Читать книгу DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL - Nancy Salchow - Страница 4

Kapitel 2

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Es war das erste Mal seit seinem Umzug zu Marie, dass er den Schlüssel zu seinem eigenen Haus in den Händen hielt. Seine Nachbarin Frau Jäger hatte sich in der Zwischenzeit um seinen Garten gekümmert, zumindest um das, was davon übrig geblieben war. Auch die Fenster machten den Eindruck, erst vor kurzem geputzt worden zu sein. Er selbst jedoch hatte seit einem Jahr keinen Fuß mehr über die Türschwelle gesetzt.

Auf der letzten Stufe zögerte er für einen Moment. Der Schlüsselanhänger, ein alberner Stoffbär mit Zylinder, hing seltsam vertraut zwischen seinen Fingern herab, als hätte er ihn nie zur Seite gelegt. Mit einem tiefen Atemzug steckte Simon schließlich den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür.

Er erinnerte sich daran, das Haus damals überstürzt und in unverändertem Zustand verlassen zu haben; trotzdem traf ihn der vertraute Anblick heftiger als erwartet. Emmas Pantoffeln neben der Küchentür. Ihre Wildlederstiefel vor der Heizung. Die dunkelblaue Strickjacke an der Garderobe. Ein leichter Windzug verstummte, als er die Tür hinter sich schloss. Mit vorsichtigen Schritten durchquerte er den Flur, bis er die Küche erreichte. Auf dem Tisch stand ein frischer Strauß Chrysanthemen. Frau Jäger. Sicher hatte sie die Blumen erst am Morgen in die Vase gestellt.

Doch der Gedanke an die Fürsorglichkeit seiner Nachbarin verblasste schnell unter den erdrückenden Bildern, die das Haus ihm bot. Das hellblaue Wachstuch auf dem Tisch. Die grüne Salatschüssel auf dem Kühlschrank, die Emma erst letzten Sommer dort abgestellt hatte. Zu wenig Platz in der Schublade, hatte sie geschimpft.

Er unterdrückte das Bedürfnis, sich auf einen der Stühle fallen zu lassen. Sich fallen zu lassen käme dem Versinken in Selbstmitleid gleich. Und er wollte nicht versinken, weder in Selbstmitleid noch in quälenden Erinnerungen! Sie ist fort. Und kein selbstzerstörerischer Gedanke wird sie dir zurückbringen.

Er verließ die Küche, um sich ins obere Stockwerk zu begeben, beherrscht von dem Drang, das Haus möglichst zügig zu mustern und jede Konfrontation schnell hinter sich zu bringen. Direkt neben der Treppe fiel sein Blick auf den Wandspiegel. Abrupt blieb er stehen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien ihm das Bild des Mannes im Spiegel vertraut. Wie eine blasse Erinnerung an vergangene Tage drängte es sich in sein Bewusstsein, scheiterte aber im selben Augenblick an der mühsam erlernten Kunst des Verdrängens. Schnell wurde aus der Erinnerung an einen alten Bekannten wieder dasselbe konturlose Gesicht, das ihn seit Monaten bei den seltenen Blicken in den Spiegel ansah. Keine Mimik. Nicht mal der Ansatz einer Emotion.

Die zwei kleinen Falten zwischen den Augenbrauen, ein Resultat jahrelanger konzentrierter Arbeit am Bildschirm. Die tiefen Schatten unter den Augen, die sich von gelegentlicher Anwesenheit am Morgen zu einer dauerhaften Erscheinung entwickelt hatten. Das dunkle, leicht zerzauste Haar, das nach Meinung seiner Schwester in etwas zu lang geratene Koteletten überging. Insgesamt ein wenig eindrucksvoller Anblick. Aber wie viel ist ein Eindruck wert, wenn es niemanden mehr gibt, den es zu beeindrucken gilt?

Er strich sich mit den Fingern über die Wangen, wie er es manchmal tat, wenn er müde wurde, und wandte sich vom Spiegel ab. Selbst der Anblick seines eigenen Gesichts weckte Erinnerungen in ihm. Erinnerungen, die er sorgsam zu vermeiden suchte.

Während er die Treppe hinaufging, überkam ihn ein Anflug von Angst. Wie sollte er es fertigbringen, das Schlafzimmer zu betreten, geschweige denn darin zu übernachten? Dasselbe Zimmer, das er sechs Jahre lang mit Emma geteilt hatte? Das Zimmer, in dem sie sich noch am Morgen ihres Todes geliebt hatten?

