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Kapitel Vier

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Pfarrer Francesco schließt aufatmend die schwere Kirchentüre. Er lechzt nach einem Whisky. Gedanklich sitzt er bereits in seinem bequemen Sessel, mit einem randvoll gefüllten Glas in der einen und einer Zigarre in der anderen Hand.

Seit Samuel vor zwei Tagen hier war, hat Francesco sich jeden Abend betrunken. Nur um nicht über den Tod und seine merkwürdigen Machenschaften nach denken zu müssen. Der Pfarrer wünscht sich sehnlichst, dass der Tod nicht Jahr für Jahr zur Beichte ausgerechnet zu ihm kommt. Am liebsten hätte er Samuel niemals kennengelernt.

Die Furcht kriecht ihm noch heute den Rücken hinauf, wenn er an seine erste Begegnung mit dem Leibhaftigen denkt. Francesco wusste sofort, dass mit Samuel etwas nicht stimmt, dazu musste dieser noch nicht mal einen Fuß in die Kirche setzen. Der Pfarrer brauchte keinen Blick in diese feurigen, alles verschlingenden Augen zu werfen, er wusste es einfach instinktiv. Jeder, der Samuel genauer ansieht, weiß sofort, dass er kein Mensch ist. Man kann es riechen, fühlen, vielleicht sogar schmecken.

Die Eingeweide ziehen sich zusammen, das Herz verkrampft sich, ganz so, als lege sich eine eiserne Hand darum und drücke unbarmherzig, das verzweifelt schlagende Organ, zusammen. Man schnappt nach Luft, wie ein Fisch auf dem Trockenen, versucht zu flüchten, nur weg von diesem Dämon, seine eigene Haut retten.

Aber wenn der Tod dich ausgewählt hat, gibt es kein Entrinnen, du hast noch Zeit für einen letzten Atemzug, aber dann ist es rasch vorbei mit deinem Dasein.

Nur ungern erinnert sich Francesco daran, wie er um sein Leben winselte, wie er den Tod anflehte, ihn doch zu verschonen, und an das erstaunte Gesicht von Samuel und sein hämisches Lachen.

»Ich will nichts von dir, alter Mann«, meinte der Tod. »Du sollst mir nur die Beichte abnehmen. Mehr nicht.«

Noch niemals zuvor in seinem Leben war der Pfarrer so erleichtert, wie in diesem Augenblick. Er ließ Samuel seine Fehler gestehen, betete mit ihm und entließ ihn frei von Sünde, mit einem reinen Gewissen.

Das war der erste Abend, an dem Francesco sich sinnlos betrank. Er erwachte erst am nächsten Morgen, auf dem Boden liegend, umgeben von Erbrochenem, die Hosen voller Urin und die Bibel fest in seiner Hand. Es folgten noch einige Abende dieser Art. Aber irgendwann gewöhnte sich der Pfarrer an die Tatsache, dass der Tod persönlich, jedes Jahr seine kleine Kirche heimsuchte.

Seit vierzig Jahren betritt Samuel pünktlich im November den Beichtstuhl. Doch so unheimlich, wie bei seinem letzten Besuch, war dem Pfarrer noch nie zumute. Das Gefühl, als er Samuels Arm anfasste, das war beinahe schlimmer, als sterben. Er schwor sich, nie wieder den Tod zu berühren.

Um das Erlebte zu vergessen, versucht er es einfach im Whisky zu ertränken. Francesco schätzt, dass er noch einige Flaschen braucht, um die Erinnerungen erfolgreich zu verdrängen.

Der Pfarrer dreht den Schlüssel herum und rüttelt an der Türe, ob sie auch wirklich fest verschlossen ist. Er löscht noch einige Kerzen, die in Wandhaltern stecken, aber beinahe niedergebrannt sind. Sie können kein Feuer entfachen, doch ihr Wachs ist auf dem alten Steinboden nur schwer wieder zu entfernen. Francesco geht das Mittelschiff entlang, auf seine privaten Gemächer zu. Ein leichtes Lächeln umspielt seine Lippen, beinahe kann er schon den Whisky auf seiner Zunge schmecken, fühlt, wie er ihm ölig die Kehle hinabfließt.

