Читать книгу Das Haus der Luftblumen - Nancy Salchow - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеDie Tatsache, dass das Ferienhaus als Inbegriff von Ruhe und Abgeschiedenheit eine Türklingel besaß, erschütterte meine Illusion des Einsiedlerdaseins bereits um neun Uhr morgens.
Wer um Himmels willen trieb sich um diese Uhrzeit schon vor meiner Tür herum? Wer wusste überhaupt, dass ich hier war?
Nach einem flüchtigen Blick in den Spiegel, der nichts Gutes verhieß, zurrte ich den Gürtel meines Bademantels zusammen und öffnete die Tür.
„Tiiiina! Ich glaub's nicht, du bist es wirklich!“
Es dauerte einige Momente, bis ich dem Gesicht und der schrillen Stimme einen Namen zugeordnet hatte. Vor mir stand Celine, eine ehemalige Mitschülerin, die ich über vierzehn Jahre nicht gesehen hatte.
„Celine“, murmelte ich irritiert, während sie mir in der Euphorie ihrer Umarmung beinahe die Luft abschnürte. „Woher weißt du, dass ich hier bin?“
„Na hör mal, du kannst doch nicht einfach in deiner alten Heimat auftauchen, ohne dass es jemand mitbekommt.“
Fragend schaute ich sie an.
„Um ehrlich zu sein, weiß ich es von meiner Schwiegermutter.“
„Deiner Schwiegermutter?“
„Ja, seit mittlerweile zwei Jahren.“ Triumphierend hielt sie mir ihren Finger samt protzigem Ehering unter die Nase. „Du erinnerst dich doch sicher noch an Udo Lessing, den großen blonden Handballer, der zwei Klassen über uns war?“
„Kann sein.“ Die Wahrheit war, dass ich keine Lust hatte, darüber nachzudenken.
„Und seinen Eltern gehören mehrere Ferienhäuser in dieser Gegend.“
„Tatsächlich.“ Plötzlich fiel es mir wieder ein. Mit einer Frau Lessing hatte ich am Telefon die Details zu meiner Anreise besprochen. Sie war es auch, die mir am Vortag den Schlüssel übergeben hatte.
„Und da deine Mutter eine Freundin meiner Schwiegermutter ist ...“ Sie lachte. „Lange Rede, kurzer Sinn: Ich wollte einfach mal vorbeischauen und mich selbst davon überzeugen, dass sich die gute alte Tina endlich mal wieder bei uns blicken lässt.“
Meine Mutter und ihre Redseligkeit. Das war wieder mal typisch.
„Ich freue mich wirklich, dich zu sehen“, sagte ich, „aber die Wahrheit ist, dass ich nicht für einen Kurzurlaub hier bin, sondern in erster Linie zum Arbeiten.“ Ich versuchte, einen beschäftigten Eindruck zu erwecken, was die Tatsache, dass ich einen Bademantel trug, nicht gerade erleichterte.
„Arbeit hin oder her, für einen kurzen Kaffee wirst du doch wohl Zeit haben, oder?“
„Na ja, ich ...“
„Ich kenne mich hier aus“, fiel sie mir freudestrahlend ins Wort und lief an mir vorbei ins Haus. „Hin und wieder gönnen Udo und ich uns hier ein paar romantische Tage, wenn das Haus nicht belegt ist.“
Ein paar romantische Tage? In einem Dorf, in dem sie ohnehin wohnten?
„Der Kaffee steht in dem Regal über der Spüle, stimmt's?“
„Um ehrlich zu sein, habe ich noch gar keinen getrunken, seitdem ich hier bin“, antwortete ich, während ich ihr zögernd in die Küche folgte.
Celine, die inzwischen die Dose mit dem Kaffee gefunden hatte und gerade dabei war, die Maschine mit Wasser zu befüllen, schien in ihrem Eifer nicht zu bremsen zu sein. „Es ist so toll, dass wir uns nach all den Jahren endlich wiedersehen.“
„Ja“, antwortete ich einsilbig.