Die Tür war angewinkelt, als er die obere Etage erreichte. Bereits beim ersten Blick durch den Spalt gewann der Raum an Macht. Es schien ihm beinahe unmöglich, sie zu ertragen. Bleib stark! Du kannst dich nicht für immer verstecken. Du musst dich den Dingen stellen.

Mit schwachen Händen schob er die Tür auf. Das vertraute Bild von ockerfarbenen Vorhängen, die das breite Fenster umhüllten. Die kleine Stehlampe in der hinteren Ecke des Raumes, die Emma im ersten Jahr ihrer Ehe vom Flohmarkt mitgebracht hatte. Die Fotos auf der Kommode neben dem Kleiderschrank. Ihr Morgenmantel an einem Haken neben der Tür. Unfähig, sich weiteren Eindrücken auszusetzen, ließ er sich auf das Bett fallen. Woher sollte er die Kraft nehmen, hierzubleiben? Auch nur eine einzige Sekunde ohne sie?

Mühsam versuchte er, sich an die Zeit vor Emma zu erinnern. Sein Junggesellenleben und die Nächte, die er mit seinen Kumpels bis zum Morgengrauen am Billardtisch verbracht hatte. Ein Rauhbein hatte Marie ihn damals immer genannt. Einen unbelehrbaren Einzelgänger, dazu verdammt, eines Tages einsam zu sterben, wenn er nicht endlich lernen würde, sich auf andere Menschen einzulassen. „Irgendwo da draußen wartet sie auf dich, Simon“, hatte sie gesagt. „Die Eine, die sich der Mission stellen möchte, aus einem mürrischen Egoisten einen liebenswerten Kerl zu machen. Nur zwischen Rauchschwaden und betrunkenen Dummköpfen wirst du sie nicht finden.“ Erst nachdem er Emma kennengelernt hatte, verstand er, was Marie gemeint hatte.

Was war übrig geblieben von den Dingen, die ihn damals am Alleinsein gereizt hatten? Die Abende mit Freunden oder die Begeisterung für seine Arbeit, über der er manchmal stundenlang das Essen vergaß. Wo war er hin, der Reiz des Lebens, das er vor Emma geführt hatte?

Er spielte mit dem Gedanken, das Haus wieder zu verlassen. Besser heute als morgen. Diesmal für immer. Marie würde ihm sicher dabei helfen, es zu verkaufen. Er könnte zu ihr ziehen. Warum nicht? Sie selbst hatte gesagt, wie sehr er ihnen fehlen würde, besonders den Kindern. Timmy und Rhea wären selig, wenn er zurückkäme. Und die Arbeit als Übersetzer könnte er von überall aus erledigen. Ein Vorzug seines Berufes, der ihm nun endlich einmal zugutekäme.

Doch im selben Augenblick verwarf er die Idee wieder. So sehr ihn die Kinder auch ins Herz geschlossen hatten: Marie und Jan hatten ein eigenes Leben, eine eigene Familie. Sein Aufenthalt hatte sich ohnehin schon in unverzeihliche Länge gezogen. Wie konnte er erwarten, dass sie ihren Alltag, ihr Familienleben für ihn dauerhaft aus den gewohnten Bahnen reißen würden?

Er ließ den Kopf auf die Hände sinken und starrte durch die offene Tür auf den Dielenboden. Ein paar Staubflocken schienen im Licht, das durch die Jalousien des Dachfensters auf den Boden fiel, zu tanzen. In einem Haus, das nicht vertrauter und doch auch kaum befremdlicher sein könnte. Ein Haus, um das er sich nun allein kümmern musste.

Sein Blick wanderte auf den Nachtschrank neben dem Bett. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er auf Emmas Seite des Bettes saß. Ihr Nachtschrank. Der kleine Funkwecker, den in Ermangelung einer funktionierenden Batterie nur noch ein blankes Display schmückte. Das rote Lederetui für ihre Lesebrille. Daneben ein Buch mit leicht ausgefransten Ecken. Er erinnerte sich, dass sie am letzten Abend darin gelesen hatte. Das leichte Lächeln auf ihren Lippen, wenn sie mit dem Blick auf einer Seite verharrte und dieselben Zeilen immer und immer wieder las.

