Читать книгу Die Liebe in deinen Spuren - Nancy Salchow - Страница 7
Kapitel 3
ОглавлениеDas Wasser umspielte meine von der Mittagssonne erhitzten Füße, als ich am Haff entlangspazierte. Bis auf ein älteres Paar, das in einer Einbuchtung im Schilf saß, und einem Mann, der mit seinem kleinen Sohn Steine auf dem Wasser balancieren ließ, war niemand in Sichtweite.
Unliebsame Disteln unterbrachen die Perfektion des Strandes nur am Rande. Hier und da Reste einer Serviette oder ein Stück Papier, in dem die Fischbrötchen am nahegelegenen Campingplatz ausgegeben wurden. Dennoch strahlte das Bild, das sich jedem Haffbesucher bot, in erster Linie Ruhe und Unberührtheit aus.
Mit dem Ziel, einen klaren Kopf zu bekommen, ließ ich die wenigen Menschen am Strand hinter mir und folgte mit energischen Schritten dem milden Wind, der wie unsichtbare Finger durch mein offenes Haar fuhr und den dünnen Stoff meines Hemdkleides aufblähte.
Doch in meinem Kopf wurde nichts klarer. Vielmehr hatte ich das Gefühl, dass mit jedem Schritt auch meine Unsicherheit zunahm. Was hatte es mit dem Namen Mella und diesen seltsamen Botschaften auf sich? Und warum schlichen sich diese fremden Worte immer wieder in meinen Text? Hatten mich die jahrelange Arbeit mit Reimen und die geradezu akribische Suche nach den geeigneten Wortverbindungen mittlerweile den Verstand gekostet?
Ich atmete tief ein. Wie ein Durstiger das Wasser sog ich die Luft regelrecht auf. Ich atmete aus, wieder ein, aus.
Eine Stimme unterbrach meine Schritte.
„Hey, nicht so schnell!“
Ich wusste, dass es Celine war, bevor ich mich zu ihr umdrehte.
Die Hände in die Knie stemmend, blieb sie neben mir stehen, um zu verschnaufen. „Mann, du hast aber ein Tempo drauf!“
„Kann schon sein“, antwortete ich. „Vielleicht hatte ich so eine Ahnung, dass mich jemand verfolgt.“ Ich unterdrückte ein Lächeln, das der Wahrheit nur die Schärfe genommen hätte. Hatte diese Frau denn nichts anderes zu tun, als mich rund um die Uhr zu belästigen?
„Und? War dein Termin erfolgreich?“
„Wie man's nimmt“, antwortete ich knapp, während ich meinen Weg fortsetzte. „Und du? Bist du nur zufällig hier?“
„Na ja, ich jogge, wie du siehst.“
Ich versuchte, ihre pinkfarbene Caprihose und das silberne Paillettentop als Joggingoutfit zu identifizieren. Das platinblonde Haar hatte sie zu einem aufwendigen Dutt zusammengesteckt, wie ich ihn – wenn überhaupt – allenfalls zu einer Party getragen hätte.
„Ich find's toll, dass wir uns so schnell wiedersehen“, sagte sie mit leichter Schnappatmung, die sich ihren Trippelschritten anpasste.
„Ich hätte nicht damit gerechnet“, antwortete ich diplomatisch.
„Das Leben steckt eben voller Überraschungen.“
Ich nickte schweigend und sinnierte, wie ich sie möglichst schnell wieder loswerden konnte.
„Hör mal, Celine“, begann ich schließlich. „Ich möchte wirklich nicht unhöflich sein, aber ich befürchte, dass ich im Moment kein besonders unterhaltsamer Gesprächspartner bin. Der einzige Grund, warum ich hier am Haff entlanglaufe, ist der, dass ich mit einem Text, an dem ich gerade arbeite, nicht weiterkomme. Und um ebendiesen toten Punkt zu überwinden, bin ich an die frische Luft gegangen. Sozusagen, um die Worte gedanklich zu sortieren.“
„Oh, dann erwische ich dich praktisch gerade bei der Arbeit“, antwortete sie mit wissendem Lächeln.
