Читать книгу Samuel, der Tod 2 - Nadja Christin - Страница 5
Kapitel Drei
ОглавлениеHazel fährt sich aufgebracht durch die Haare. »Sagt mal, was habt ihr euch eigentlich dabei gedacht?«, ruft sie und blinkt, um nach rechts auf die A3 abzubiegen, die sie geradewegs nach London führen wird.
Samuel, der neben ihr sitzt, zuckt gleichgültig mit den Schultern. Ebenso Parker, der sich die Schwerter quer über die Oberschenkel legte.
»Weiß nicht«, murmelt er nur, wirft jedoch vom Rücksitz aus, Samuel einen bitterbösen Blick zu. Hazel hat es im Rückspiegel gesehen.
»Parker!«, sagt sie scharf. »Was ist los?«
Ihr Zwillingsbruder fühlt sich ertappt, antwortet mürrisch. »Nichts, Haz. Konzentrier dich lieber auf die Straße.«
Die junge Frau schnauft entrüstet.
»Hat der Alte dich geschickt?«
Hazel wirft Sam einen fragenden Blick zu. Sie versteht nicht gleich und so fragt Sam ein weiteres Mal. »Nate. Hat er dir gesagt, wo du uns finden kannst?«
Das Mädchen mit den haselnussbraunen Haaren nickt. Ein sanftes Lächeln huscht über ihr Gesicht, wie immer, wenn sie an den blonden Antiquitätenhändler denkt, mit dem sie mittlerweile mehr, als nur reine Freundschaft verbindet.
»Ja, Nathan hat mir gesagt, wo ihr ungefähr seid. Dennoch irre ich bereits geraume Zeit umher. Er wird sich inzwischen Sorgen machen.«
Hazel tritt das Gaspedal weiter durch, der Mercedes T 500 vollführt einen kleinen Satz nach vorne, bevor er wieder so ruhig wie immer dahin rollt.
»Was gibt es denn so Wichtiges, das er dich nach uns schickt?«, fragt Parker neugierig.
Hazel umklammert das Lederlenkrad so fest, dass ihre Knöchel hell hervortreten.
»Das soll er euch lieber selbst sagen.«
Sie presst die Lippen zusammen und gibt noch mehr Gas.
Samuel wendet sich ab und blickt aus der Seitenscheibe auf die vorbeihuschende, dunkle Landschaft. Er weiß, dass sie aus Hazel nichts herausbekommen werden, die junge Frau kann verdammt stur sein, genau wie ihr Bruder Parker. Dass sie Zwillinge sind, sieht man ihnen von außen nicht gleich an, jedoch merkt man es an ihrem Verhalten, welches sich in manchen Dingen erschreckend gleicht.
Hazel und Nathan, denkt Samuel. Er hätte niemals vermutet, dass der alte Sack überhaupt zu einer funktionierenden Partnerschaft in der Lage ist, und das ausgerechnet mit einer Werwölfin. Nie und nimmer hätte Sam gedacht, dass das gut geht, spätestens beim nächsten Vollmond erwartete er, dass Hazel ihren geliebten Nate in Fetzen reißt. Die zwei Liebenden jedoch, haben einen Weg gefunden und bis heute ist auch noch kein nennenswerter Unfall geschehen.
Wehmütig denkt Samuel an eine andere Werwölfin, an die, der er seinen Zustand verdankt. Alice, die ihn unbeabsichtigt in dieses blutrünstige Tier verwandelte, und die bis jetzt immer noch nichts davon weiß. Was mag sie nur über ihn denken, weil er sich bei ihr nicht mehr meldete? Wahrscheinlich hat sie mich bereits vergessen, versucht sich Sam selbst einzureden, und tollt mit anderen in den Wäldern Frankreichs umher. Irgendetwas, tief in ihm drin, murmelt mit einer ärgerlichen Stimme: Das glaubst du doch selbst nicht, du Idiot. DU könntest derjenige sein, mit dem die kleine Alice über Wiesen und Felder tollt. Des Nachts könntet ihr über die Menschheit herfallen, ihr wärt zusammen, jede Stunde, Minute, jede Sekunde eines Tages. Du müsstest sie nie wieder loslassen. Du könntest sie küssen, sie streicheln. Ihre herrlich vollen Lippen …
»Ruhe verdammt!«, brüllt Samuel in die Stille des Wagens hinein. Parker und Hazel zucken erschrocken zusammen.
»Was ist mit dir?«, fragt Hazel und Parker meint irritiert: »Ich habe doch gar nichts gesagt.«
Samuel fährt sich mit den Händen durch die kurzen Haare und anschließend übers Gesicht. Er spürt, dass es schweißnass ist.
»Entschuldigt, bitte«, flüstert er.
Es war ihm nicht bewusst, dass er laut gebrüllt hat, er wollte doch nur diese furchtbare Stimme in sich zum Schweigen bringen. Die ihm die Wahrheit so erbarmungslos vor die Füße spuckte und sich grausam nach ihm selbst anhörte.
Die Stimme, die jetzt leise vor sich hin kichert und ihn zu verhöhnen scheint.
*
Drake öffnet, als es dezent an der Zimmertür klopft. Ein Hotelpage bringt einen fahrbaren Wagen hinein, auf dem sich eine erlesene Auswahl an verschiedenen alkoholischen Getränken befindet. Drake möchte den anderen Hotelbewohnern seine ungehobelten Gäste ersparen, somit hat er sich etwas zu Trinken auf das Zimmer liefern lassen. Er steckt dem Kellner einen Geldschein zu. Erstaunt sieht Bennet, dass es sich um zwanzig Schweizerfranken handelt.
»Ihr seid aber großzügig«, meint er zu Drake, als der Kellner die Tür hinter sich schließt.
»Das wird den Mund des Pagen verschließen«, antwortet Drake und nimmt sich eine Flasche Cognac, die er extra angefordert hat.
»Es ist nicht alltäglich, sich so viel Alkohol aufs Zimmer liefern zu lassen, ich will aber nicht sonderlich auffallen.«
»Aha«, Bennet nimmt sich eine Flasche Bier, öffnet den Kronkorken mit den Zähnen, setzt an und trinkt den Inhalt mit einem riesigen Schluck bis über die Hälfte leer. Danach rülpst er so laut und lange, dass ihm Dave und Garry anerkennend auf die Schultern klopfen.