Intuitiv griff er danach. Das Glück im Augenwinkel. Er strich mit den Fingern über den Titel und öffnete das Buch auf der mit einem schmalen Lesezeichen versehenen Seite. Ein Schauer überkam ihn bei der Vorstellung, dieselben Worte zu lesen, die sie vor ihrem Tod gelesen hatte. Er versuchte sich vorzustellen, welche Emotionen sie bei ihr ausgelöst hatten, welche Gedanken ihr dabei durch den Kopf gegangen waren. Die Worte eines Buchs, das er nun selbst in den Händen hielt.

Der altvertraute Druck legte sich auf seine Brust. Sein Atem wurde schwer. Gleichzeitig fühlte er sich ihr allein durch die Berührung der Seite näher. Eine Nähe, die er aufgrund ihrer Unerträglichkeit immer wieder mied und der er doch in diesem Moment, diesem einen Moment der Rückkehr, nicht aus dem Weg gehen konnte.

Er nahm das Lesezeichen heraus. Seite 139. Unvermittelt begann er zu lesen:

Keine Stunde vergeht, im Grunde nicht mal eine Minute, in der ich nicht an dich denke. Man sagt, Gedanken an die Vergangenheit seien selbstzerstörerisch, vor allem dann, wenn man bestimmte Dinge nicht mehr ändern kann. Dennoch habe ich bis heute nicht gelernt, Abstand zu gewinnen. Wie kann ich von etwas Abstand gewinnen, das so tief in mir verankert ist? Wie könnte ich jemals Abstand von DIR gewinnen? Ich vermisse dich. Ich vermisse dich so sehr, dass ich manchmal das Gefühl habe, dass mir die Luft wegbleibt. Einfach so. Vielleicht wäre ich dann wieder bei dir, wenn ich einfach die Luft anhalte?

Er schlug das Buch zu, bevor er das Ende der Seite erreicht hatte. Wie konnte ein Text wie dieser Emma ein Lächeln abverlangt haben? Ein Text, dessen Bedeutung damals noch in so weiter Ferne lag? Worte, die seinen Gedanken heute so erschreckend ähnlich waren? Und was für eine Art von Roman trug Worte wie diese in sich?

Er presste das Buch gegen seine Brust und ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Sein Blick fixierte die Decke, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Warum Emma? Warum ausgerechnet Emma? Immer wieder schlichen sich die Gedanken an diesen einen Tag in sein Unterbewusstsein, den Tag, der sein ganzes Leben für immer verändern sollte. Nicht nur das Schicksal von Emma und somit auch seines, sondern das Schicksal von zwölf Menschen nahm an diesem bestimmten Datum eine grausame Wendung.

Es war der 13. September 2010.

*

„Ich habe mir Sorgen um Sie gemacht, mein Junge.“

Es gehörte zu ihrem ganz eigenen Charme, ihn zu siezen und im selben Atemzug ein „Mein Junge“ hinterherzuschieben. Eine Eigenart, die er während seiner Abwesenheit beinahe vergessen hatte und die ihn nun an das wenig verbliebene Schöne seiner alten Heimat erinnerte. Frau Jäger. Die gute Seele der Nachbarschaft.

Er schob eine Tasse zu ihr hinüber und setzte sich an den Küchentisch.

„Das hätte ich doch auch machen können.“

„Es ist nur eine Tasse Tee, Frau Jäger. Den bekomme ich schon noch alleine hin“, antwortete er. „Und überhaupt haben Sie schon mehr als genug getan.“

Sie musterte ihn mütterlich. „Nicht genug, mein Junge. Nicht genug.“

Ihr mitfühlender Blick ähnelte dem seiner Schwester. In ihren hellgrauen Augen erkannte er noch immer dieselbe Sorge, dasselbe wortlose Mitleiden, das sich ihm bei der ersten Begegnung nach dem tragischen Ereignis dargeboten hatte. Sie redete viel, ohne gewisse Dinge auszusprechen – ein Taktgefühl, das er bei vielen seiner Nachbarn in den schlimmen ersten Tagen vermisst hatte. Und einer der Gründe, warum er jede Hilfe von Frau Jäger ohne Zögern angenommen hatte.