Abrupt bleibt er stehen.

Eine Vorahnung befällt ihn, ein seltsames Gefühl, als geschehe gleich etwas Ungeheuerliches. Francesco streckt die Hand aus, sie zittert leicht, er stützt sich an der dritten Sitzreihe ab, horcht in sich hinein. Aber es ist nur dieses seltsame Gefühl, das seine Eingeweide zusammenzieht und ein Kribbeln über seinen Körper jagt. Die Haare stellen sich auf, die Haut wird kalt und Schweiß drückt sich durch die Poren.

Wie in Zeitlupe dreht sich Francesco um, wirft einen Blick auf die verschlossene Kirchentüre. Sie wölbt sich nach innen, so als drücke etwas von außen mit einer enormen Kraft dagegen. Der Pfarrer hält den Atem an, fasziniert starrt er auf die Tür, sie zittert, sie ächzt und knarrt und wölbt sich immer mehr.

»Was in Gottes Namen ist das«, flüstert Francesco heiser. Dann beginnt das Holz zu glühen, feurig rot und orange leuchtet es von der Mitte her auf, zieht kreisförmige Bahnen und hinterlässt schwarzes, verkohltes Holz.

Francesco hält sich die Hand vor Mund und Nase, der Geruch nach verbranntem Holz mischt sich mit Schwefelgestank und etwas, das ihn an einen Wohnungsbrand erinnert, zu dem er vor zwei Jahren gerufen wurde, um drei, in den Flammen umgekommenen Kindern, die letzte Ölung zu erteilen. Die zwei Mädchen und das Baby waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, sahen aus, wie Steaks, die jemand auf dem Grill vergessen hatte und sie stanken bestialisch. Ein Geruch, der an einem haften bleibt, wie oft man sich auch duscht und den man sein Lebtag nicht vergisst, egal, wie viel man trinkt.

Francesco spürt die Übelkeit, seine Beine geben nach. Gerade noch rechtzeitig wendet er sich ab und erbricht sich lautstark zwischen den Sitzreihen.

Mit zitternder Hand wischt er sich über den Mund, wirft einen weiteren Blick auf die schwelende Kirchentür. Sie ist nahezu komplett verbrannt. Francesco zwinkert einmal, dann explodiert die Türe vor seinen Augen.

Doch es ertönt kein lauter Knall, wie er es erwartet hätte. Die schwere Kirchenpforte zerfällt beinahe lautlos in Millionen einzelne Holzsplitter.

Der Pfarrer traut seinen Augen nicht. Wie kleine Geschosse fliegen die Splitter in seine Kirche und auch um ihn, herum. Einer landet auf seinem Arm. Francesco betrachtet ihn, hellgrauer Qualm steigt von dem Holz auf. Angewidert schüttelt er ihn ab. Es dauert nur Sekunden, bis die Fragmente sich verteilt haben und der Rauch sich verzieht, aber Francesco kommt es wie Stunden vor. Er will gar nicht auf die Stelle blicken, wo einst die Türe war, um seine Kirche gegen ungebetenen Besuch zu schützten. Aber er kann einfach nicht anders, als dreht jemand gewaltsam seinen Kopf in die Richtung, und zwingt ihn, das Schauspiel zu betrachten.

Draußen ist es bereits dunkel, ein schwarzes Rechteck, wie das Maul eines gierigen Monsters, prangt mitten in der Wand.

Dort steht jemand. Francesco kann ihn sehen, doch nicht erkennen, wer das sein soll, er nimmt nur die Umrisse wahr.

Scheinbar ein Mann, groß, mit einem langen Mantel und breitem Hut bekleidet. Sein Gesicht wird völlig von der Dunkelheit verborgen. Der Pfarrer zwinkert ein paar Mal, er versucht verzweifelt das was er sieht, auch zu glauben. Es wirkt wie ein Film, als sehe Francesco sich einen billigen Western an. Jetzt fehlt nur noch ein Recorder, der im Hintergrund Spiel mir das Lied vom Tod abspielt, denkt er und unterdrückt krampfhaft ein hysterisches Kichern, das seine Kehle emporsteigen will.