„Ja genau. Bei der Arbeit.“
Die Bedeutung meines Blicks ließ sie unberührt. Manche Menschen waren scheinbar immun gegen die berühmten Worte durch die Blume.
„Oh, wir müssen uns auch gar nicht unterhalten“, sagte sie mit wegwerfender Handbewegung. „Ich freue mich einfach, wenn ich ein bisschen Gesellschaft beim Laufen habe.“
Während ich darüber nachdachte, ihr direkt ins Gesicht zu sagen, dass ich auch schweigend auf ihre Gesellschaft verzichten konnte, setzte sie ihren Redeschwall fort. „Außerdem habe ich heute schon so viele unterhaltsame Gespräche geführt, dass mir ein bisschen Ruhe ganz guttun wird.“
Ich ärgerte mich über meine Feigheit, die mich davon abhielt, ihr einfach den Rücken zuzukehren.
„Vorhin erst habe ich fast eine Stunde lang mit einer guten Bekannten telefoniert“, sagte sie. „Kennengelernt habe ich sie durch einen Urlaub, den sie hier vor einer Weile mit ihrem Mann verbracht hat.“ Sie lächelte. „Übrigens in demselben Ferienhaus, in dem du gerade wohnst.“
„Schön“, antwortete ich knapp.
„Sie war übrigens ganz begeistert von dem Haus. Noch heute schwärmt sie davon. Die dunkelrote Holzfassade und die weißen Fensterrahmen erinnern sie an Schweden.“
„Tatsächlich“, murmelte ich abwesend.
„Sie sagt, dass sie, wann immer sie auf die Bank hinter dem Haus saß, den Himmel so gut beobachten konnte wie sonst nirgends. Die Wolken sehen hier anders aus, meint sie. Wie Luftblumen.“ Sie lachte. „Seitdem spricht sie immer vom Luftblumenhaus.“
Ihre Sätze wurden zur monotonen Ansammlung ausdrucksloser Worte. Wie ein nicht enden wollender Piepton zog sich ihr Wortschwall in die Länge.
„Aber Mella verbindet nicht nur positive Erinnerungen mit dem Haus“, fuhr sie fort. „Immerhin wird sie dieser Ort immer an den letzten Urlaub erinnern, den sie mit ihrem Mann vor der Trennung verbracht hat. Nicht unbedingt etwas, an das man gern zurückdenkt.“
Ich blieb stehen. Auch wenn es mich wunderte, dass es überhaupt eines ihrer Worte in mein Bewusstsein geschafft hatte – ich spürte, dass dies kein Zufall sein konnte.
„Wie war der Name noch gleich?“, fragte ich.
„Luftblumenhaus.“
„Nein, der Name der Frau.“
„Mella. Wieso?“ Sie blieb ebenfalls stehen. „Ist das wichtig?“
„Nein“, antwortete ich, während ich versuchte, meinen tobenden Gedanken Einhalt zu gebieten. „Eigentlich nicht.“
*
Wer auch immer Mella war, sie hatte recht. Irgendwie sahen die Wolken von der Bank hinter dem Haus tatsächlich wie Luftblumen aus. Nicht auf den ersten Blick. Auch nicht auf den zweiten. Wenn man jedoch von hier aus nach oben schaute, tief durchatmete und sich bedingungslos seiner Phantasie hingab, wurden die Wolken mit der Zeit zu Blumen. Die Blumen zu Gedanken. Und die Gedanken zu Gefühlen, die jede Faser des Körpers belebten.
Wie friedlich es hier war! Ein Frieden, der wie von selbst alles ein wenig schöner aussehen ließ. Aus dem Augenwinkel sah man das Wasser. Es war über einen kleinen Sandweg erreichbar, der an den Ferienhäusern vorbeiführte. Außer der Bank, auf der ich Platz genommen hatte, gab es auf dem kleinen Grundstück hinter dem Haus einen schmalen Streifen mit gelben und roten Tulpen, der an einem weißen Holzzaun entlangführte. Ein Tor trennte den akkurat gemähten Rasen vom Sandweg; daneben standen zwei Fliedersträucher mit weißen und violetten Blüten.