„Ich komme zurecht, Frau Jäger. Wirklich. Außerdem wird es Zeit, dass ich mich wieder dem Alltag stelle. Und dazu gehört unter Umständen eben auch, eine Tasse Tee zu kochen.“

Er lächelte. Ein Lächeln, das sie nur zaghaft erwiderte, während sie ihre faltige Hand auf seine legte.

Er fragte sich, wie alt sie wohl war. Eine Frage, die er sich oft gestellt, aber anstandshalber nie ausgesprochen hatte. Mitte Sechzig? Bereits über Siebzig? Ihr Haar, im selben Grau wie ihre Augen, hatte sie zu einem engen Dutt gebunden. Über dem hellblauen knielangen Kleid, das ihre breiten Hüften umschloss, trug sie eine Strickjacke in undefinierbarer Farbe. Simon wusste, dass sie alleine lebte, aber zum ersten Mal seit seinem Einzug in die Kastanienallee und ihrer ersten Begegnung vor sechs Jahren fragte er sich, ob auch sie möglicherweise einen Verlust zu verschmerzen hatte. Vor Jahren vielleicht.

„Ich habe Lammbraten gemacht“, sagte sie. „Wenn Sie möchten, kann ich Ihnen zum Abendessen ein bisschen vorbeibringen.“

„Das ist wirklich sehr nett, aber …“

„Das Aber können Sie gleich wieder aus Ihrem Wortschatz streichen, mein Junge. Wenigstens essen müssen Sie richtig, wenn Sie schon nicht arbeiten.“

„Oh, ich arbeite“, widersprach er. „Auch schon in den letzten Monaten, als ich noch bei meiner Schwester gewohnt habe. Wozu gibt es das Internet, Telefon und die Post?“

„Das freut mich.“ Die Sorge in ihrem Blick wich Erleichterung. „Und wer gut arbeitet, muss auch gut essen.“

„Das ist aber wirklich nicht nötig.“

„Und ob es das ist“, antwortete sie, und ihr Tonfall machte unmissverständlich klar, dass sie keinen weiteren Widerspruch duldete.

Simon lehnte sich zurück und umschloss seine Tasse mit beiden Händen. Vielleicht war es doch keine schlechte Idee, sich ihrer charmanten Diktatur zu unterwerfen. Lammbraten zum Abendessen, die Übersetzung des neunten Kapitels von Clara Haiges und vielleicht ein Glas Whiskey vor dem Schlafengehen. Irgendwie würde ihm das mit der Ablenkung schon gelingen. Zumindest für heute.

*

Er fragte sich, ob die mangelnde Begeisterungsfähigkeit für das Manuskript vor ihm tatsächlich den Leistungen der Autorin oder seiner eigenen emotionslosen Verfassung zuzuschreiben war. Er erinnerte sich an die Übersetzung ihres letzten Werkes und den Tatendrang, mit dem er damals an die Arbeit gegangen war. Eine Euphorie, die ihm jetzt nur noch wie eine blasse Kopie seiner eigenen Persönlichkeit erschien.

Ohne Zweifel, es musste an ihm liegen. Clara Haiges war eine Könnerin. Eine Schande, dies auch nur in Frage zu stellen.

Die Buchstaben auf dem Bildschirm vor ihm verloren an Kontur, bevor er sich erneut disziplinieren konnte. Er schaute auf die Uhr. Kurz nach Mitternacht. Vielleicht war es an der Zeit, sich schlafen zu legen. Die zweite Nacht in seinem Bett. Und vielleicht die erste, in der er es wenigstens zu ein paar Stunden Schlaf bringen würde.

Rechts neben der Tastatur entdeckte er das Buch. Welch seltsame Idee, es mit ins Arbeitszimmer zu nehmen. Und doch ließ ihn der Drang nicht los, es bei sich zu tragen. Ihr Buch. Die letzten Worte, die sie gelesen hatte. Eine merkwürdige Nähe, erzeugt durch ein simples Buch von ihrem Nachtschrank. Eine Nähe, die schmerzte und doch an Bedeutung zu wachsen schien.

Er legte die Hand auf den Buchdeckel. Das Glück im Augenwinkel. Erneut fiel ihm der Buchtitel auf, der nicht so recht zu den verzweifelten Worten passen wollte, die er am Tag zuvor gelesen hatte.