Die Gestalt geht einen Schritt nach vorne.

Dem Pfarrer ist einen Moment so, als könnte er sogar das Klirren von Sporen hören und Leder, wie es gegeneinander reibt und dabei ein leises Quietschen ertönen lässt. Der lange Mantel weht um den Körper des Eindringlings.

Er vollführt einen weiteren Schritt in die Kirche hinein. Jetzt trifft ihn das helle Licht und Pfarrer Francesco kann seinen ungebetenen Besucher endlich richtig sehen.

Aber der Geistliche wünscht sich nichts sehnlicher, als das er das nicht könnte, dass er jetzt nicht erkennt, WER ihn da heimsucht. Mit zitternden Lippen betet Francesco das Vater Unser und wünscht sich blind zu sein.

»Guten Abend, Pater«, sagt der Fremde und zieht den Hut von seinem Kopf.

Darunter kommen blonde, feine Haare zum Vorschein, die seinen schmalen Kopf wie eine Gardine umgeben. Sie fallen ihm über die glutroten Augen und verbergen sie beinahe. Dennoch erkennt der Pfarrer, durch die blonden Strähnen hindurch, das Feuer.

Er blickt rasch zu Boden, kneift die Lider fest zusammen, um nur nicht in diese grausamen und alles verschlingenden Augen sehen zu müssen.

»Wisst Ihr wer ich bin?« fragt der Eindringling. Francesco hört, wie er langsam auf ihn zukommt, doch er ist unfähig, sich zu bewegen, geschweige denn wegzurennen, oder etwas zu erwidern.

Kurz ist es still in der kleinen Kirche, Francesco ist schon versucht, seine Augen zu öffnen, um nachzusehen, ob der Dämon verschwunden ist.

Vielleicht war das ja alles nur ein böser Traum, überlegt der Pfarrer, möglich, dass ich in den letzten Tagen einfach dem Whisky zu sehr vertraut habe. Genau in der Sekunde, als der Geistliche schon seine Lider einen Spalt breit öffnen will, ertönt erneut das seltsame Klirren, wie von Sporen, unmittelbar vor ihm.

Rasch kneift er die Augen noch fester zusammen.

Bedauernd schnalzt der Fremde dreimal mit der Zunge.

»Was sind denn das für Sitten?«, fragt er leise, seine Stimme bohrt sich regelrecht in Francescos Ohren. Lässt ihn den Kopf noch weiter zwischen die Schulter ziehen. Er wünscht sich, der Boden würde sich unter ihm auftun, um ihn zu verschlingen.

»Heißt es nicht, die Kirche steht jedem offen?« Die Worte dringen in den Pfarrer ein, er ist jedoch nicht fähig, darauf zu antworten.

Francesco fühlt, wie sich eine Hand auf seine linke Schulter legt, er stößt ein erschrecktes Keuchen aus.

»Wieso also schließt Ihr dieses Gotteshaus ab?«

Die Hand presst die Schulterknochen zusammen.

»Was fürchtet Ihr so sehr, dass Ihr Eure Kirche verschließt?«

Der Druck auf Francescos Schulter wird unerträglich, der Daumen des unheimlichen Kerls, drückt gegen das Schlüsselbein. Der Pfarrer stöhnt laut auf, er erwartet jeden Moment, dass seine Schulter wie ein trockener Ast einfach bricht. Ich darf nicht schreien, ermahnt sich Francesco selbst, ich darf nicht zeigen, dass er mir Schmerzen zufügt, das darf ich nicht. Ich nähre nicht seine Gier nach Leid.

»Oder sollte ich besser sagen: WEN fürchtet Ihr?«

Es erschallt ein hohles Knacken.