Ich senkte den Blick erneut auf das Buch mit dem blassgelben Einband, das noch immer auf meinem Schoß lag. Das Gästebuch des Hauses. Klein, aber liebevoll gestaltet. So wie das Haus selbst.
Ich spielte nicht ernsthaft mit dem Gedanken, etwas in das Buch zu schreiben, schon gar nicht zu Beginn meines Aufenthaltes. Den Grund, aus dem ich in dem Buch blätterte, konnte ich allerdings ebenso wenig benennen. Vielleicht war es Neugier. Vielleicht auch nur ein Versuch, der Arbeit an den Songs aus dem Weg zu gehen, die sich bisher äußerst seltsam gestaltet hatte.
Als ich die dritte Seite des Buchs erreicht hatte, fiel es mir wieder ein. Die Suche nach dem Namen Mella, der mir bereits mehrmals auf unerklärliche Weise begegnet war und den Celine vor wenigen Stunden am Strand erwähnt hatte, war ebenfalls ein Anlass gewesen, im Gästebuch zu blättern. Und genau hier, auf Seite 3, tauchte er tatsächlich auf.
Die schönsten Ferien, die man sich vorstellen kann, im wunderschönen Boiensdorf
Mella & Samuel
Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich vielleicht bereits bei meiner Anreise im Buch geblättert und mir dadurch unbewusst den Namen Mella eingeprägt hatte. Nein. Erst vor einer Stunde hatte ich das Buch im Regal unter dem Spiegel im Eingangsbereich entdeckt. Aber welche Erklärung gab es sonst für diese seltsamen Vorfälle beim Schreiben der Texte?
Mit einem tiefen Atemzug schlug ich das Buch wieder zu. Was hatte es für einen Sinn, weiter darüber nachzudenken? Reden konnte ich ohnehin mit niemandem über diese merkwürdige Begebenheit. Im Grunde war es auch egal, was es damit auf sich hatte. Ich war übermüdet, emotional angegriffen, da spielten einem die Gedanken schon mal einen Streich. Vermutlich war ich mit meinem Faible für Worte und deren besondere Konstellation besonders empfänglich für bizarre Schwingungen. Auch wenn die Schwingungen ihren Ursprung in meinem eigenen Kopf hatten.
Ich schaute erneut zum Himmel. Die Sonne strahlte an diesem Nachmittag besonders hell, so dass ich meine Strickjacke auszog, mein Haar mit einem Gummi zusammenknotete und mich mit geschlossenen Augen zurücklehnte. Das war sie also, meine Zeit. Meine ganz eigene Zeit. Ein Ferienhaus nur für mich. Vier Wochen lang.
Der Grund für meine Anwesenheit rückte plötzlich in weite Ferne. Stattdessen wuchs die Dankbarkeit für ein wenig Abstand vom Stress der Großstadt.
Gerade als ich darüber nachdachte, den Liegestuhl aus dem Fahrradschuppen zu holen, streifte mich ein Windzug, der nicht so recht zur frühsommerlichen Stille passen wollte.
Und wenn ich einfach zu ihm fahre? Wenn ich vor ihm stehe, wird er mir zuhören müssen.
Instinktiv öffnete ich die Augen. Was war das? Wer war das?
Aufgeschreckt schaute ich mich um. Ich war sicher, eine Frauenstimme gehört zu haben, doch weit und breit war keine Menschenseele zu sehen.
Ich erhob mich von der Bank und ging um das Haus herum, doch weder auf dem Sandweg noch in der Nähe des Hauses war auch nur die Spur einer Person zu erkennen. Mit verschränkten Armen vor der Brust blieb ich neben der Eingangstür stehen. Hatte sich Celine wieder einmal angeschlichen, weil sie gerade rein zufällig in der Nähe war?