Bennet grinst in sich hinein.
Auch meine vorherrschende Aufgabe besteht darin, nicht aufzufallen, denkt er, schließlich bin ich der Löwe unter all den verdammten Hyänen.
Drake gießt den Cognac vorsichtig in einen riesigen Weinbrandschwenker, er stellt die Flasche auf den kleinen Tisch und setzt sich auf das Sofa. Während er sich das Glas unter die Nase hält und tief den herrlichen Duft einatmet, beobachtet er verstohlen die drei Hyänen, die sich gerade um eine Flasche Wodka streiten. Garry ist ja ganz okay, denkt Drake, und auch sein Handlanger, der stotternde Freak, aber dieser Bennet ist mir nicht geheuer. Er hat etwas an sich, das mir missfällt. Ich werde Garry nach ihm ausfragen, und bis dahin, werde ich die junge Hyäne nicht aus den Augen lassen.
Drake nimmt einen Schluck Cognac, der scharfe Alkohol löst einen kleinen Brand in seinem Rachen aus, erst als er in seinem Magen ankommt, breitet sich ein wundervolles und warmes Gefühl aus.
Drake fühlt sich wieder ganz bei sich, entspannt lehnt er sich zurück.
Dave, der einen flüchtigen Blick auf ihren Gastgeber wirft, erschrickt fast zu Tode. Er stupst seinen Kumpel Garry an. »Sch-sch-schau mal, G-G-Garr-rr-rry«, stottert er und zeigt verstohlen auf Drake.
Die Hyänen drehen sich um. Auf der hellen Ledercouch sitzt ein mit Schuppen bedecktes Tier. In den Händen, die in lange Krallen enden, hält es einen Cognacschwenker fest.
Selbst die Lider sind mit kleinen Schuppen bedeckt. Das Wesen hält die Augen geschlossen, auf dem Gesicht, das zu einer langen Schnauze geformt ist, liegt ein leichtes Lächeln.
Erst als die Hyänen anfangen, leise zu kichern, wacht Drake aus seiner Trägheit auf. Erstaunt sieht er seine Gäste an, einem nach dem anderen. Erst nach ein paar Sekunden bemerkt er, dass er wohl so tiefenentspannt war, dass er sich in ein Drachenmonster verwandelt hat. Seltsam, denkt er und betrachtet seine eigene, schuppenbedeckte Hand, so unabsichtlich verwandele ich mich eigentlich selten, das muss wohl an dem Alkohol liegen. Schon lange habe ich nicht mehr solch einen guten Tropfen genossen, überlegt er weiter und schnuppert an dem Cognac.
Nur zögerlich verwandelt er sich wieder zurück, Garry und seine Kumpels beschäftigen sich erneut mit dem viel zu reichhaltigen Alkoholangebot. Sie haben in ihrem Leben bereits so viele verschiedene Anderswesen gesehen, dass es auf einen Drachen mehr oder weniger auch nicht mehr ankommt.
*
Drei Stockwerke unter den mehr als merkwürdigen Wesen, legt Alice gerade aufatmend den Hörer des Hoteltelefons auf die Gabel.
Nach langem hin und her und einigen sprachlichen Verständigungsproblemen, hat sie endlich die Telefonnummer von ihrem Bekannten Eugenio Schwery herausbekommen. Sie streicht sich die langen, schwarzen Haare zurück, atmet einmal tief ein, nimmt den Hörer und hält ihn sich ans Ohr. Genau in diesem Moment lechzt sie nach einer Zigarette. Die Gier danach überfällt sie aus dem Nichts, dabei ist es über ein Jahr her, seit sie ihre letzte geraucht hat. Damals war sie auf dem Rückweg von England nach Paris, kurz bevor sie Samuel mitten in London absetzte. Seit dem hat sie die verdammten Glimmstängel nicht mehr angepackt, zu sehr erinnerte sie das Rauchen an Sam. Zu schmerzhaft wäre das gewesen, darum hat sie es einfach gelassen. Sie würde erst mit ihm, sollte sie ihn jemals wiedersehen, eine rauchen.
So schluckt sie die Begierde auf eine Zigarette herunter und meldet bei der Rezeption, die mit monotoner Stimme nach ihren Wünschen fragt, ein Ferngespräch an.
»Natürlich, Mademoiselle. Ich werde es ihnen auf die Rechnung setzten«, klärt sie die eintönige Stimme auf.
»Selbstverständlich«, antwortet Alice und kommt sich gleichzeitig wie ein kleines Mädchen vor.
»Als wenn ich das nicht wüsste«, murmelt sie.
Doch der Typ an der Rezeption hat ihre Leitung bereits nach draußen verlegt.
In Alices Ohr erklingt das gleichförmige Geräusch des Freizeichens. Mit fliegenden Fingern wählt Alice Schwerys Nummer, die sie auf einem Block, mit Monogramm des Hotels, notierte.
Es klingelt lange durch, Alice will gerade wieder auflegen, als am anderen Ende doch noch abgenommen wird.
»Buon giorno, questa è la Signora della Mea.«
»Oh … Eh …« Für einen Augenblick ist Alice völlig überrascht. Sie hat weder mit einer Frauenstimme, noch mit dem perfekten Italienisch gerechnet, mit dem sie angesprochen wird.
»B-Boun giorno«, stottert Alice und kramt in ihrem Gehirn verzweifelt nach ein paar Brocken der fremden Sprache.
»Eh … Monsieur Eugenio Schwery … eh … per favore«, bringt sie nach einigem Überlegen über die Lippen.
»Entschuldigung«, antwortet Signora della Mea und verfällt in fast akzentfreies Französisch. »Ich denke, in dieser Sprache fühlen Sie sich wohler.«
»Oh, ja.« Alice lacht erleichtert auf.
»Sie wollten Monsieur Schwery sprechen?«
»Ja, bitte. Wenn das möglich ist.«
»Es tut mir sehr leid, junge Dame«, sagt Signora della Mea und ihre Stimme fließt beinahe über, vor Bedauern. »Aber Eugenio ist seit einigen Wochen spurlos verschwunden.«
»Was?«, ruft Alice in die Sprechmuschel. »Seit wann denn? Ich habe vor einem Monat noch mit ihm telefoniert.«
»Ach Gott«, meint die Ältere und schnalzt bedauernd mit der Zunge. »Sind sie eine Freundin?«
»Bekannte«, murmelt Alice mürrisch und nagt nervös an der Unterlippe.