Auch wenn Francesco sich noch so sehr vorgenommen hat, nicht zu schreien, dieser Schmerz ist mit nichts zu vergleichen. Der Pfarrer reißt die Augen auf, lässt sich fallen und brüllt seinen Schmerz, seine Qualen hinaus. Als er auf dem harten Steinboden landet, durchzuckt ihn eine erneute Schmerzenswelle. Er greift mit der Hand an seine Schulter, der Schmerz rast durch seinen Körper, konzentriert sich in der linken Schulter und scheint dort, wie eine Bombe, einfach zu explodieren. Das Echo von Francescos erstem Schrei ist noch nicht ganz verklungen, als er bereits weitere Schmerzenslaute ausstößt. Sie prallen von den Wänden ab, kommen vervielfältigt zu ihnen zurück, um sofort wieder auf die Reise geschickt zu werden.

Es dauert ein paar Minuten, bis Francesco sich etwas beruhigt hat. Er hat gehofft, durch die Qualen ohnmächtig zu werden, um sich so weiteres Leid zu ersparen, aber dieser Gefallen wurde ihm nicht gewährt.

Die linke Schulter fest umklammert, öffnet der Pfarrer langsam die Augen.

Der Fremde steht über ihn gebeugt, die blonden Haare hängen wild um seinen Kopf, um den Mund spielt ein spöttisches Lächeln, mit glutroten Augen blickt er den Pfarrer an.

»Wer … sind … Sie?« Francescos Stimme ist rau und heiser vom Schreien.

»Ich heiße Gerome«, antwortet der Mann und beugt sich noch etwas tiefer. Seine blonden Haare berühren beinahe Francescos schweißnasses Gesicht. Die feurigen Augen bohren sich in den Blick des Geistlichen.

»Was ich bin, brauche ich Euch wohl nicht zu erklären.«

Gerome packt den Pfarrer mit einer Hand am Hals, zieht ihn langsam hoch. Francesco lässt seine schmerzende Schulter los, legt sie auf das Handgelenk und will so den Griff um seinen Hals ein wenig lockern. Aber der Fremde stellt den Pfarrer lediglich auf die Füße, bevor er ihn loslässt. Laut keuchend taumelt Francesco einige Schritte zurück, fasst sich zuerst an den Hals, dann an seine schmerzende Schulter. Sein linker Arm hängt wie leblos an ihm herab, er kann ihn nicht mehr bewegen und spürt ihn auch nicht mehr.

Gerome beobachtet den Geistlichen genau, beim geringsten Anzeichen einer Flucht, wird er erneut zupacken. Das wird jedoch das Letzte sein, das der Pfarrer spüren wird.

Soweit möchte es der Fremde nicht kommen lassen, zuerst benötigt er noch einige Informationen von dem Pfaffen, was dann mit ihm geschieht, wird sich zeigen.

»Was wollen Sie von mir?«

Panisch hält Francesco Ausschau nach einem Fluchtweg, obwohl er ahnt, dass ein Entkommen nicht möglich ist. Er kann sich ausmalen, dass er diesen Abend nicht gemütlich bei etlichen Gläsern Whisky beschließt, eher wird gleich sein Blut über den heiligen Boden spritzen. Mit viel Glück wird es rasch zu Ende sein. Daran glaubt Francesco, darauf hofft er. Ist sein Glaube doch das Einzige, das ihn im Moment noch aufrecht hält.

»Ich benötige einige Informationen von Euch.« Die Stimme des Fremden ist leise und beinahe freundlich.

Francesco runzelt fragend die Brauen.

»I-I-Informat-t-tionen?«, stottert er. »Was könnte ich schon wissen? Ich bin nur Pfarrer einer kleinen Gemeinde, ich weiß gar …«

»Schweig!« Unterbricht ihn Gerome mit donnernder Stimme, die sich in der Kirche sofort in ein dröhnendes Echo verwandelt. Augenblicklich presst Francesco die Lippen zusammen, zieht ängstlich den Kopf zwischen die Schultern, ignoriert dabei den grausamen Schmerz.

Gerome schließt für einen kurzen Moment die Lider, fährt sich mit beiden Händen durch die blonde Mähne, bevor er die glühenden Augen erneut auf Francesco richtet.