Er schob die Hand zwischen die Seiten und schlug das Buch auf.

Ich bin gestern zum ersten Mal allein in den Park gegangen. Habe mich zum ersten Mal auf unsere Bank gesetzt. Es hat geregnet. Aber ich war dankbar für den Regen, denn außer mir war niemand dort. Nur ein flüchtig vorbeihetzender Mann im dunklen Mantel, der sich seine Aktentasche über den Kopf hielt. Ein ganz klein wenig hat er mich an dich erinnert und an deine ersten Jahre im Architekturbüro. Wie ehrgeizig du damals warst. So voller Energie. Und ich musste daran denken, wie wenig von dieser Energie am Schluss übrig geblieben war. Der ständige Stress und der Zeitdruck haben dich zermürbt und all deiner Illusionen beraubt. Heute frage ich mich, ob ich es hätte ändern können. Ob ich es hätte ändern müssen. Ich bin mir sogar sicher, dass es meine Pflicht gewesen wäre. Vielleicht wäre dann vieles anders gelaufen. Vielleicht wären die Wege andere gewesen. Aber letztendlich wären wir sie gemeinsam gegangen. Und vermutlich würden wir sie noch immer gemeinsam gehen.

Ich glaube, dass ich mir eine Erkältung im Regen geholt habe, aber es macht nichts. Im Buchladen interessiert es niemanden, ob ich heiser bin. Die meisten Leute reden eh mit Herrn Volkmann, während ich mich im hinteren Bereich dem Sortieren der Regale widme. Doch in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.

Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Waren die Worte gestern nicht noch ganz andere gewesen? Ähnlich in ihrer Tiefe. Ähnlich in ihrem Schmerz. Aber dennoch andere Worte? Farblose Kulisse für meine Gedanken. War nicht jede Tätigkeit in seinem neuen Leben ebenfalls Kulisse? Farblose Kulisse für immer wiederkehrende Gedanken?

Er schlug das Buch zu und drehte die Flasche neben sich auf. Ein kleines Glas Whiskey vor dem Schlafengehen, das vermutlich eine beruhigendere Wirkung haben würde als aufwühlende Lektüre dieser Art.

Und überhaupt, er sollte aufhören zu lesen.

*

Sie schob den Bleistift in den Anspitzer, drehte ihn einige Male und betrachtete die hölzernen Kringel, die in den Papierkorb neben ihrem Schreibtisch fielen. Nach all den Jahren hatte sie ihre Abneigung gegen Kugelschreiber noch immer nicht abgelegt. Sie mochte den weichen Druck des Bleistifts auf rauhem Papier, liebte es, wie die Worte aus silbergrauen Buchstaben die Seiten füllten.

Seit Patricks Tod hatte das Schreiben jedoch eine ganz andere Bedeutung angenommen. Kein harmloser Zeitvertreib, keine unschuldigen Kritzeleien. Vielmehr war es zu einer ganz eigenen Form der Trauer geworden. Ein verzweifelter Weg, das letzte bisschen Illusion seiner Anwesenheit am Leben zu erhalten. So absurd es auch war – und so bewusst sie sich diese Tatsache auch immer wieder machte –, für die wenigen Minuten, in denen sie die Briefe an ihn in das Tagebuch schrieb, hatte sie das Gefühl, dass er da war. Dass sie mit ihm sprach und er ihr zuhörte. So wie früher.

Sie strich mit den Fingern über die letzten Zeilen. Aber in Wahrheit ist jede Tätigkeit nur farblose Kulisse für meine Gedanken. Gedanken, die noch immer, nach all der Zeit, nur um dich kreisen.

Langsam schloss sie die Augen. Sie hatte im Laufe der letzten Monate das Weinen nahezu gänzlich verlernt. Ein Umstand, für den sie dankbar war. Tränen raubten ihr Kraft. Kraft, die sie brauchte, um der Welt oder zumindest dem, was für sie davon übrig geblieben war, die Stirn zu bieten.

*

Ihr Lächeln strahlt wie die Sonne, die sich ihren Weg durch die Äste des Kirschbaumes sucht. Ein paar goldglänzende Strähnen haben sich aus ihrem Zopf gelöst und umspielen ihre geröteten Wangen, während sie sich lächelnd auf die Decke fallen lässt. Grashalme, die an nackten Füßen kitzeln. Ein geöffneter Picknickkorb. Rotwein aus Plastikbechern. Er legt sich neben sie und streicht ihr eine Strähne aus dem Gesicht. Ein Kuss auf den Hals, der ohne Berührung stattzufinden scheint. Und immer wieder dasselbe Lächeln.