Ich ließ mich auf einen der Stühle fallen und versuchte, mich zu erinnern. Was genau ließ sie bloß annehmen, dass wir Freunde waren? Ich wusste noch, dass sie mir auf einer Klassenfahrt mal ihren Lippenstift geliehen hatte, weil einer der Jungs meinen ins Klo geworfen hatte. Darüber hinaus war sie in meiner Erinnerung jedoch nichts weiter als ein oberflächliches Mädchen aus der hintersten Reihe, das sich mit ihren Freundinnen über die Jeansmarke der Deutschlehrerin amüsierte.
„Erzähl schon“, begann sie schließlich, als sich die Maschine endlich röchelnd der Herstellung von Kaffee hingab, „Was hast du die ganze Zeit über so getrieben? Deine Mutter erzählte was von Schreiberei?“
„Schreiberei“, wiederholte ich mit gezwungenem Lächeln. „Das trifft es vermutlich irgendwie. Um genau zu sein, schreibe ich Songtexte für professionelle Musiker.“
„Texte. Wie schön. Also, ich habe ja neulich erst die Silberhochzeitszeitung für meine Eltern gemacht. Das war vielleicht eine Arbeit, sag ich dir.“ Sie öffnete die Schublade der Küchenvitrine und zog einen Aschenbecher heraus. „Anekdoten aus der Vergangenheit zusammentragen, Verse aus dem Internet an ihre Persönlichkeiten anpassen. Stressig, stressig. Das überlasse ich bei künftigen Feierlichkeiten lieber anderen Familienmitgliedern.“
Ich nickte wortlos, während ich missmutig die glühende Zigarette in ihrer Hand wahrnahm.
„Und womit verdienst du dein Geld?“, fragte sie.
„Wie gesagt, ich schreibe Songtexte.“
„Und davon kannst du leben?“
„Na ja, natürlich hat es eine Zeitlang gedauert, bis es sich auch finanziell auszahlte. Man muss sich erst einen Namen machen.“
„Du sagst es. Einen Namen braucht man heutzutage bei fast allem. Mein Udo zum Beispiel, der ist mit seiner Dachdeckerfirma mittlerweile so gut im Geschäft, dass ich meinen Job in der Strandboutique vor zwei Jahren aufgeben konnte.“
„Das freut mich.“
„Ja, ich habe schon einen guten Fang gemacht mit ihm.“ Lachend warf sie den Kopf in den Nacken. „Wobei man wohl eher sagen kann, dass er mich gefangen hat. Der hat mir vielleicht Avancen gemacht, das kannst du dir nicht vorstellen. Anrufe, Blumen. Monatelang.“
Ungeduldig beobachtete ich die nur langsam kürzer werdende Zigarette in ihrer Hand. Ob Udo sie gerne reden hörte?
Ich war kein Morgenmensch. Die Tatsache, dass es erst neun war, erschwerte das kurzfristige Schmieden eines Plans, der sie elegant und schnell aus meiner Vier-Wochen-Idylle befördern würde.
Gerade als sie zu einer weiteren Anekdote ansetzen wollte, fiel ich ihr ins Wort. „Es tut mir wirklich sehr leid, Celine, aber mir ist eben eingefallen, dass ich noch einen Termin habe.“
„Tatsächlich?“
„Ja, eigentlich hätte mich die Kalenderfunktion meines Handys daran erinnern sollen, aber es ist neu und ich habe wohl irgendetwas beim Erstellen des Memos falsch gemacht.“
„Ach, hör mir auf mit Handys. Erst letzten Monat haben Udo und ich uns nach neuen umgesehen. Es sollten Partnermodelle sein. Also, meins in Pink, seins in Dunkelblau, und was meinst du, was die für Farben zur Auswahl hatten? Weiß und schwarz. Ist das nicht einfältig?“
Das Wort einfältig aus ihrem Mund zu hören barg eine gewisse Ironie in sich.