»Ich bin auf der Suche nach einem Abtrünnigen«, meint er mit leiser Stimme und so geduldig, als erklärt er einem Kind den Weg der Welt.

»Einem Verräter unter den Meinigen. Du verstehst?« Bedeutungsvoll sieht Gerome den Geistlichen an.

Der begreift nicht sofort, aber nach ein paar Sekunden nickt Francesco eifrig mit dem Kopf.

»E-Einem Verräter unter den … den Sensenmännern.«

»Ja, genau.« Gerome verzieht den schmalen Mund zu einem Lächeln. Das gibt seinem harten Gesicht etwas Weiches und lässt es bedeutend freundlicher erscheinen. Für den Bruchteil von einer Sekunde verändern sich seine Augen. Sie wechseln von diesem glühenden Rot zu einem schönen Dunkelblau. Es geht so rasch vor sich, dass sich Francesco nicht sicher ist, ob das gerade eine Einbildung war.

»Ihr habt es erfasst, Pater.« Seine Stimme klingt erfreut.

»Warum sollte ich etwas über einen Verräter wissen?«

Der Pfarrer versucht Zeit zu schinden, er ahnt, dass der Fremde niemand anderen als Samuel meint, dennoch befürchtet er, dass der Sensenmann kurzen Prozess mit ihm macht, sobald er die gewünschten Informationen von ihm erhält.

Gerome verschränkt die Arme vor seinem schmalen Körper, erneut hört Francesco dieses leise Geräusch, das er anfangs für das Klirren von Sporen gehalten hat. Jetzt erkennt er den wahren Ursprung des Tones.

Um Geromes Handgelenk, das so schmal ist, das es wie eine Skeletthand wirkt, hängt locker eine silberne Kette. Deren dicke Glieder und die vielen Anhänger, schlagen leise klirrend gegeneinander.

»Er war hier«, meint der Sensenmann schlicht.

»Ich kann ihn noch riechen und auch fühlen.«

Gerome geht einen Schritt auf Francesco zu, dieser weicht ängstlich keuchend nach hinten aus.

»Also«, meint Gerome leise, aber mit drohendem Unterton. »Werdet Ihr mir jetzt sagen, was er hier wollte und wo er hiernach hingegangen ist? Oder muss ich Euch auch noch die andere Schulter brechen?«

Der Fremde hebt seinen Arm an, der Pfarrer weicht kreischend einen Schritt nach hinten aus.

»Nein!«, schreit er laut, »Bitte, alles, nur das nicht. Ich … ich will ja alles sagen.«

Francesco stolpert über seine eigenen Füße. Reflexartig versucht er seinen Fall abzubremsen. Als seine linke Hand den Boden berührt, löst das eine erneute, grausame Schmerzenswelle aus. Der Pfarrer hält sich die Schulter, lässt sich gänzlich auf den Steinboden fallen. Wimmernd bleibt er liegen, Tränen fließen wie Sturzbäche aus seinen Augen, verwischen seinen Blick, der gerade anfängt, an den Rändern schwarz zu werden. Francesco erwartet diese Ohnmacht voller Freude, er möchte sich in sie hineinstürzen, wie in einen herrlich klaren See.

Als Francesco aus seiner Bewusstlosigkeit erwacht, findet er sich, zu seinem Erstaunen, in seinen eigenen Gemächern wieder. Er liegt auf dem Sofa, lang ausgestreckt. Einen Augenblick überlegt der Pfarrer, dass das alles vielleicht nur ein böser Traum gewesen sein könnte, aber im selben Moment durchschießt ihn der Schmerz seiner gebrochenen Schulter und Francesco weiß, dass es leider die Realität ist.

»Ah, ich habe schon befürchtet, dass Ihr sterbt, bevor Ihr mir etwas erzählen könnt.«

Erschrocken dreht Francesco sich um.

Gerome lehnt lässig gegen den Wohnzimmerschrank, ein Glas, mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit, in der einen und einem Bilderrahmen in der anderen Hand.