Obwohl ich im Schutz der Hauswand stand, streifte mich erneut ein Windzug. Diesmal sogar etwas heftiger als vor wenigen Minuten. Wieder war ich mir sicher, eine Stimme zu hören. Und wieder war keine Menschenseele zu sehen.
Wenn wir uns direkt gegenüberstehen, wird er meinen Worten nicht mehr aus dem Weg gehen können.
Es klang wie der Fetzen einer Unterhaltung. Eine Unterhaltung, die jedoch keinen Ursprung zu haben schien. Wie auf der Flucht vor den eigenen Gedanken stürmte ich zurück ins Haus und warf die Tür hinter mir ins Schloss. Wie war das möglich? War ich allergisch auf Ruhe? Funktionierte ich nur unter Stress und neigte zu Wahnvorstellungen, sobald ich aus dem üblichen Trubel herausgerissen wurde?
Auf der Suche nach Ablenkung fiel mir ein Flyer auf, der an der Pinnwand neben dem Spiegel hing. Ein Abend mit Live-Musik in Percys Tanzscheune. Ich schaute auf meine Armbanduhr. Kurz nach fünf. Genug Zeit also, um unter die Dusche zu springen und in ausgehtaugliche Klamotten zu steigen. Die Songschreiberei würde mir nach einer kleinen Pause sicher umso leichter von der Hand gehen.
*
Die Kneipe kam mir jetzt, zwölf Jahre, nachdem ich sie das letzte Mal betreten hatte, sehr viel kleiner vor. Die Tische und Stühle waren mit rotweiß karierten Tischdecken und Sitzkissen bespannt und strahlten noch immer einen gewissen Bierzeltcharakter aus; trotzdem erschien alles ein wenig enger als damals.
Neben dem Tresen am Ende des Raumes deutete eine leichte Anhöhe die Bühne an. Nicht sehr groß, nicht sehr beeindruckend, aber das war es auch nicht, worauf es ankam. Man mochte es schlicht hier, und genau deshalb hatte ich mich entschieden herzukommen.
Die Band war bereits dabei, ihre Instrumente aufzubauen und zu stimmen. Die prall gefüllte Kneipe deutete den baldigen Beginn des Konzertes an. So sah also ein musikalischer Abend auf dem Dorf aus. Genau wie früher. Und genau das Richtige, um sich von wirren Gedanken abzulenken.
Ich setzte mich rechts außen an den Tresen und bestellte ein Bier, das nach wenigen Augenblicken mit einer Schaumspur zu mir herüber geschoben wurde. Selbst das hatte sich nicht verändert.
„Nicht zu fassen“, hörte ich eine tiefe Stimme neben mir. „Tina, bist du's?“
„Nick“, erwiderte ich überrascht. „Mensch, du hast dich ja kein bisschen verändert.“
Und es stimmte wirklich. Noch immer trug er das rotblonde Haar raspelkurz. Auch das hellblaue Hemd, dessen Ärmel er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt hatte, passte zu dem Bild aus meiner Erinnerung. Einem Bild, das ich mir noch heute manchmal ins Gedächtnis rief. Nick. Der Junge, der sechs Schuljahre lang mein Banknachbar gewesen war. Der Junge, der seine Spickzettel bei Klassenarbeiten für gewöhnlich unter der Schuhsohle befestigte, um deren Inhalt in recht fragwürdiger Sitzhaltung abzuschreiben.
Der Junge, der inzwischen 30 war.
„Gut siehst du aus“, stellte er fest, mit einem Lächeln, das es mir leicht machte, ihm zu glauben.
„Danke, du auch. Ist ja echt eine Überraschung, dass ich dich hier treffe.“
„Nicht so eine Überraschung, wie dich hier zu treffen. Ich wohne schließlich hier, aber du?“
„Ich auch.“ Ich lächelte, während er auf dem Barhocker neben mir Platz nahm. „Na ja, zumindest für vier Wochen. Ich hab ein Ferienhaus gemietet, unten am Strand.“
„Verstehe. Heimatsehnsucht, richtig?“
„So kann man es nennen. Oder aber die Suche nach dem geeigneten Umfeld für meine Arbeit.“
„Du bist hier, um zu arbeiten?“ Er winkte der Kellnerin zu, die ihm ohne Worte ein Bier zubereitete. Man schien ihn hier zu kennen.