»Wir haben Eugenio am Neunten November das letzte Mal gesehen, danach nicht mehr. Seit dem ist er wie vom Erdboden verschluckt. Er hat seine gesamten Sachen hiergelassen, darum schaue ich ab und zu nach dem Rechten.«
»Wurde er denn gesucht?«
»Selbstverständlich«, die Signora scheint empört über die versteckte Unterstellung, man habe sich nicht um den Verbleib des Metzgers gekümmert. »Wir haben tagelang alles nach ihm abgesucht. Aber leider … Nichts.«
»In Ordnung. Vielen Dank auch.«
Alice will auflegen, sie muss dringend ihre Gedanken ordnen.
»Soll ich ihm etwas ausrichten, mein Fräulein? Falls er doch noch zurückkehrt?«
»Eh … nein. Nein danke«, sagt Alice und knallt den Hörer auf die Gabel.
Sie schlägt sich die Hände vors Gesicht und rechnet nach. Wenn Schwery am Neunten verschwunden ist, dann war das beim letzten Vollmond. Was mag ihm an dem Tag nur zugestoßen sein? Oder besser, in der Nacht.
Es kommt selten vor, das einer ihrer Art einfach so von der Erde verschwindet, wenigstens nicht, ohne ein Zeichen zu hinterlassen.
Das die Bewohner der komischen Gemeinde Airolo wirklich ernsthaft nach Eugenio gesucht haben, bezweifelt Alice.
Sie weiß, dass der Metzger allen ein Dorn im Auge war, hat Schwery es ihr doch bei ihrem letzten Telefonat selbst gesagt, auch, dass er vorhatte, diese komische Stadt zu verlassen. Er dachte sogar darüber nach, nach Frankreich, in ihre Nähe, zu ziehen. Dass er einfach so von der Bildfläche verschwindet, sieht dem alten Werwolf gar nicht ähnlich.
»Er hätte sich auf jeden Fall bei mir gemeldet«, murmelt Alice vor sich hin. »Keine Gefahr kann so dauerhaft sein, dass er nicht wenigstens die Zeit für ein Telefonat gefunden hätte.«
Die kleine Schwarzhaarige schlägt sich mit der Faust in die offene Hand. »Da stimmt etwas nicht«, sagt sie zu sich selbst.
Entschlossen nimmt sie erneut den Hörer in die Hand. »Und es gibt nur einen, der mir das erklären kann.«
»Ja bitte?«, der Kerl an der Rezeption klingt noch gelangweilter als vor ein paar Minuten.
»Verbinden Sie mich mit einer Nummer in England«, herrscht Alice den unbekannten Typ an.
»Sehr wohl.«
Alice nennt ihm Nathans Telefonnummer aus dem Gedächtnis. Zu oft hat Alice sie im letzten Jahr angestarrt und darüber nachgedacht sie zu wählen. Als das Freizeichen ertönt, sehnt sich Alice erneut eine Zigarette herbei.
*
Die Cursitor Street ist menschenleer, auch in dem Antiquitätenladen geht kein Kunde umher.
Es ist Sonntag und so früh, dass sich noch nicht mal die Sonne aus ihrem Bett erhoben hat. Nathan wird immer unruhiger, sehnlichst erwartet er die Rückkehr seiner Freundin und der zwei Wölfe. Ihm liegt so viel auf der Seele, das er gerne loswerden will, er möchte seinen Verdacht, seine Vermutungen mit jemandem teilen. Auf keinen Fall will er sein Wissen für sich behalten. Alle sollen es erfahren und dann müssen sie sich gemeinsam einen Plan überlegen.
Um die Zeit totzuschlagen, räumt Nate ein paar seiner Ausstellungstücke hin und her, hängt einige Bilder und Uhren um und dekoriert das Schaufenster neu. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass erst ein paar Minuten vergangen sind, seit er das letzte Mal die Zeit kontrollierte. Er schnauft entrüstet und will sich über seinen blonden Schnurrbart streichen, wie er es immer tut, wenn er nervös ist. Jedoch hat er ganz vergessen, dass er ihn sich, Hazel zuliebe, abrasierte. So spürt er unter seinen Fingern nicht die stoppeligen Haare, sondern eine glatte Haut.
Was macht man nicht alles, den Weibern zuliebe, denkt Nate und lässt die Hand sinken. Er verschwindet wieder hinter dem Verkaufstresen und gießt sich aus einer riesigen Kanne, einen Kaffee in eine alte, bereits angeschlagene Tasse. Nachdem er drei Stück Zucker in die schwarze Brühe gleiten ließ, trinkt er den Kaffee langsam und schlürfend.
Er bemerkt weder die Süße, noch dass die Bohnen alt und bitter waren. Nathan versucht einzig und allein die Zeit zu verkürzen. Er stützt sich mit den Ellenbogen auf die Theke, hält die Tasse mit beiden Händen fest und starrt ins Leere.
Es kommt etwas Schreckliches auf uns zu, denkt er, selbst ich habe Angst davor, und das will schon etwas heißen, denn so schnell wirft mich nichts aus der Bahn.
Selbst vor einem Jahr, als Samuels Dasein auf dem Spiel stand, war Nathan noch die Ruhe selbst. Sie entwickelten zusammen einen Plan an dessen Ende die Tötung ihrer Feinde, allen voran der böse Sensenmann Gerome, stand. Das Samuel seine Liebste ziehen ließ und Nate dagegen eine neue Liebe gewann, stimmte den alten Mann nicht besonders fröhlich. Verhielt sich Sam im letzten Jahr doch mehr und mehr wie ein Verrückter. Scheinbar krank vor Sorge um Alice, jedoch zu feige, um sich bei ihr blicken zu lassen. Noch nicht mal mit Charlie, seinem einst besten Freund, hat er gesprochen. Samuel mied jeglichen Kontakt, lediglich mit Nathan und Parker sprach er, wenn auch meistens ziemlich unverschämt. Eigentlich wurde es noch schlimmer, als Nathan herausbekam, dass Samuel zu einem waschechten Werwolf mutiert war.