»Wer ist das?« Der Sensenmann dreht die Fotografie um und zeigt sie Francesco. Das Lächeln, des blonden Mädchens auf dem Bild, scheint etwas gezwungen, ganz so, als sitzt sie bereits seit Stunden vor der Kamera.

Der Geistliche schlägt beschämt die Augen nieder. »Niemand. Das … das Bild war da schon drin, als ich den Rahmen kaufte.«

Laut lachend stellt Gerome den Bilderrahmen zurück ins Regal.

»Ihr stellt Euch also ein Symbolbild ins Zimmer, nur damit Ihr euch mit einem Weibsbild schmücken könnt? Ich dachte, Ihr müsst enthaltsam leben.«

Erneut dieses Lächeln, das sein Gesicht weicher und liebenswürdiger erscheinen lässt.

Stöhnend versucht Pfarrer Francesco sich in eine sitzende Position zu erheben.

»Ich wollte nur ein freundliches Gesicht in meinem Zimmer haben.« Erklärt er fast entschuldigend.

»Ihr Menschen seid doch alle gleich«, meint Gerome abfällig. »Nun wieder zurück, zu unserem eigentlichen Thema«. Der Sensenmann wedelt mit einer Hand locker durch die Luft.

»Also, ich will wissen wer von den Meinigen bei Euch war und zu welchem Zweck. War etwa Euer Dasein abgelaufen aber er hat Euch weiterkeuchen lassen? Und in welches Mauseloch ist er hinterher verschwunden.« Bevor Francesco antworten kann, fügt Gerome noch hinzu:

»Und es wäre besser für Euch, wenn Ihr mir diesmal antwortet.«

Beschwichtigend hebt der Pfarrer die rechte Hand, seine andere gehorcht ihm nicht, sie hängt bloß wie ein totes Stück Fleisch an ihm herunter.

»Er heißt Samuel und kommt seit nunmehr 40 Jahren jedes Jahr im November zur Beichte in meine Kirche. Wo er herkommt und wohin er geht, weiß ich leider nicht.« Francesco zuckt vorsichtig mit seiner heilen Schulter.

»Ich glaube, er kommt aus Paris, aber genau weiß ich das auch nicht.«

»Und zu welchem Zweck besucht er Euch Jahr für Jahr?«

»Das sagte ich doch bereits. Ich nehme ihm die Beichte ab.«

Gerome reißt erstaunt die feurigen Augen auf.

»Er beichtet … bei Euch. In … einer Kirche?«

Langsam nickt der Pfarrer.

»Der Tod beichtet seine Sünden.« Francesco ist sich nicht sicher, ob das eine Frage oder eine Feststellung sein soll. Dennoch nickt er ein weiteres Mal vorsichtig mit dem Kopf.

»Ja. Aber dieses Jahr war etwas anders als sonst.«

Der Sensenmann kneift die Augen zusammen, sieht den Pfarrer lauernd an.

»Und das wäre?«

Francesco denkt einen Moment nach, Samuel ist zwar sein Freund und das bereits seit vier Jahrzehnten, aber hier geht es um sein eigenes kümmerliches Leben und das ist Francesco bereit zu beschützen, mit allem was ihm zur Verfügung steht.

Außerdem würde er jetzt und hier einen Eid drauf schwören, wenn Samuel den Befehl bekäme, den Pfarrer der kleinen Gemeinde Cisai-Saint-Aubin ins Jenseits zu befördern, dann würde er auch keine Sekunde zögern – Freunde hin oder her.

»Ich warte«, unterbricht Gerome unwirsch seine Gedanken.

Francesco öffnet den Mund, schließt ihn wieder, um ihn eine Sekunde später erneut zu öffnen.

Wie ein Wasserfall ergießt sich die Geschichte um Samuel, den gläubigen Tod, und dass er in letzter Zeit die Menschheit verschont, aus dem Munde des Pfarrers. Gerome hört mit einem spöttischen Grinsen auf den Lippen interessiert zu. Als der Geistliche seine Erzählung beendet hat, schüttelt der Sensenmann bedauernd mit dem Kopf.

