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Kapitel 1 – Hilflos

Ihr bewundernder Blick folgte dem wunderschönen Naturschauspiel, wie die Sonne den Horizont küsste, um dann langsam von der Dunkelheit verschlungen zu werden. Die Seelenspiegel trieften vor Faszination. Ihre schmalen Lippen formten tonlos das Wort: „Wunderschön!“ und bildeten ein wohliges Lächeln. Ein leichter Wind spielte mit ihren schneeweißen Haaren und ließen sie, wie die farbigen Blätter, wild in der Luft umher- tanzen. Auch der Saum des weißen Kleides regte sich verspielt.

Der Herbst war angebrochen. Die schönste aller Jahreszeiten. Die Tage werden kürzer, die Nächte wiederum länger sein. Der Himmel leuchtete in einem saftigen Orange, und der Übergang wurde immer dunkler. Nur noch zur Hälfte war der Feuerball präsent. Es würde nicht mehr lange dauern, bis man die Sterne funkeln sah. Für einen kurzen Moment schloss sie verträumt die Augen. Schwärze. Das Licht und Farbenspiel waren auf einmal komplett erloschen. Erinnerungsstücke tauchten auf. Traurig stimmende Bilder zeigten sich nach einer Ewigkeit wieder, die sie zuvor so stark verdrängt hatte.

Ihre Mundwinkel zogen sich automatisch wieder nach unten. Diese Szenarien würden sich bestimmt nicht schnell vergessen lassen. Wie von fremder Hand gesteuert, griff die Frau sich an den Hals und zog an der Schlaufe des weißen Bandes, das vorhin noch ihre grässliche Narbe verdeckt hatte. Vorsichtig berührten die Fingerkuppen der anderen Hand die verheilten Schnitte, die ihr zugefügt wurden und ihre sanfte Stimme raubten, um sie auf ewig zum Schweigen zu bringen. Das Gesicht des damaligen Täters war verschwommen. Ihn wiederkennen zu können, wäre ziemlich unwahrscheinlich gewesen. Allerdings gab es mit Abstand viel mehr Dinge, die ihr lieber gewesen wären, als diesem Monster erneut zu begegnen. Nie wieder. Bitte.

Dafür würde sie alles tun. Fröstelnd verschränkte die zierliche, kleine Frau die Arme. Ein Schluchzen. Erneut richtete die weißhaarige Schönheit ihren Blick gen Horizont, der immer dunkler wurde. Das Gras um sie herum begann ebenfalls langsam an Schwärze zu gewinnen, so wie der See vor ihr. Das klare Blau wurde immer mehr von der Finsternis verschlungen und erinnerte an ein riesiges Loch, ein Tor zur Hölle. Verschwunden. Nun war die Sonne vollständig untergegangen und würde sich in den nächsten Stunden nicht zeigen. Das Spiegelbild ihrer Gestalt im Wasser war nur noch an leichten Umrissen zu erkennen, aufgrund des Mondscheins hinter ihr.

Leicht erschrocken zuckte ihr Körper zusammen, als sie plötzlich zwei Hände auf ihren Schultern spürte. „Lady Luna, Ihr solltet euch des Wetters angemessener kleiden. Nicht, dass ihr noch krank werdet!“, vernahm sie die fürsorglich klingende, tiefe Stimme ihres Butlers Benedict, der ihr die Kapuze des schwarzen Mantels behutsam über ihr Haupt zog. Die eben Angesprochene wendete sich von dem See ab und drehte sich vollends zu dem Schwarzhaarigen um. Freudestrahlend schaute sie in die blauen Augen des Mannes, dem sie so viel zu verdanken hatte. Ohne ihn hätte sie wahrscheinlich ihre restliche Kindheit nicht überstanden. Ohne ihn hätte sie ihre Lebensfreude verloren. Ohne ihn wäre sie vermutlich bereits tot. Ohne ihn wäre sie einfach nur hilflos. Immerhin war er der Einzige, den Luna noch hatte. Seine Hand fand seinen Platz auf der Wange seiner Herrin, um die heißen Tränen wegzuwischen.

Unschlüssig, jedoch darauf bedacht, sich nichts davon anmerken zu lassen, musterte er seine Herrin. So wehrlos und verloren. Wahrlich Mitleid erregend.