Wieso der einstige Tod es geheim halten wollte, war Nate schleierhaft und Sam gab ihm auch keine befriedigende Antwort darauf.
Danach kapselte er sich noch mehr ab, als sonst. Ab und an zog er mit Parker um die Häuser, oder die zwei probten die alte Schwertkunst, nicht ohne mit den hässlichsten Blessuren nach Hause zu kommen. Samuel leckte sich die Wunden, verschloss sich noch mehr, und zog kurz darauf aufs Neue aus, um die Menschheit in Angst und Schrecken zu versetzen.
Es ist jetzt knapp zwei Monate her, als Nathan herausbekam, was sein alter Kumpel bei Vollmond so treibt. Die anderen Werwölfe können sich willentlich zu jeder Zeit verwandeln, nur bei Vollmond haben sie keine Kontrolle mehr über sich und werden zu der reißenden Bestie, die alle Welt fürchtet. Bei Sam jedoch, scheint es anders zu sein. Nathan kennt den genauen Grund nicht, vielleicht hängt es damit zusammen, dass er als Tod geboren wurde, für ein paar Stunden menschlich war, bevor Alice ihm versehendlich ihr Blut gab und ihn in einen Werwolf verwandelte. Doch Samuel scheint der einzige unter den haarigen Biestern zu sein, der seinen Willen nicht einmal im Monat einbüßt. Er weiß auch an Vollmond noch ganz genau, was er tut, wenn auch er sich gegen eine Umformung in ein anderes Lebewesen nicht wehren kann, so ist er doch immer noch im Vollbesitz seiner geistigen Fähigkeiten.
Darum verwunderte es Nathan auch so, als er herausfand, dass Samuel alle 29 Tage umherzieht und scheinbar wahllos Menschen tötet.
Mittlerweile wird er bereits unter dem Namen Liphook-Killer gesucht.
Nathan nimmt noch einen Schluck Kaffee und grinst breit, als er daran zurückdenkt, dass er Samuel beim letzten Vollmond einfach in seinem Keller in einen massiven Käfig sperrte.
Das war ein hartes Stück Arbeit und hat Nate einige böse Kratzer beschert. Aber vor allem einen überaus wütenden Sam, der ihm das bis jetzt noch nicht verziehen hat.
Nathan will gerade aus seiner Tasse trinken, als mit einem Mal das Telefon lautstark schrillt. Der alte Mann zuckt zusammen, mit dem Ergebnis, dass der Kaffee aus der Tasse schwappt, ihm über die Hände und auf den Tresen fließt.
»Verfluchte Scheiße«, schimpft Nate und schüttelt seine Hände aus, bevor er den Hörer abnimmt.
»Ja, Verdammt«, bellt er in das Telefon. »Hier d’Cavenaughs Antiquitäten. Was wollen Sie?«
Am anderen Ende ist kurz Stille, dann kichert jemand.
»Begrüßt du deine Kunden immer so? Wundert mich nicht, dass dein Geschäft den Bach runter geht.«
»Meinem Laden geht’s bestens«, antwortet Nathan. »Was willst du, Liam?«
»Ich wollte nur beweisen, dass ich eine gute Erziehung genossen habe und dir Bescheid sagen, dass wir im Zug sitzen und unterwegs zu dir sind. Mehr nicht.«
»Ah … Okay, Junge. Wann kommt ihr an?«
»Hm … Warte mal, Charlie sieht gerade nach.« Nathan hört ein Rascheln und leises Stimmgemurmel im Hintergrund. Ungeduldig tippt er mit den Fingern auf die hölzerne Platte. Der kleine See aus Kaffee erreicht den Rand und tröpfelt auf den Fußboden. Nate sieht sich nach einem Lappen um, kann aber nichts entdecken. Kurz entschlossen wischt er mit dem Unterarm über den restlichen See. Er verzieht angeekelt das Gesicht, als die, nun kalt gewordene Brühe, durch sein Hemd zieht und auf seine Haut gelangt.
»Komm, Blutsauger«, schnauzt Nate in den Hörer. »So genau wollt ich es auch nicht wissen. Sag es nur so ungefähr, damit ich mich drauf einrichten kann.«
»In Ordnung«, Liam räuspert sich umständlich. »Wir hatten Glück und haben einen Schnellzug erwischt. So in einer Stunde werden wir wohl aufschlagen.«
»Gut, bis dann.« Ohne eine Verabschiedung legt Nathan den Hörer auf.
In dieser Sekunde fährt vor seinem Geschäft ein schwarzer Mercedes entlang.
»Oh, da sind sie ja endlich«, ruft er laut und rennt um die Theke herum, auf die Eingangstür zu. Er reißt sie auf und läuft die wenigen Meter bis zu seinem Parkplatz.
Hazel parkt den Mercedes neben Nates schwarzen Van, sie steigt aus, löst das Band, womit sie ihr Haar zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zusammen hielt und schüttelt den Kopf. Ihre üppigen, haselnussbraunen Locken wehen nur so um sie herum. Nathan sprintet auf sie zu und reißt sie an sich, er umarmt sie wie ein Ertrinkender. »So ein Glück, mein Engel. Du bist wieder zurück«, flüstert er. Nate hält seine Freundin auf Armeslänge von sich weg, betrachtet sie eingehend.
»Ich habe dich vermisst, Haz.«
Mit einem raschen Seitenblick auf Parker und Samuel, die wie unbeteiligt neben dem Mercedes stehen, sagt er: »Ich hoffe, die zwei Idioten haben dich nicht zu sehr genervt.«
Lachend schüttelt Hazel den Kopf.
»Nein, natürlich nicht, mein Liebster.« Sie legt ihre Hände gegen Nates Wangen. »Aber eine herzliche Begrüßung geht anders.«
Ihre Lippen nähern sich Nates Mund, als sie sich treffen, umarmen sie sich wild. Hazel lässt Ihre Krallen aus den Fingern schnellen, die sich tief in Nates Rücken bohren. In einem leidenschaftlichen Kuss vereint, stöhnt Nathan lustvoll auf.
*
Alice wirft den Hörer zurück auf die Gabel.
»Du verdammtes, feiges Biest«, schimpft sie mit sich selbst. Die junge Frau hat noch nicht mal das Klingeln am anderen Ende abgewartet, sie traut sich einfach nicht, mit Nathan zu sprechen.