»Samuel«, meint er leise. »Er war der Letzte, an den ich dabei dachte. Ich habe ihn bereits seit … hm, an die vierhundert Jahre muss es jetzt her sein, seit ich ihn zuletzt sah.« In seinen Erinnerungen versunken, lächelt Gerome vor sich hin.

»Ja, genau. Die große Pest von London, da hatten wir zu tun, wie nie. Das muss so sechzehnhundert … hm, ich denke 1665 war das. Das waren noch Zeiten.« Gerome sieht den Pfarrer grinsend an.

»Samuel war der Schlimmste von uns. Die Pestis war gegen ihn nur ein leichter Infekt. Er mordete, schändete und quälte seine Opfer wo er nur konnte, als galt es, ein schauriges Wettrennen gegen den Schwarzen Tod zu gewinnen.«

Durchdringend blickt der Sensenmann zu Francesco, der wie ein Häuflein Elend auf seinem Sofa sitzt.

»Ihm fielen mehr Menschen zum Opfer, als es die Pest je vermochte. Die Seuche war gar nicht so schlimm. Er. Samuel war um ein vielfaches böser und auch grausamer.«

»W-Was geschah dann?«, fragt der Pfarrer neugierig.

Gerome zuckt mit den Schultern, sieht an Francesco vorbei, fixiert irgendeinen Punkt hinter ihm.

»Er verliebte sich, der Idiot. Und das ausgerechnet in eine Todgeweihte. Das Letzte was ich von ihm hörte, war, dass er nach Italien ging und sich dort in der Provinz Lecce niedergelassen haben soll. Aber diese Information ist wohl auch bereits überholt, wie man sieht.«

Gerome deutet eine leichte Verbeugung an und meint:

»Ich danke Euch, Pater, für die neusten Informationen. Nun kann ich meinen Auftrag erfüllen.«

»Auftrag?«, fragt Francesco entsetzt. »Wie lautet denn Ihr Auftrag. Was wollen Sie mit Samuel machen?«

»Oh, verzeiht mir«, meint der Sensenmann lakonisch. »Ich dachte, das wäre klar. Ich werde ihn selbstverständlich töten müssen. Wie das bereits seit Menschengedenken mit Verrätern geschieht.«

»Aber … aber, das können Sie doch nicht machen. Er …« Irritiert verstummt Francesco. Er weiß nicht genau, wie er Gerome sagen soll, dass er nicht möchte, dass seinem Freund ein Leid zugefügt wird. Wie sagt man dem Tod, dass er niemanden töten soll. Das ist völlig absurd.

»Bitte«, setzt er erneut an. »Es muss doch einen anderen Weg geben. Schon in der Bibel steht geschrieben, du sollst nicht …«

»Schweig. Pfaffe!« Unterbricht ihn der Sensenmann.

»Ich hatte noch niemals etwas für die Kirche übrig und habe weder die Christen noch ihren seltsamen Gott verstanden. Also fangt nicht ausgerechnet jetzt an, mich zu bekehren. Dazu ist es zu spät, Pater. Mein Weg ist gewählt und das bereits seit Jahrhunderten.«

»Aber Samuel hat einen anderen Pfad eingeschlagen. Auch Sie werden das können. Sie müssen nur glauben …«

Gerome bewegt sich langsam auf den Pfarrer zu, die Augen glühen im feurigsten Rot, sie scheinen Blitze zu verschießen. Ängstlich drückt sich Francesco tiefer in die Kissen.

»Glaube!« Der Sensenmann spuckt ihm das Wort förmlich vor die Füße.

»Glaube ist etwas für Versager und Schwächlinge. Ich glaube nur an mich und an meine Fähigkeiten. Das reicht mir zum überleben.«

»I-In Ordnung«, versucht der Geistliche einzulenken und wünscht sich insgeheim, er hätte mit dem Sensenmann niemals ein Wort gewechselt.

»Nichts ist in Ordnung, Pfaffe«, zischt Gerome und stürzt sich voller Wut auf den wehrlosen Pfarrer. Francescos gequälte Schreie hallen laut in der Kirche wieder.

Samuel, der Tod

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