Plötzlich schieben sich Wolken vor die Sonne. Der Baum wirft einen scheinbar endlosen Schatten über die Decke. Ein kurzer Blick in den Himmel. Als er wieder zu ihr herabschauen, ihren Blick suchen will, ist sie verschwunden. Die Flasche Rotwein liegt ausgelaufen neben der Decke im Schlamm. Beißende Kälte. Und ein Sturm, der die Plastikbecher über den durchnässten Rasen wirft.

Er setzt sich aufrecht, als ein kleines Blatt Papier, durch den Wind getragen, an seinem Arm hängen bleibt. Mit zitternden Händen streicht er es glatt, um gleich darauf zu erkennen, dass es ein Kalenderblatt ist.

Der 13. September 2010.

Wie von einer Ohrfeige wachgerüttelt, riss er sich selbst aus dem Schlaf. Die Bettdecke lag neben ihm, das Laken zerwühlt zu seinen Füßen. Es war nicht das erste Mal, dass der Traum ihn heimsuchte, und dennoch schien er ihm intensiver, realistischer als all die Male zuvor. Ob es am Haus lag? Daran, dass er ihre Anwesenheit hier so viel deutlicher spürte?

Instinktiv griff er nach dem Handy auf dem Nachtschrank, um Marie anzurufen, und legte es im nächsten Moment wieder zur Seite. Fünf Uhr morgens. Ganz sicher schlief sie noch. Und wie konnte er von ihr erwarten, sich keine Sorgen um ihn zu machen, wenn er ihr immer wieder neuen Anlass dazu gab? Solange er denken konnte, war er stets der Unstrukturierte, der Konfuse von beiden gewesen, der egozentrische Einzelkämpfer, während Marie stets die Position der umsorgenden, vernünftigen und bodenständigen Schwester eingenommen hatte. Wie oft hatte sie in ihrer Jugend die Spuren seiner durchzechten Nächte verwischt, um ihm Ärger mit den Eltern zu ersparen. Wie viele Male hatte sie ihm die Leviten gelesen, wenn er sich wieder mal dagegen sträubte, dem Familienalltag beizuwohnen anstatt sich stundenlang im Zeichnen von Comics oder Schreiben von Kurzgeschichten zu verlieren. Seine Bekanntschaft mit Emma hatte seine Weltanschauung um 180 Grad gedreht, ihm die Augen für den Rest der Welt geöffnet, nur um dieselbe Welt mit ihrem Tod völlig aus den Fugen zu reißen. Ein Ereignis, das Marie über Nacht in die alte Position der überfürsorglichen Schwester zurückgeworfen hatte. Ein Umstand, den er, nach allem, was sie in den letzten Monaten für ihn getan hatte, nicht mehr ausnutzen wollte. Zumindest nicht um fünf Uhr morgens.

Er schob sich an der Bettlehne hoch und blieb für einen Moment regungslos sitzen. Er würde sich Tabletten besorgen. Gleich heute. In den ersten Wochen nach Emmas Tod hatte er Beruhigungsmittel verschrieben bekommen, die ihm lange Zeit treue Dienste erwiesen. Warum sollte er nicht erneut auf ihre Wirkung bauen?

Mit angewinkelten Knien verharrte er eine Weile in der Position, bis ihm das Buch auf dem Nachtschrank auffiel. Von einem unerklärlichen Drang getrieben, der Suche nach irgendeiner auch noch so befremdlichen Form von Nähe, griff er danach.

Die Tage werden kürzer, sagt man. Aber ich finde, dass sie, je weiter das Jahr voranschreitet, immer länger werden. Die Dunkelheit zieht sich in endloser Schleife dahin und ergreift immer mehr Besitz von mir. Manchmal habe ich das Gefühl, gar nicht mehr zu atmen. Dann kneife ich mir selbst in den Arm, um zu prüfen, ob ich noch einen Schmerz spüre. Anderen Schmerz. Schmerz, den man früher einmal als Schmerz definierte. Damals, als man noch nicht wusste, was wirklicher Schmerz eigentlich ist.