Zu groß ist ihre Furcht vor dem, was sie vielleicht über Samuel hören könnte.
Die nächsten Stunden verbringt sie damit, auf dem Bett zu sitzen und sich einzureden, dass Eugenio Schwery nur einen Ausflug macht, wenn auch einen, der verflucht lange dauert. Oder, er ist einfach in eine andere Gegend gezogen, wie er es ihr gegenüber bereits erwähnte. Dass Schwery all seine Sachen zurückließ, lässt Alice dabei völlig außer Acht. Sie sucht auch nur nach Ausreden, all die kleinen Ausflüchte, die ihr dabei helfen, Gründe zu finden, sich nicht bei Nathan zu melden.
Dabei ist alleine die Tatsache, dass ein Werwolf einfach so verschwindet, schon Grund genug, jemandem Bescheid zu sagen. Aber das Wichtige schiebt die kleine Alice von sich.
Sie hat einfach Angst und zwar sehr große Angst. So sehr gefürchtet, wie jetzt, hat sie sich schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Dabei lähmt sie nicht ein Feind, oder eine gefährliche Lage, es ist nur eine Person, der sie ausweichen will.
Sie hat Angst, dass Sam ihr erneut das Herz bricht.
*
Drake schlägt die Beine übereinander, stellt den Cognac beiseite und nimmt nochmals die Liste zur Hand. Das Blatt ist zerknittert, die Handschrift so schräg, als könne ein leichter Windhauch die Buchstaben einfach umwehen.
Außerdem ist das Papier von fettigen Fingerabdrücken übersät. Man sieht eindeutig, dass der Schreiber die nötige Sorgfalt sausen ließ.
Drakes Daumen streicht über drei Namen: Samuel, Parker und Hazel. Als Adresse ist 20 Cursitor Street, London, England, angegeben. Unter der Spalte Bemerkungen, steht in noch schrägerer Handschrift geschrieben: wohnen bei Nathan d’Cavenaugh.
Drake grinst breit. Ich dachte, der alte Sack wäre schon längst in die Hölle gefahren. Hat die Superior ihm nicht eine Strafe auferlegt? Habe geglaubt, die wäre bereits abgelaufen. Nun ja, Drake zuckt mit den Schultern, dann wird dein Ende wohl vorgezogen, alter Junge.
Drakes Finger wandert weiter zu Sams Namen.
Samuel, denkt er und spürt, wie die Wut in ihm hoch kriecht. Ich habe über deine unfreiwillige, seltsame Verwandlung vom Sensenmann in einen Werwolf gehört. Jetzt wird es für mich noch leichter werden, dich zu töten.
Mich für das grausame Sterben meiner Geliebten zu rächen, ist schon lange mein Ziel, aber das du es mir so einfach machst und ein Wölfchen wirst, das ist ja fast schon peinlich.
Ganz in Gedanken versunken kichert Drake vor sich hin. Selbstverständlich werde ich dich leiden lassen, lieber Samuel. Du musst genauso zusehen, wie deine Freundin langsam zugrunde geht, wie es auch einst mein Schicksal war. Das schwor ich damals, und heute bin ich bereit, diesen Schwur einzulösen.
An Garry gewandt sagt Drake mit leiser Stimme: »Was ist mit dieser Alice? Die den seltsamen Laden in Paris hat?«
Garry wendet den Kopf, ein großes Glas aus zusammen gepanschtem Alkohol in der Hand, sein Blick ist bereits leicht verklärt.
»Oh, wir wären sehr erfreut, wenn Ihr sie töten würdet, Sire«, murmelt der Hyänenhund mit undeutlicher Stimme.
»Ho-ho-hocherf-f-freut«, schließt sich Dave an und grinst breit.
»Richtig.« Garry klopft seinem Kumpel zustimmend auf den Rücken.
»Wisst ihr denn, wo sie sich aufhält? Auf der Liste steht keine Anschrift von ihr.«
»Ja, Sire«, Garry dreht sich um, er gerät leicht ins Schwanken. »Sie ist am 8. in Lyon, beim Lichterfest.«
Drake zieht erstaunt eine Augenbraue hoch.
»Ach, ehrlich? Woher wisst ihr das?«
Der junge Hyänenhund zuckt mit den Schultern, was seinen Körper noch stärker aus dem Gleichgewicht bringt.
»Unsere Informanten sind überall, Sire. Was immer Ihr wissen wollt, wir werden es herausbekommen.«
»So, so.« Drake vertieft sich erneut in die handgeschriebene Liste.
Ohne das Johlen und Knurren der Hyänen, die inzwischen einen hohen Alkoholpegel erreicht haben, zu beachten, überlegt sich Drake einen Plan, wie er am 8. Dezember, mitten in einem Haufen Menschen, am besten eine Werwölfin fängt. Er braucht sie lebend, nur so kann er seine Rache genießen. Aber bis dahin sind es nur noch knapp zwei Tage, er muss sich also rasch etwas einfallen lassen.
*
Parker wendet sich ab, presst eine Hand gegen den Bauch und gibt würgende Geräusche von sich. Samuel verzieht nur andeutungsweise seine Mundwinkel zu einem Lächeln. Es sieht zwar lustig aus, wie Parker so tut, als wäre ihm schlecht geworden, von Hazels und Nathans Knutscherei, aber Sam findet das eigentlich gar nicht komisch. Nur zu gerne würde er ebenso ein ganz bestimmtes Mädchen in seine Arme reißen und sich mit ihr in den Tiefen der Leidenschaft verlieren.
Um seine Gefühle zu überspielen, sagt er mürrisch: »Lass das sein, Parker. Du bist ein Vollidiot.«
Sam steckt die Hände in die Überreste seiner Hosentaschen und schlendert in Richtung Antiquitätengeschäft, um sich umzuziehen.
Parker geht ihm hinterher.
Hazel löst gerade vorsichtig ihre langen Krallen aus Nathans Rücken.
»Das tut mir leid, Nate«, flüstert sie, an seine Wange geschmiegt. »Ich zerstöre dir ständig deine Klamotten.«
»Das macht doch nichts, mein Engel«, antwortet Nate und streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
»Du weißt doch, dass ich es liebe, deine Krallen in meinem Fleisch zu spüren.«
Hazel läuft rot an und senkt verlegen den Kopf. »Und außerdem«, fährt Nate fort, löst sich von ihr und nimmt Hazels Hand. »Was sind schon ein paar Hemden, im Vergleich zu deiner Liebe, die ich immer wieder aufs Neue fühlen kann.«
Hazel lächelt sanft, wofür Nate sie am liebsten erneut in seine Arme reißen würde.
