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II. Großväterliche Gerüche

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Lidia Afanasjewnas große Leidenschaft waren Science-Fiction-Geschichten. Vor allem die Vorstellung eines Sternentors, durch das man einfach in einen anderen Teil des Kosmos entschwinden könnte, hatte es ihr angetan. An grauen Tagen wie diesen waren derartige Phantasien für sie wie ein Kokon, in den sie sich vor den Zumutungen des wirklichen Lebens zurückziehen konnte.

So verwandelten ihre Augen auch jetzt den dunklen Flur des Reichstagsgebäudes, den sie zu putzen hatte, in einen Fluchttunnel aus der Welt, in der sie gefangen war. Ihre Hände dirigierten nicht etwa eine Kehrmaschine, sondern einen Detektor zum Aufspüren des Raumschiffs, das hinter einer der links und rechts abgehenden Türen auf sie wartete.

Lidia Afanasjewna war sich vollkommen bewusst, dass dies ein absurder Gedanke war. Aber als Science-Fiction-Fan war sie natürlich auch eine begeisterte Hobby-Astronomin. Und so wusste sie, dass das Universum von lauter Dingen durchdrungen war, die ebenso unsichtbar wie unverständlich waren: von dunkler Materie, schwarzen Löchern, Gravitationswellen und kleinsten Teilchen, die eben jetzt, in diesem Moment, durch sie hindurchglitten, ohne dass sie es bemerkte. Wie es schien, war das Universum in seinem Aufbau dem Menschen so fremd, dass es dem Verstand entglitt, sobald man versuchte, es mit dessen Kategorien zu fassen. War aber unter diesen Umständen das Absurde nicht die einzig adäquate Form, um sich seinem Wesen anzunähern?

Eingesponnen in ihren Science-Fiction-Kokon, öffnete Lidia Afanasjewna geduldig eine Tür nach der anderen und vollführte dahinter ihr Putzritual. Sie wischte mit dem Staubtuch den nicht vorhandenen Staub von den Tischen, ging mit dem Staubsauger auf den schmutzabweisenden Teppichböden Gassi, angelte mit behandschuhten Fingern in den halb leeren Papierkörben. Nirgends waren außergewöhnliche oder gar außerirdische Phänomene zu verzeichnen. Aus allen Räumen schlug ihr derselbe sterile Geruch entgegen, dem sie mit ihren Putzmitteln eine dezente antiseptische Note hinzufügte. Auf den Schreibtischen bereiteten sich die Monitore auf das Blendwerk des Tages vor, während hinter den Fenstern die Stadt lustlos erwachte. Die Sitzecken in den größeren Räumen warteten mit etwas Krümelfutter für den Staubsauger auf, hier und da garniert mit expressiven Flecken, die von den Aufputschmitteln der Vorwoche kündeten. Noch ergiebiger waren in dieser Hinsicht die Sitzungsräume, in denen die Stühle einander andächtig gegenüberstanden und die Tischkreise darauf warteten, dass ihre zeremonielle Hülle mit Leben erfüllt würde.

Es machte Lidia Afanasjewna allerdings gar nichts aus, dass sie vergeblich nach dem Außergewöhnlichen Ausschau hielt. Allein die Erwartung, dass es sich hinter der nächsten Tür ereignen könnte, half ihr schon durch den Morgen.

Mit eben dieser Erwartung öffnete sie auch die Tür, hinter der ihr – gemessen an ihren Science-Fiction-Träumen – meist die größte Enttäuschung bereitet wurde: die Tür zu den Orten männlicher Entleerung. Vertraut mit den feinsten Geruchsnuancen auch dieser Welt, bemerkte Lidia Afanasjewna sogleich, dass an diesem Morgen etwas anders war als sonst. Umwehte sie hier für gewöhnlich eine Geruchswolke, die sie an den Schweinestall großmütterlicherseits erinnerte, so empfing sie dieses Mal eher eine leicht süßliche Duftnote, wie sie ihr von der Schnapsbrennerei großväterlicherseits her vertraut war.