Ich habe unsere Bilder von den Wänden und Regalen genommen und sie in einer Kiste auf dem Dachboden verstaut, um sie gleich am nächsten Tag wieder herauszuholen. Wie konnte ich nur glauben, es mir damit leichter zu machen?

Zumindest die Arbeit im Buchladen lenkt mich ein wenig ab. Und ich bin dankbar dafür. All die Bücher, die Geschichten aus einer Welt, in der vieles noch so gut, so vollkommen, so unschuldig ist. Ich spiele sogar mit dem Gedanken, Herrn Volkmann anzubieten, täglich eine Stunde länger zu arbeiten. Für denselben Lohn. Zweifellos wird er mich für verrückt halten. Aber was kann mich das stören?

Er war sich sicher, dass es dieselbe Seite wie am Abend zuvor war. Und wieder schien der Inhalt ein vollkommen anderer zu sein. Er schaute auf die Seitenzahl. 139. Unvermittelt drängten sich ihm die Bilder des Traumes auf. Das Kalenderblatt, das der Wind zu ihm getrieben hatte. Der 13. September. Seite 139. Konnte das tatsächlich ein Zufall sein? Und was hatte es mit dem seltsamen Inhalt auf sich? Die Worte einer Frau, die ihm so vertraut erschienen und doch vollkommen fremd waren?

Er blätterte eine Seite zurück.

Rose schlug die Wagentür hinter sich zu und folgte ihm in schnellen Schritten zur Haustür.

„Bist du dir sicher, dass wir hier richtig sind?“

„Ganz sicher“, antwortete Adam. „Er hat die Adresse am Telefon zweimal wiederholt. Außerdem gehört ihm der Wagen, der in der Auffahrt steht.“

Sie drehte sich um und musterte das rote Cabriolet. Wie konnte sich ein mittelloser Künstler solch ein Auto leisten? Hatte Adam womöglich doch recht und sie waren auf einen skrupellosen Schwindler hereingefallen?

Als Simon das Ende der Seite erreichte und seinen Blick auf die nächste Seite wandern ließ, fiel ihm das abrupte Abbrechen der Geschichte auf. Wieder die verzweifelten Worte der Trauer. Die Frau aus dem Buchladen. Die Fremde, die scheinbar einen ebenso großen Verlust zu verzeichnen hatte wie er.

Hastig blätterte er weiter.

„Ein rotes Cabriolet?“, fragte sie ungläubig. „Woher hat er das Geld für so einen Wagen?“

„Das habe ich mich auch schon gefragt.“ Adam presste seinen Daumen gegen den Klingelknopf. „Und heute werden wir ihn endlich zur Rede stellen.“

Wieder die Geschichte vom zwielichtigen Künstler. Das rote Cabriolet. Und dieselben schmerzvollen Worte, als er zur Seite 139 zurückblätterte. Wie war das möglich? War er dabei, den Verstand zu verlieren? Es hatte lediglich zwei Gläser Whiskey getrunken. Und noch nicht einmal auf leeren Magen. Der Lammbraten hatte ihm sogar so gut geschmeckt, dass er sich einen Nachschlag gegönnt hatte.

*

„Ich verstehe nicht, was du mir damit sagen willst, Simon.“ Marie hängte ihren Mantel in einer Selbstverständlichkeit an die Garderobe, als hätte sie ihn erst vor wenigen Tagen in diesem Haus besucht.

„Was ich dir damit sagen will?“ Er schlug das Buch erneut auf. „Ich will dir sagen, dass das Buch, das Emma vor ihrem Tod gelesen hat, kein gewöhnliches Buch ist. Dass es seinen Inhalt ändert. Und zwar täglich.“

Sie nahm es aus seiner Hand, um es an der markierten Seite zu öffnen. Für einen kurzen Moment las sie.

„Traurig“, sagte sie schließlich und schlug es wieder zu. „Zu traurig, wenn du mich fragst. Und nicht unbedingt die geeignete Lektüre, um sich abzulenken. Du solltest lieber einen Krimi lesen. Oder mal wieder ins Kino gehen.“

Sie legte das Buch auf die Kommode und griff nach dem Korb zu ihren Füßen. „Außerdem bin ich nicht hier, um mich mit dir über Bücher zu unterhalten, sondern um zu schauen, was mein kleiner Bruder so treibt.“

„Ich arbeite, Marie. Und ich esse. Manchmal schlafe ich sogar.“ Er folgte ihr in die Küche.