»Ich schenke dir zu Weihnachten eine ganze Kollektion neuer T-Shirts und Hemden.«
»Einverstanden.« Nathan führt sie zurück zu seinem Laden.
Unterdessen entledigt sich Samuel, in einem der hinteren Zimmer, das er seit einem Jahr bewohnt, der Fetzen, die einst seine Kleidung darstellte. Er wirft sie auf einen bereits bestehenden Berg von Anziehsachen, die alle genauso zerrissen sind.
Es war nicht das erste Mal, dass er die Beherrschung verlor und sich in einen Werwolf verwandelte, obwohl er noch Klamotten am Leib trug. Seufzend öffnet er den Kleiderschrank. So langsam muss ich mir wohl ein paar neue Sachen zulegen, denkt er und angelt sich ein frisches T-Shirt und eine neue Jeans heraus. Oder, überlegt er weiter, in Zukunft nehme ich mir die Zeit, mich zuerst meiner Sachen zu entledigen.
Sam schließt gerade den Gürtel der Hose, als hinter ihm eine Stimme ertönt.
»War wieder ganz schön übel heute, nicht wahr?« Ohne sich umzudrehen, antwortet Sam.
»Nein, Parker, das fand ich nicht. Du bist und bleibst ein hinterlistiger Arsch und heute habe ich es dir gezeigt.«
Samuel dreht sich um und streift sich das Shirt über. Parker lehnt gegen den Türrahmen, die Arme vor dem Körper verschränkt. Er ist bereits umgezogen und grinst seinen Freund spöttisch an. »Jetzt siehst du wieder aus, wie ein Mensch und nicht mehr wie ein verrücktes Vieh.«
Nachdenklich streicht sich Sam über den dunklen Stoff. Unter dem Shirt kann er seine Muskeln fühlen, wenn er sie anspannt, ist es so, als habe er Eisenstränge in seinem Bauch versteckt.
Es ist immer noch merkwürdig für ihn, bis vor einem Jahr hat er gar nichts gespürt, wenn er sich über den Körper strich, noch nicht einmal das Gefühl, wenn man sich durch die eigenen Haare fährt, kannte er.
Parker wirft einen Blick über seine Schulter, kommt einen Schritt in Sams Zimmer und schließt hinter sich die Tür.
»Was ist bloß los mit dir, Junge?«, fragt er und Sam kann die Sorge in seiner Stimme hören. »Du wirst immer seltsamer, in letzter Zeit.«
Sam möchte den drängenden Fragen aus dem Weg gehen. Er versucht, an Parker vorbei, aus dem Zimmer zu huschen, sein Freund jedoch versperrt ihm den Weg.
»Sag mir doch bitte, was ist«, versucht Parker erneut einen Vorstoß. »Vielleicht kann ich dir helfen. Du musst dich doch jemandem anvertrauen.«
Samuel lacht abfällig. »Und der sollst ausgerechnet du sein, stimmt’s?«
Zustimmend nickt Parker mit dem Kopf.
»Ja, genau. Es sei denn, der alte Nate ist dir lieber. Ich kann ihn gerne herholen.«
Parker legt eine Hand auf die Türklinke und zieht sie auf. Schon holt er Luft um nach Nathan zu rufen. Sam jedoch kommt ihm zuvor.
Er vollführt einen riesigen Satz nach vorne, knallt mit einer Hand die Türe wieder zu, legt die andere über Parkers Mund und hindert ihn so daran, nach dem alten Sensenmann zu rufen.
»Halt bloß die Klappe«, zischt ihn Sam an. »Nathan ist viel zu verknallt, er würde mich nicht verstehen.« Parker brummelt etwas, aber da Sam immer noch die Hand auf seinem Mund presst, ist er nicht zu verstehen.
»Was?«, fragt Sam nach und nimmt seine Hand wieder runter.
»Ich habe gesagt: Dann rede doch mit mir. Nichts ist leichter als das, Junge.«
Wortlos dreht sich Sam um, geht zu einem kleinen Schrank, der neben dem Bett steht und holt aus einer Schublade eine frische Packung Zigaretten heraus.
»Oh, du rauchst wieder?«, fragt Parker erstaunt, weiß er doch genau, dass Sam beim letzten Jahreswechsel das Rauchen aufgab. Es würde ihn nicht mehr befriedigen, sagte er damals.
»Ja, schon länger«, antwortet Samuel, er lässt sich aufs Bett fallen und zündet sich die Zigarette an.
Parker lehnt sich erneut gegen den Türrahmen und betrachtet den ehemaligen Tod aufmerksam.
Nach ein paar Zügen an dem Glimmstängel beginnt Sam leise zu sprechen.
»Alice. Sie fehlt mir, Parker. Viel mehr, als ich je für möglich gehalten hätte. Seit ich von diesem blutrünstigen Tier beherrscht werde, ist es immer schlimmer geworden. Manchmal möchte ich mich aufmachen, und so rasch mich meine Pfoten tragen, zu ihr rennen, aber ich habe … Angst.« Samuel sieht zu seinem Freund. »Kannst du das verstehen? Ich …« Sam zeigt mit dem Daumen auf sich selbst. »Ich habe Furcht vor einem … Mädchen.«
»Gib mir auch mal 'ne Kippe«, meint Parker.
Er fängt das geworfene Päckchen geschickt auf. Während er sich eine Zigarette anzündet, denkt er darüber nach, wie er Sam am besten helfen könnte. Er wirft ihm das Paket zurück.
»Dir ist bestimmt klar, dass es nur einen Weg aus dem Schlamassel heraus gibt. Du musst deiner Angst die Zähne zeigen und dich nach Paris aufmachen. Zu ihr und ihr alles beichten.«
Ein weiteres Mal lacht Samuel abfällig.