Aufmerksamer als sonst besprühte sie die Waschbecken im Eingangsbereich, die aber außer dem üblichen Glanzverlust durch den Seifenfilm und die abgeschrubbten Hautpartikel keine Besonderheiten aufwiesen. Als sie über die breite Spiegelwand wischte und in ihr Gesicht mit den unter einem Kopftuch zusammengebundenen Haaren blickte, in die geistesabwesenden Augen, die mitten durch sie hindurchzusehen schienen, redete sie sich sogar selbst ins Gewissen: "Du wirst noch in der Klapsmühle enden, wenn du so weitermachst! Eine Kloschüssel ist eine Kloschüssel, nichts weiter, sie deutet auf nichts hin als auf sich selbst."

Tatsächlich war auch an der Reihe der Urinale, die sie als Nächstes abschritt, nichts Außergewöhnliches festzustellen. In manchen Sieben hatte sich ein Kaugummi verfangen, ein Abfluss war verstopft, in zwei Fällen war nicht abgespült worden, so dass sich der Urinstein nur durch eine Spezialbehandlung beseitigen ließ. Alles wie immer, keine besonderen Vorkommnisse. Und doch umwölkte sie – hier noch stärker als im Eingangsbereich – nach wie vor dieser eigenartige Geruch, der ihr fremd und vertraut zugleich vorkam.

Erst als sie in den Gang zwischen den Toilettenkabinen einbog, deutete sich eine Lösung für das Geruchsrätsel an. Der Boden neben den Kloschüsseln war von getrockneten Urinspritzern bedeckt, unter den Klobrillen klebten Schamhaare, die teilweise von dunklen Flecken verfärbt waren. Manchen hatten sich mit diesen zu einer krustigen Melange verdichtet und behaupteten hartnäckig ihren Platz, als Lidia Afanasjewna sie zu entfernen versuchte. So weit war alles normal. Aus der hintersten Kabine jedoch ragte etwas heraus, das, wie Lidia Afanasjewna sogleich erkannte, dort nicht hingehörte. Bei genauerem Hinsehen stellte sie fest, dass es sich dabei um zwei Schuhe handelte, aus denen jeweils eine graue Socke hervorsah.

Da die Schuhe zur Seite geneigt waren und sich überdies vor der Kabine befanden, war nicht davon auszugehen, dass derjenige, dem die Schuhe gehörten, auf dem Klo saß. Eher sah es so aus, als würde er neben der Kloschüssel liegen. Vielleicht, dachte Lidia Afanasjewna, war hier jemandem schlecht geworden. Aber warum geschah dies ausgerechnet jetzt, zu dieser frühen Stunde, und dann noch an einem Montagmorgen – zu einem Zeitpunkt also, zu dem sie noch nie jemanden auf diesem Gang angetroffen hatte?

Widerstrebend und doch neugierig trat Lidia Afanasjewna näher an die Kabine heran. Vorsichtig stieß sie die angelehnte Tür auf. Ihr Blick fiel auf eine Falten schlagende Anzughose, die am Bund von den leeren Ärmeln eines verrutschten Jacketts umkränzt war. Schlaff lagen sie auf dem Boden, schlaff und reglos wie der Körper, der in dem zerknitterten Anzug steckte. Der Kopf, der aus dem Hemd mit der gelockerten Krawatte herausschaute, war zur Seite geneigt und stützte sich an der Kloschüssel ab, als wollte er dieser etwas anvertrauen. Dem entsprach auch der geöffnete Mund, auch wenn das, was darin zu erahnen war, auf Lidia Afanasjewna seltsam starr und eingetrocknet wirkte. Allerdings visierten die Pupillen nicht das Ziel an, auf das die Haltung des Kopfes hindeutete, sondern waren auf die Decke gerichtet und schienen sich zudem, in einer angestrengt wirkenden Verrenkung, gegenseitig zu suchen, als wollte eine in der anderen Halt finden.

Lidia Afanasjewna hielt sich reflexartig die Hand vor den Mund. Ihre Augen waren, in einer Geste instinktiven Mitgefühls, weit aufgerissen. Vorsichtig, als könnte das, was da auf dem Boden lag, sie unvermutet anspringen, trat sie einen Schritt zurück, dann noch einen, bis die unsichtbare Brücke zwischen ihrem Blick und diesen die Leere trinkenden Augen sich verflüchtigt hatte. Sie schloss die Augen und dachte an Aljoscha – oder vielmehr: Sie beschwor ihn, zu erscheinen und sie in die Arme zu nehmen. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihn herbeizuphantasieren, er kam einfach nicht. Typisch Mann, dachte Lidia Afanasjewna. Immer wenn man sie braucht, sind sie nicht da.