„Ich schreibe. Und das kann ich am besten in einem ruhigen Umfeld.“
Er lachte. „Ich wusste gar nicht, dass man Percys Tanzscheune als ruhiges Umfeld bezeichnen würde.“
„Ich dachte, ein bisschen Ablenkung täte mir zwischendurch ganz gut.“
Die Tatsache, dass er mich nicht fragte, was oder woran ich schrieb, beeindruckte mich auf seltsam subtile Weise. Er schien nicht gleichgültig, andererseits aber auch nicht aufdringlich interessiert. Eine Kombination, die für meinen Zustand genau die richtige war.
Im Hintergrund begann die Band zu spielen. Die Akustik war etwas dumpf, dennoch (oder gerade deshalb) passte die Musik zur Umgebung. Die Leadsängerin, eine gut bestückte Blondine im knielangen Karokleid, seufzte die ersten Zeilen von „I'm So Lonesome I Could Cry“ ins Mikrofon.
„Gar nicht mal schlecht“, stellte ich fest.
„Die singen ständig hier“, sagte Nick. „Covern viel. Auch deutsche Sachen.“
Ich nickte.
Nick hielt sich an seinem Bierglas fest, während er zur Band hinüberschaute. Ein Umstand, der mich beruhigte. Keine übertriebene Aufmerksamkeit in meine Richtung. Keine nervtötenden Fragen. Er stellte die perfekte Gesellschaft dar. Gesprächig, aber nicht zu redselig. Freundlich, aber nicht zudringlich. Und gerade das machte aus dem sympathischen, aber nicht ernstzunehmenden Mitschüler von damals mit jedem Schluck aus meinem Bierglas einen umso angenehmeren Gesprächspartner.
„Und was hat die Zeit mit dir angestellt?“, fragte ich. „Bist du in die Schlosserei deines Vaters eingestiegen, wie du es immer vorhattest?“
„Anfangs schon“, antwortete er. „Ich habe meine Ausbildung gemacht und fünf Jahre dort gearbeitet. Aber irgendwann bekam ich Probleme mit meinem Rücken, war eine Zeitlang krank und habe dann umgeschult.“
„Tatsächlich?“
„Tatsächlich. Vor dir sitzt einer der wenigen Tagesväter Nordwestmecklenburgs.“
„Nicht dein Ernst!“
„Das hättest du deinem verschlafenen Banknachbarn nicht zugetraut, oder?“
„Na ja, ich bin nur überrascht, das ist alles.“
„Ich habe eine eigene kleine Betreuungseinrichtung neben der Firma meines Vaters. Derzeit sind es fünf mehr oder weniger entzückende Sprösslinge, die sich täglich freiwillig in meine Obhut begeben.“
Ich erwischte mich bei dem Gedanken, ob er verheiratet war, oder zumindest liiert. Und wenn ja, wo war sie, wenn nicht hier bei ihm?
„Klingt gut“, sagte ich und erschrak im selben Moment über die Einfallslosigkeit meiner Antwort. War es möglich, dass er mich nervös machte?
Nein. Eher war es der Umstand, mich näher mit einem Mann zu unterhalten, der mich verwirrte. Seit Piet waren meine Anstrengungen, mich auf Gespräche (geschweige denn mehr) mit anderen Männern einzulassen, selten geworden, und ich selbst zur Einsiedlerin in einer Welt voller Worte.
„Wenn du ein bisschen Abwechslung von der Schreiberei brauchst, kann ich dir übrigens den Flohmarkt im Oberdorf empfehlen. Ich bin dort oft mit den Kindern. Krimskrams zum Basteln besorgen oder nach Spielzeug für die Einrichtung stöbern.“
Oberdorf. Wieder dieses Wort. Aus seinem Mund klang es jedoch weniger lächerlich als aus Celines.