»Beichten. Ich glaube damit bin ich fertig.«
»Weiß sie eigentlich, was aus dir geworden ist? Ich meine das du inzwischen einer ihrer Art bist.«
Sam schüttelt den Kopf. »Von mir nicht. Soweit ich weiß, hat sie auch nie hier bei Nate angerufen. Also, wenn du es ihr nicht gesteckt hast …« Fragend sieht Sam den großen Werwolf an.
»Nein, natürlich nicht. Ich habe im letzten Jahr auch nicht mit ihr gesprochen. Ich hatte viel zu viel mit dir Arschloch zu tun.«
»Dann hat sie keine Ahnung«, stellt Samuel fest und drückt seine Zigarette aus.
Parker holt gerade Luft, um noch einen Satz loszuwerden, da erschallt vom Flur her, Nathans dröhnende Stimme.
»Bequemt ihr zwei euch jetzt endlich mal her, oder was?«
Beide Werwölfe rollen mit den Augen.
»Der Chef ruft«, meint Parker und kichert vor sich hin.
Noch bevor Sam sein Zimmer verlassen kann, hält Parker ihn zurück.
»Es gibt nur die eine Chance, Sammy. Fahr zu ihr und rede mit ihr. Dann geht’s dir bestimmt auch wieder besser.«
Sam drängt sich an ihm vorbei.
»Also bleibt alles beim Alten.«
Seufzend folgt ihm Parker.
*
Alice hat sich dazu entschlossen, den nächsten Tag in dem Hotel zu bleiben und von hier aus nach Lyon aufzubrechen. Hinterher kann sie immer noch all die Städte besuchen, die sie sich vorgenommen hat. Aber da in zwei Tagen bereits Vollmond ist, wäre es besser, ihre Reisepläne zu ändern. Sie fährt mit dem Aufzug ins Erdgeschoss, um an der Rezeption nachzufragen, ob sie das Zimmer für eine weitere Nacht mieten kann. Hinterher geht sie in den Speisesaal, wo ein riesiges Frühstücksbüfett aufgebaut wurde.
Sie nimmt sich nur ein wenig Roastbeef, weil es sie so herrlich an rohes Fleisch erinnert und einen Salat. Vom Büfett holt sie sich noch eine große Kanne Kaffee und verzieht sich mit ihrem Frühstück in die hinterste Ecke des noch leeren Speisesaales. Sie hat einen guten Platz erwischt, durch das Fenster neben ihr, kann sie auf den Genfer See blicken, der im Moment allerdings hinter dichten Nebelschwaden verschwunden ist.
Plötzlich steht jemand neben ihr und räuspert sich leise. Alice erschrickt, sodass der winzige Toast aus ihrer Hand rutscht und in die volle Kaffeetasse fällt.
»Verdammt«, murmelt Alice und versucht das Brotstück wieder herauszufischen. Gleichzeitig sieht sie den jungen Kerl an, der neben ihrem Tisch steht und sie so zusammenzucken ließ.
*
Garry schlägt sich auf den flachen Bauch.
»Boah, Mann ich hab vielleicht einen Hunger. Ich könnt glatt einen Bären fressen.«
»O-oder e-e-einen Wer-Wer-Werw-w-wolf«, ergänzt Dave und lacht laut.
»Ich kann euch etwas bestellen«, sagt Drake und greift bereits zum Telefon.
»Wartet mal«, mischt sich Bennet ein. »Wäre es nicht unauffälliger, wenn einer von uns hinunter geht, um was am Frühstücksbüfett zu holen? Da kann man sich doch auch was einpacken lassen.« Drake wirft einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Ja, die dürften inzwischen aufgedeckt haben. Du hast recht, junge Hyäne. Und zur Belohnung darfst du gehen und für deine Brüder was Essbares organisieren.«
»Och, nö«, Bennet stöhnt auf. »So war das nicht gemeint.«
»I-i-ich k-k-k-kann-nn a-auch ge-ge-gehen«, mischt sich Dave ein.
»Nein danke«, sagt Bennet mit einem schiefen Grinsen. »Bist du bestellt hast, haben die schon den Tisch fürs Abendessen gedeckt, 'ne lass mal.«
Garry lacht kichernd und schlägt seinem Freund auf die Schultern.
»Der war echt gut, Dave. Das musst du zugeben.«
Gezwungen grinst Dave zurück.
»Ich gebe dir meine Zimmerkarte«, sagt Drake und reicht dem jungen Hyänenhund eine Scheckkarte in Gold, mitten drauf prangt die Zimmernummer. »Die brauchst du nur vorzeigen und die packen dir ein, was du willst.«
»In Ordnung. Bin gleich wieder da.«
»He, willst du nicht erst fragen, was wir essen wollen?«, ruft ihm Garry empört nach.
Die Klinke bereits in der Hand, dreht sich Bennet noch einmal um. »Fleisch, was denn sonst?«
Das hohe Kichern seiner Freunde begleitet ihn noch bis zum Aufzug.
Erst in der engen Kabine fällt die ganze Anspannung von der Hyäne ab.
Seine Hände beginnen zu zittern und der Schweiß bricht ihm aus. Er hat gemerkt, dass er Drake nicht geheuer war und die letzten Stunden verzweifelt versucht, das wieder wettzumachen. Jetzt war es allerdings kaum noch auszuhalten, er musste raus aus der Situation. Da kam ihm die Idee mit dem Büfett ganz recht.
Als er den Speisesaal betritt, der nur mäßig gefüllt ist, lässt er aus einem Impuls heraus den Blick schweifen.
In der hintersten Ecke sitzt eine junge Frau, sehr schlank, klein, mit langen schwarzen Haaren. Sie kommt Bennet auf eine merkwürdige Art vertraut vor.
Das gibt’s doch nicht, denkt er nach ein paar Sekunden, was macht die denn hier?
Für einen Augenblick ist Bennet hin und her gerissen, dann trifft er eine Entscheidung und geht zielsicher zu ihrem Tisch.
Leise stellt er sich neben sie und räuspert sich. Vor Schreck lässt Alice ihr Brot fallen, das natürlich ausgerechnet im Kaffee landet. Bennet grinst über das ganze Gesicht. Mit großen, runden Augen sieht sie ihn an, sie scheint ihn nicht zu erkennen.
»Hallo, Alice-Mäuschen«, sagt er und schafft es, seiner Stimme einen rauen Ton zu verleihen.