„Ja, das ist wirklich ärgerlich.“ Ich erhob mich vom Stuhl. „Ich würde ja gerne noch weiter mit dir plaudern, Celine, aber der Termin ist sehr wichtig und wenn ich mich jetzt nicht umziehe ...“
„Das verstehe ich natürlich.“ Endlich stand sie auf. „Aber wir müssen unsere Unterhaltung unbedingt fortsetzen, hörst du?“
Ich biss mir auf die Lippe.
„Im Oberdorf gibt es morgen einen kleinen Flohmarkt, den meine Schwiegereltern jeden Monat ausrichten. Bücher, Kinderspielzeug, Haushaltsartikel. Ich werde auch dort sein und einen Schuhstand organisieren.“
„Schuhe“, wiederholte ich abwesend.
„Wir sind von neun bis sechs Uhr abends da.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob ich es schaffen werde.“ Die Tatsache, dass sie ein Dorf, das so klein war wie dieses, in ein Unter- und Oberdorf einteilte, hätte mich unter anderen Umständen zum Lachen gebracht.
„Du musst es auf jeden Fall versuchen“, antwortete sie und presste die Lippen wie ein beleidigtes Kind aufeinander.
„Versuchen werde ich es sicher, aber jetzt muss ich mich wirklich beeilen. Mein Termin wartet, und ich weiß noch nicht mal, was ich anziehen soll.“
„Wenn du willst, kann ich dir beim Aussuchen helfen.“
Beim Aussuchen helfen? Hatte diese Frau eine Wahrnehmungsstörung? War ihr denn nicht klar, dass wir uns seit vierzehn Jahren nicht gesehen hatten? Dass uns weder damals noch heute auch nur der Ansatz einer Freundschaft miteinander verband?
„Das ist nett gemeint“, antwortete ich, während ich sie zur Tür begleitete, „aber ich werde schon etwas Passendes finden. Ich suche meine Klamotten immer erst kurz vorher heraus.“
„Wenn du meinst.“
„Ich schaffe das schon, keine Sorge.“
„Na, dann viel Spaß bei deinem Termin.“
„Mach's gut, Celine“, rief ich ihr von der Schwelle aus nach.
„Mach's guhuuut“, sang sie regelrecht.
Reflexartig ließ ich die Tür ins Schloss fallen und lehnte mich mit dem Rücken dagegen. Mit jedem Atemzug, den ich wie nach einem Dauerlauf von mir gab, wurde ich wütender auf meine Mutter. Warum war sie nur auf die Idee gekommen, meinen Aufenthalt preiszugeben? Und wie war ich darauf gekommen, ihn ihr zu verraten? Ihre Redseligkeit war schließlich nicht neu und ich nicht erst seit gestern ihre Tochter!
Wie erstarrt verharrte ich eine Weile in dieser Position. Und wieder war es der eigentliche Grund meines Aufenthaltes, der sich in meine Gedanken schob. Das Album. Die Texte. Und die immer wiederkehrende Frage nach der Kraft, die ich dafür aufbringen musste.
Das Telefonat vom gestrigen Abend lag mir noch immer im Magen. Wie viel Zeit hatte ich bisher mit meinen Gedanken an Piet verschwendet? Bereits zwei Versuche, eine Beziehung mit einem anderen Mann einzugehen, waren an meiner Angewohnheit gescheitert, jeden mit Piet zu vergleichen. Wollte ich mir nun auch noch meine einzige Leidenschaft von meinen eigenen Emotionen kaputtmachen lassen? Viel zu hart hatte ich dafür gekämpft, mir einen Namen in der Branche zu machen. Und ich liebte, was ich tat. Trotz oder gerade wegen der Dinge, die geschehen waren.
Meine Gedanken wanderten zum Kleiderschrank. Nein. Umziehen konnte ich mich auch später noch. Der Laptop, der auf dem Sessel im Wohnzimmer lag, schien wesentlich verlockender. So gesehen hatte ich Celine noch nicht mal belogen. Ich hatte einen Termin, auch wenn ich diesen im Bademantel wahrnehmen konnte.