Zitternd tastete sie nach ihrem Handy und wählte die 1-1-0. "Hallo? Ist dort die Polizei? Ich habe hier einen Toten gefunden …"

Ein Sturm von Fragen prasselte auf sie ein: Wo genau sie sich befinde, ob sie sich sicher sei, dass die Person tot sei, ob sie den Leichnam berührt habe, wie sie heiße und wer ihr Arbeitgeber sei. Es folgte die Anweisung: "Fassen Sie nichts an und bleiben Sie, wo Sie sind! Wir sind gleich bei Ihnen."

Lidia Afanasjewna hörte sich die Fragen geduldig beantworten und sah sich noch gehorsam nicken, als die körperlose Stimme an ihrem Ohr das Gespräch längst beendet hatte. Mechanisch schritt sie auf den Flur hinaus, wo sie mit der unbewussten Zielstrebigkeit einer Schlafwandlerin dem Fenster am Ende des Korridors entgegenstrebte. Sie öffnete die Scheiben und sog tief die frische Morgenluft ein. Und hier, wo der Wind den von anderen Welten getränkten Atem des nahen Flusses heranwehte, fand sie endlich Aljoscha wieder. Sie warf sich ihm in die Arme, sie hüllte sich in seine männliche Dunkelheit wie in einen langen, wärmenden Mantel, der sie die winterliche Welt vergessen ließ.

Kurze Zeit darauf zuckte sie heftig zusammen. Jemand hatte sie von hinten an der Schulter berührt. Sie drehte sich um und blickte in das eigenschaftslose Gesicht eines Mannes in mittleren Jahren. "Entschuldigung", sprach er sie mit gedämpfter Stimme an, "haben Sie uns angerufen?"

"Ob ich Sie angerufen habe … Ja, ich … ich glaube schon …" Sie war noch ganz benommen von Aljoschas Umarmung, ihre Augenlider zuckten unter dem plötzlich anbrandenden Licht. Als sie wieder zu sich kam, stellte sie erstaunt fest, dass der Mann, der sie angesprochen hatte, mit nur einem weiteren Kollegen angerückt war. Beide trugen überdies keine Uniformen, sondern waren in Zivil gekleidet. Wahrscheinlich der Sicherheitsdienst, die Vorhut der eigentlichen Polizei, dachte sie, und trottete hinter dem Mann her, der sie in einen Nebenraum geleitete. Dort sah sie sich einem weiteren Fragegewitter ausgesetzt, dessen Resultate ihr Gegenüber parallel zu ihren Antworten in einem Notebook festhielt: Wie sie den Toten gefunden habe, ob sie sofort die Polizei angerufen habe, ob sie noch jemand anderen benachrichtigt habe, ob sie auch wirklich nichts angefasst habe …

"Sie werden verstehen, dass es sich bei einem Toten im Bundestag um eine sehr heikle Angelegenheit handelt", redete der Mann ihr schließlich noch ins Gewissen. "Ich muss Sie daher bitten, vorerst mit niemandem darüber zu sprechen." Dabei sah er ihr fest in die Augen.

Lidia Afanasjewna nickte geistesabwesend.

Der Mann klappte sein Notebook zu. "Von unserer Seite war's das dann erst mal. Sie können jetzt nach Hause gehen. Halten Sie sich aber bitte zu unserer Verfügung."

"Aber … Ich bin doch noch nicht fertig mit der Arbeit", wandte Lidia Afanasjewna schüchtern ein.

Der Mann verzog die Mundwinkel, vielleicht wollte er lächeln. "Doch – für heute sind Sie fertig. Keine Angst: Wir regeln das mit Ihrem Chef!"

Das Verhalten der Männer kam Lidia Afanasjewna irgendwie merkwürdig vor. In den Fernseh-Krimis wirkten die Tatorterkundungen immer viel aufwändiger, viel akribischer … Aber vielleicht war es ja auch ein Fehler, von der Fernsehrealität auf die echte Realität zu schließen. Oder handelte es sich bei den Männern am Ende doch um Außerirdische, die den Toten zu Forschungszwecken in ihr Raumschiff entführen wollten? Doch als sie sich auf dem Weg zum Ausgang zu Aljoscha umdrehte und sah, wie dieser halb belustigt, halb missbilligend den Kopf schüttelte, beschloss sie, diesen Gedanken nicht weiterzuverfolgen.

Der Tote im Reichstag und die verträumte Putzfrau

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