„Wie kommst du mit deinem aktuellen Projekt voran? Ist es immer noch so langweilig?“ Nach und nach packte sie Konservendosen aus dem Korb, eine Flasche Sirup, ein paar Äpfel.

„Du musst mich nicht mit Lebensmitteln versorgen. Der Supermarkt ist gleich um die Ecke. Bist du etwa deshalb zwei Stunden hergefahren?“

„Ich wollte dich sehen, Simon.“ Sie ließ sich auf einen der Stühle fallen. „Die Lebensmittel sind lediglich ein Mitbringsel für den Fall, dass du noch nicht zum Einkaufen gekommen bist.“

Er nahm einen der Äpfel und lehnte sich an den Kühlschrank. „Ich meine es ernst, Marie. Mit diesem Buch stimmt etwas nicht. Diese Frau –,“ er suchte nach Worten, „diese Frau scheint meinen Schmerz zu kennen, dasselbe durchzumachen wie ich. Wer auch immer sie ist.“

Ihr Blick verlor nicht an Skepsis, dennoch schien sie bemüht, seine Eindrücke nicht sofort vom Tisch zu wischen. „Vielleicht schildert die Autorin einfach nur persönliche Erlebnisse. Oder die Geschichte handelt ganz einfach davon. Solche Bücher gibt es nun mal. Und manchen Menschen helfen sie ja vielleicht auch.“

„Das ist es ja gerade. Die Geschichte handelt von etwas völlig anderem. Es geht um einen Mann und eine Frau, die auf der Suche nach einem skrupellosen Betrüger sind, um ihrer eigenen Vergangenheit auf die Schliche zu kommen. Ich habe im Klappentext nachgelesen, und auch die restlichen Seiten deuten darauf hin.“

„Die restlichen Seiten?“

„Alle Seiten außer der Seite 139.“

Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu, den sie fragend erwiderte.

„Verstehst du nicht, Marie? Seite 139. Der 13.9. Der Tag, an dem ...“

„Findest du nicht, dass du da etwas zu viel hineininterpretierst?“ Sie schob den Korb zur Seite.

„Hineininterpretierst? Marie, ich bin doch nicht verrückt. Ich weiß, was ich gesehen habe. Es ist der dritte Tag und der dritte Eintrag. Jedes Mal ein anderer. Und ich bin mir sicher, wenn ich morgen hineinschaue ...“

„Morgen wirst du aber nicht wieder hineinschauen“, fiel sie ihm ins Wort. „Morgen wirst du dich wieder voll und ganz auf deine Arbeit konzentrieren. Vielleicht ein Spaziergang im Park. Oder du nimmst eine der netten Einladungen von Frau Jäger zum Kaffee an.“

„Der Park. Genau darüber hat sie auch geschrieben. Von einem Park, in dem sie früher mit ihm gemeinsam war und den sie jetzt nur noch allein besuchen kann. Als ich heute früh nachlesen wollte, konnte ich aber nichts mehr darüber finden. Die Worte waren wie ausgelöscht – und durch neue ersetzt worden.“

„Das ist doch albern.“

Er legte den Apfel zurück auf den Tisch und nahm auf dem Stuhl neben ihr Platz.

„Ich weiß doch selbst, dass es albern ist. Und wenn es irgendein Buch wäre, könnte ich es vielleicht ignorieren.“ Zögernd griff er nach ihrer Hand. „Aber es ist ihr Buch, Marie. Das letzte Buch, das sie vor ihrem Tod gelesen hat.“

Noch während er auf eine Antwort von ihr wartete, wurde ihm die eigene Beharrlichkeit bewusst, mit der er sie zu überzeugen versuchte. Das Fehlen jeder für ihn sonst so typischen Skepsis. Die Priorität, die die Aufgabe innerhalb weniger Stunden eingenommen hatte, einem noch unbekannten Ziel zu folgen. Ein Ziel, das er noch nicht einordnen konnte und das ihn doch auf eine merkwürdige Art fesselte.

„Seite 139, sagst du?“

„Ja.“ Er umfasste ihre Hand ein wenig fester. „Seite 139.“

DAS GLÜCK IM AUGENWINKEL

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