Als der Butler kurz davor war, es zu wagen, sie in den Arm zu nehmen, um ihr Trost spenden zu wollen, hielt sie ihn davon ab und distanzierte sich von ihm, dabei signalisierend, dass es ihr gut ging. „Seid Ihr sicher, dass es Euch gut geht? Ich wage es, mir zu erlauben, Euch zu sagen, dass ich anderer Ansicht bin. Ihr braucht keinesfalls Euch zu verstellen und Euren Schmerz zu leugnen. Vergesst nicht mein Versprechen, dass ich Euch damals gab!“ Betroffen nickte Luna und ballte ihre Hände zu Fäusten. Die seelischen Verletzungen waren anscheinend noch zu frisch. Wie auch immer. Aber sie war kein kleines Mädchen mehr, auf das ständig Rücksicht genommen werden und den ganzen Tag über betreut werden musste. Sie war stark. Musste es jedenfalls sein. Schließlich wollte sie Benedict unter keinen Umständen zur Last fallen. Die Vergangenheit ließ sich nicht ungeschehen machen. Man musste sich immer den Umständen anpassen.

Tief atmete das feenhafte Wesen ein und aus. Ihre Lungen füllten sich gierig mit Sauerstoff und schieden den giftigen Kohlendioxidgehalt wieder aus. Erneut wagte sie, den Augenkontakt mit dem Mann vor ihr zu halten. Nie war es ihr jemals möglich gewesen, seinen Blick zu deuten. Aber sie glaubte, in diesem Moment einen Hauch von Sorge zu erkennen und noch etwas, das allerdings nicht einzuordnen war. Was war es? Mitleid? Trauer? Zuneigung? Ein Rätsel und viel zu irrelevant, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Wahrscheinlich würde sie niemals dazu in der Lage sein, hinter seine Fassade blicken zu können. Doch war dies bei Weitem nicht nötig, da Luna ganz genau wusste, dass er das Herz am rechten Fleck besaß, selbst wenn er nicht den Anschein erweckte, der darauf hindeuten mochte. Da war sich die junge Herrin absolut sicher.

Das weiße Band immer noch fest in ihrem Griff. Wieder wurde der Augenkontakt unterbrochen. Diesmal war es ihr Butler, der sein Augenmerk auf die entblößte Verunstaltung des sonst makellosen Körpers der Frau richtete. Wut keimte in ihm auf. Wut auf sich und auf IHN. Er hätte es verhindern können. Der eigentliche Drahtzieher hinter allem Übel ist glücklicherweise bereits von der Bildfläche verschwunden.

Wie konnte man nur? Er hätte es ahnen sollen. Innerlich schüttelte er den Kopf. Es war geschehen und somit auch unwiderruflich. Mit dem mussten sie nun leben. Langsam näherte sich der treu Ergebene und entnahm ihr das Band, um es ihr wieder umzubinden. Sie ließ es zu. Nachdem er sein Tun beendet hatte, erhob er seine Stimme: „Bitte begebt Euch nun wieder in die Kutsche und versucht zu schlafen. Ihr müsst Euch ausruhen. Und bis wir den Wald vollständig durchquert haben, wird es noch eine Weile dauern!“ Nachgebend folgte Luna seiner Bitte und schritt auf die schwarze Kutsche zu, die auf dem breiten, leicht unebenen Waldweg stand. Dankbar lächelte sie Benedict zu, als er, wie schon so oft, die Tür aufhielt und ihr half einzusteigen. Erschöpft ließ sie sich auf die Sitzbank fallen, schlief nach kurzer Zeit ein und wurde, wie jede Nacht, von alten, bedrückenden Bildern ihrer Vergangenheit in ihren Träumen heimgesucht.

Mit eisernem Griff hielt der treue Butler die Zügel in seinen Händen und beobachtete während der Fahrt die finstere Umgebung. Verärgert musste er feststellen, dass auch seine Kräfte langsam verschwanden.

Die Müdigkeit drohte ihn wie eine riesige Welle mit in die Tiefe zu reißen. Wann hatte er das letzte Mal ausgiebig geschlafen? Selbst wenn es ihm schwerfiel, so musste er ebenfalls an seine Gesundheit denken. Denn sein Leichnam würde Lady Luna nichts bringen. Für ihn hatte ihre Sicherheit stets höchste Priorität. Nichts, aber auch gar nichts würde ihn davon abhalten können, sie zu beschützen.

Lumine – Kapitel 2

Der kleine Hügel unter dessen Baum das Mädchen schlief, wurde von einem kegelförmigen Sonnenstrahl erhellt. Ein neuer Tag war angebrochen. Ein Neubeginn. Unter dem Rascheln der Blätter war es das flatternde Flügelschlagen, das Lumine erwachen ließ. Ihr trüber Blick klärte sich und sie erblickte vor sich eine weiße Taube, die auf einem Stein saß und sie musterte. „Wie du wohl heißen magst?“, erhob sie ihre Stimme und beschloss daraufhin, den Vogel auf den Namen Kuro zu taufen. Ab diesem Zeitpunkt wich Kuro ihr nicht mehr von der Seite.

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