„Ja, ich hab schon davon gehört“, sagte ich. „Celine hat mich heute Morgen besucht und davon zu überzeugen versucht, dass ich dieses Ereignis auf gar keinen Fall verpassen darf.“
„Die gute alte Celine.“ Er grinste. „Wie ich sie kenne, hat sie dich vermutlich eher gezwungen, oder?“
Dass wir anscheinend dieselbe Meinung von ihr hatten, ließ meine Sympathie für ihn weiter steigen.
„Ich lasse mich nicht zwingen“, antwortete ich. „Zumindest nicht von ihr.“
Für einen Moment schien das Lächeln auf seinen Lippen wie eingemeißelt. Er musterte mich schweigend, während sich meine Wangen spürbar erhitzten.
Im Hintergrund begann jemand, über den Tisch zu grölen. Ein Lärm, der sogar die Musik übertönte.
Irritiert drehte ich mich um. „Hier scheint sich nicht viel geändert zu haben.“
Sein Blick folgte meinem in Richtung Gröl-Tisch. „Ach, das sind nur Tekko und seine Kumpane. Die sind fast jeden Abend hier und lassen keine Gelegenheit ungenutzt, sich bemerkbar zu machen.“
„Doch nicht etwa Tekko aus Stove?“ Ich versuchte, das Gesicht über dem schwammigen Doppelkinn zu rekonstruieren.
„Genau der. Macht sich ständig an die Leadsängerin heran. Und die wird nicht müde, ihn jedes Mal aufs Neue abzuweisen.“
Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf die Bühne gelenkt. Irgendetwas Vertrautes hatte sich in mein Bewusstsein geschlichen.
„Nackte Füße auf heißem Asphalt, Wangen glühen bei Nacht. Heiße Hände, doch ein Herz so kalt. Was hast du mit mir gemacht?“
Die Worte aus dem Mund der Sängerin klangen fremd und doch wie ein Teil von mir. Erst jetzt erkannte ich auch die Melodie. Ein Cover von Inga Siefert. Der Text war fast drei Jahre alt.
„Was ist?“ Nick bemerkte mein Erstaunen.
Langsam schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Das ist von mir.“
„Was meinst du?“
„Den Song.“
„Den die Band gerade spielt?“ Er richtete seinen Blick zur Bühne. „Aber singt das im Original nicht so eine rothaarige Verrückte? Inga irgendwas.“
„Siefert“, antwortete ich. „Inga Siefert. Und ja, der Song ist durch sie bekannt geworden. Die Musik ist allerdings von Walter Mazur, aber der Text von mir.“
Nick schaute zu mir, dann wieder zur Bühne, bis sein Blick wortlos an mir haften blieb.
„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte ich.
„Na ja.“ Er griff in die Schale Erdnüsse, die zwischen uns stand. „Als du sagtest, du schreibst, hätte ich nicht an so was gedacht.“
„Wer denkt schon an so was?“, antwortete ich lächelnd, ohne den Blick von der Bühne abzuwenden.
Auch wenn es keine meiner besten Textarbeiten war, beeindruckte mich die Tatsache, meine Worte aus dem Mund einer fremden Sängerin zu hören. Zum ersten Mal seit langem überkam mich so etwas wie Stolz. Ich hatte bereits für viele Bands und Musiker gearbeitet und unzählige Worte eins mit der Musik werden lassen, aber dass mich die Früchte meiner Arbeit auch in Winkeln erreichten, in denen ich es am wenigsten erwartete, erfüllte mich mit einem überwältigenden Gefühl der Zufriedenheit.
Das war sie, meine Passion. Meine Leidenschaft. Ganz egal, wie sehr mich die Erfahrung mit Piet aus der Bahn geworfen hatte, ganz gleich, wie sehr ich in den letzten Monaten gelitten hatte – an dieser einen Aufgabe, meiner Aufgabe, änderten all diese Dinge nichts. Ich lebte für die Worte. Und die Worte lebten – auf ihre Weise – für mich.
„Schöner Text“, sagte Nick leise.
„Danke“, sagte ich. „Ich hatte ihn fast vergessen.“