Ich setzte mich aufs Sofa, zog den Laptop auf meine Knie und schaltete ihn ein. Wie gewohnt öffnete ich zuerst das Textprogramm, um den aktuellen Stand meiner Arbeit zu prüfen.
Ich hab zu lange gefehlt
In deinen Zukunftsskizzen
Viel zu lange gewartet
Auf einen Platz im Sitzen
Nur ein Stehplatz am Fenster
In stickigen Massen
Um am Ende mich selbst
Auf der Strecke zu lassen
Es tut mir leid, Mella. Ich war ein gefühlskaltes Arschloch. Was auch immer geschehen ist, rechtfertigt nicht die Art und Weise, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe.
Erst jetzt fiel es mir wieder ein. Die seltsamen Zeilen. Der Name Mella. Was zum Teufel war in mich gefahren, als ich diesen Text geschrieben hatte? Woher kamen diese Worte, die so gar nichts mit einem Songtext zu tun hatten?
Vielleicht war ich wirklich urlaubsreif.
Ich löschte die Worte, bis nur noch die ersten beiden Reime standen, und las den Text erneut.
Gar nicht mal schlecht für den Anfang. Ein Lächeln schlich sich auf meine Lippen. Ja, dieses Thema passte zur Stimmung des Songs. Was auch immer mir durch den Kopf gegangen war, als ich die Zeilen geschrieben hatte, sie waren wie gemacht für die Melancholie, die die Melodie des ersten Tracks ausstrahlte.
Ich öffnete die Audiodatei des Songs und konzentrierte mich auf die Akkorde. Piet hatte es sich angewöhnt, die Gesangslinie mit einem summenden Da-da-da festzulegen. Diese Vorgehensweise sollte es mir erleichtern, die Anzahl meiner Worte und Silben der Melodie anzupassen. Meistens hatte es jedoch zur Folge, dass sich meine Aufmerksamkeit mehr auf seine Stimme richtete als auf die Suche nach einem potenziellen Thema für den Song. Umso dankbarer war ich, dass die Zeilen dieses Textes scheinbar wie von selbst entstanden, denn noch bevor ich den Anfang ein weiteres Mal lesen konnte, fügten sich bereits die nächsten Worte hinzu – ohne lange darüber nachzudenken, ohne nach ihnen suchen zu müssen.
Du warst zu lange hier
Um nun zurückzubleiben
Viel zu lange in mir
Um dich jetzt kleinzuschreiben
Doch jeder Satz mit deinem Namen
Wirft mich weiter zurück
Und nimmt mit jedem Wort
Von meinem Plan ein Stück
Zufrieden betrachtete ich die Zeilen. Ich konnte mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal gleich zwei Strophen in so kurzer Zeit verfasst hatte. Vielleicht tat mir der Abstand von meiner üblichen Umgebung tatsächlich gut? Vielleicht waren meine Gedanken an Piet für die Stimmung, die ich zum Schreiben benötigte, sogar eher förderlich als störend?
Ich drückte auf den Repeat-Button. Leise summte ich die Melodie mit, um ihr gedanklich meine bereits verfassten Zeilen hinzuzufügen. Beim noch textlosen Refrain machte ich Halt. Einen stimmigen Songmittelpunkt zu finden war noch immer das Schwerste an meiner Arbeit. In der Regel benutzte ich für den Refrain kurze und einprägsame Halbsätze. Diesmal war ich in meinen Möglichkeiten sogar flexibler als sonst, da Piet bis auf die Tonlage keine Einschränkungen vorgab. Es musste eingängig sein, gleichzeitig aber auch zur Grundstimmung des Songs passen.
Das Wort Lebenszeichen kam mir plötzlich in den Sinn, um sich nach und nach mit anderen Worten zu verbinden. Instinktiv schrieb ich die Zeilen unter die Strophen.
Drei Wochen ohne ein Lebenszeichen von dir. Ich halte das nicht aus. Bitte melde dich, Mella.