Die Kleine stutz einen Moment, dann zeigt sie mit dem Finger auf den jungen Mann und sagt: »Bennet? Bist du das wirklich?«
»Ja, ich bin‘s«, meint er überheblich.
Alice erhebt sich und fällt der Hyäne um den Hals. Auch Bennet drückt das Mädchen an sich.
Von allen Anderswesen in Paris, hat er die kleine Alice immer am liebsten gemocht, auch wenn alle Welt wusste, dass sie niemanden an sich heran ließ, so gab es doch immer einige, die um ihre Gunst buhlten. Bennet war einer von ihnen, wenn er auch etwas höher stand, als alle anderen, so gab es zwischen ihm und Alice nie mehr, als nur eine lockere Freundschaft. Doch jetzt freut sich die kleine Schwarzhaarige wirklich ein bekanntes Gesicht zu sehen.
»Mensch, Junge, was machst du denn hier?«, sagt sie und lässt die Hyäne los. Sie deutet ihm an, sich zu setzen.
»Ich habe leider nicht viel Zeit, Mäuschen«, lehnt Bennet ihr Angebot ab. »Ich bin mitten in einem Auftrag.«
»Oh«, Alices Augen weiten sich. »So einen Schwachsinn machst du also immer noch?«
»Das ist kein Schwachsinn, das ist mein Leben. Davon bezahle ich meine Rechnungen. Wie du ja weißt, sind die nicht gerade niedrig.«
Das weiß Alice nur zu gut. Damals war Bennet süchtig, nicht nur nach Drogen, nach ihrem Samento, was sie selbst herstellte, sondern auch nach Glücksspielen und Frauen. Wie man ja weiß, verschlingt all das einen Haufen Geld. Selbst bei ihr hatte der junge Hyänenhund Schulden, die er nach und nach bezahlte, bevor er eine Entziehungskur durchmachte.
Seit dem hat sie ihn nicht mehr wieder gesehen.
»Na ja«, Alice wischt seine Äußerung beiseite. »Ich freue mich, dich zu sehen. Wie ist es dir ergangen in den letzten Jahren?«
Bennet zuckt mit einer Schulter.
»Ohne dich? Beschissen, mein Mäuschen.«
»Das glaube ich nicht. Du siehst gut aus, viel besser als früher … hm … gesünder.«
»Klar, ich esse ja auch immer brav meinen Teller leer.« Bennet blickt hektisch über seine Schulter, ihm war so, als habe er etwas gehört, aber es sind nur einige junge Burschen, die gerade den Saal betreten.
»Was ist mit dir?«, murmelt Alice und zupft an Bennets Jacke. »Du bist ja ganz schön nervös.«
Der junge Mann packt Alices Hand, hält sie fest und blickt ihr tief in die dunklen Augen.
»Ich bin nicht nervös, mein Mäuschen. Ich bin tot, ich stehe quasi mit beiden Beinen bereits in der Hölle, nur noch mein knackiger Arsch hindert mich daran, ganz hinab zu rutschen.«
»Bennet, was …«
Mit einer Handbewegung unterbricht er sie.
»Ich hab echt keine Zeit«, wiederholt er. »Hör mir nur aufmerksam zu. Du darfst auf keinen Fall zu diesem bescheuerten Lichterfest gehen. Du musst irgendwohin fliehen, wo du sicher bist. Er will dich töten, oder noch schlimmer, entführen, um dich und deine Sippe später umzulegen.«
»Wer denn, zum Teufel?«, fragt Alice in eine Atempause von Bennet hinein.
»Drake, natürlich. Er …«
In diesem Moment vibriert Bennets Handy. Er fischt es aus der Innentasche und sieht, dass es Garry ist. Rasch nimmt er den Anruf entgegen.
»Ja, was gibt’s?«
»Wo bist du, Alter? Ich soll dir tragen helfen, kann dich aber nirgends finden.«
In der nächsten Sekunde sieht Bennet seinen Kumpel, wie er in den Speisesaal kommt und sich suchend umsieht. Sofort lässt sich Bennet auf den Boden nieder und tut so, als sei sein Schnürsenkel offen.
»Ich bin am Büfett, Garry. Ich glaub ich sehe dich. Warte, ich komm dir entgegen.«
Damit legt er auf. Hektisch flüstert er Alice zu: »Sieh zu, dass du so schnell wie möglichst von hier verschwindest. Noch weiß er nicht, dass du auch hier bist. Wo ist denn dieser Blutsauger, kannst du nicht zu ihm?«
»Der ist in England.«
»Oh, Mann. Da darfst du auf keinen Fall hin. Da leben am meisten von euch und die Insel ist sein nächstes Ziel.«
Bennet legt seine Hand auf ihr Knie.
»Tu einfach was ich gesagt habe. Raff dein Zeug und verschwinde, so weit weg, wie du nur kannst. Wir sehen uns.«
Geschmeidig schleicht Bennet zwischen den Tischen hindurch, um kurz vor dem, um sich blickenden Garry, aufzutauchen. Er legt ihm einen Arm um die Schultern und zieht ihn in Richtung Büfett, damit sie sich die besten Fleischstücke heraus suchen können.
Alice unterdessen, starrt nachdenklich vor sich hin.
Drake … irgendwie kommt ihr der Name bekannt vor. Sie seufzt laut auf, wirft ihre Serviette auf den Tisch und macht sich so unauffällig wie möglich aus dem Staub.
Erst als sie wieder in ihrem Zimmer ist, atmet sie erleichtert auf. Sie wirft sich auf das Bett, angelt nach dem Telefon und meint zu dem scheinbar ewig gelangweilten Typen an der Rezeption:
»Ein Ferngespräch. England. Ich sage Ihnen die Nummer an.«
»Sehr wohl.«
Alice wartet auf das Freizeichen.
Nun ist es an der Zeit, dass sie mit Nathan spricht, genau jetzt ist der richtige Zeitpunkt gekommen. Im Moment ist es ihr auch völlig egal, was sie eventuell über Sam hören könnte. In diesem Augenblick zählt für sie nur noch ihre eigene Art. Die Rasse, der Samuel nicht angehört.
Außerdem ist Alice eingefallen, wo sie den Namen Drake schon einmal gehört hat und das lässt ihr einen grausamen Schauer den Rücken herunter fließen, der sie jede Frucht vor Sam, und einem Gespräch mit ihm, vergessen lässt.