kraft heraus. Jacob rang nach Luft, riss den Mund auf, noch ehe sich seine klebrigen Lider öffneten. Sog sterile Trockenheit in seine lichterloh brennenden Lungen, kämpfte in Panik gegen die Last auf seinem Brustkorb. Gleißende Lanzen schossen in seine Augen, explodierten in seinem Schädel. Stechende Helligkeit vertrieb den letzten Rest der Dunkelheit. Er krümmte sich, stieß einen erstickten Schrei aus, die Hand auf die Brust gepresst. Kalter Stoff unter seinen Fingern. Dann plötzlich war der Schmerz fort und er sank wieder zurück, schloss die Augen und kostete begierig den befreienden Atem.

Severin

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