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Kapitel 1
ОглавлениеFünfzig Jahre später
Sie wollte ihn töten. Ja, sie verspürte den wahrhaftigen Drang, hinaus zu gehen und ihm das Genick zu brechen. Jeden Morgen dasselbe Theater! Dieser grausame Lärm, der auf ihre Nerven einhackte, weckte Aggressionen in Jill.
Sie zog sich die Decke über den Kopf und schrie aus voller Kehle in ihr Kissen. Es tat gut, seinem Ärger Luft zu machen. Sie musste sich wieder beruhigen, ansonsten würde der Hahn des Nachbarn keinen weiteren Sonnenaufgang erleben.
Es half nichts. An Schlaf war nicht mehr zu denken, egal wie fest Jill sich die Decken auf die Ohren presste. Wie konnten nur all die anderen Nachbarn dieses Kikeriki ignorieren? Das Biest würde alsbald jedenfalls nicht aufgeben, Jill in den Wahnsinn zu treiben, deshalb setzte sie sich schlaftrunken im Bett auf. Draußen war es noch fast dunkel. Sie hatte sicherlich nicht mehr als drei Stunden geschlafen. Sie verfluchte sich dafür, die halbe Nacht durch die Wohnviertel geschlichen zu sein, nur um sich den Inhalt halb geleerter Bierflaschen einzuverleiben, die die feiernde Bevölkerung an einem Freitagabend achtlos weggeworfen hatte.
Ihr Kopf schmerzte. Jill strich sich die zotteligen Haare aus dem Gesicht, stieß einen missmutigen Seufzer aus und schlug die Decke beiseite. Dann stand sie auf, schlüpfte in ihre zerschlissenen Pantoffeln und taumelte zur Tür. Sie trat auf den Flur hinaus und lauschte. Aus dem Nebenzimmer drangen keine Laute, ihre Schwester schlief noch tief und fest. Unten aus der Stube hörte Jill das laute Schnarchen ihres Vaters. Vermutlich war er wieder betrunken zu Bett gegangen.
Es war kalt im Haus. Dana musste vergessen haben, am Abend den Kachelofen neu zu bestücken. Wenn ihr Vater erwachte, würde es ein Donnerwetter geben.
Jill zog sich ihr Nachthemd enger um die Schultern und stieg die knarrende Treppe hinunter in die Küche. Sie entzündete eine Petroleumlampe und schlüpfte in ihre Kleidung, die sie in der Nacht über eine Stuhllehne gehängt hatte. Sie wusste, dass sie sich eigentlich hätte waschen müssen, aber Jill verspürte nicht den Drang, das Haus zu verlassen und den ganzen Weg bis zur Wasserpumpe zu gehen. Sie entwirrte notdürftig ihre Haare mit den Fingern und rieb sich das Gesicht. Ihr Blick fiel auf den Herd und die alte Teekanne, die darauf stand. Sie hätte jetzt ein warmes Getränk vertragen können, doch dazu hätte sie Feuer machen müssen. Die Faulheit siegte schließlich. Jill nahm den Teekessel vom Herd. Es war noch Wasser darin. Sie goss sich etwas davon in eine Tasse und trank. Das Wasser schmeckte widerlich abgestanden. Dann setzte sie sich auf den Küchenstuhl, stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und stützte ihren Kopf mit den Händen. Bald würde ihre Schwester aufstehen und frisches Wasser holen, so lange würde sie noch warten müssen. Wahrscheinlich müsste Jill sich dann wieder das Genörgel anhören, weshalb sie denn bloß so faul sei. Nebenan schnarchte der Vater noch immer.
Jill wusste nicht genau, ob sie eingenickt war, aber als sie hochschreckte, ging draußen bereits die Sonne auf. Sie stieß mit dem Arm versehentlich ihre halb geleerte Tasse vom Tisch, die daraufhin über den Dielenboden polterte und gegen den Metallfuß des Herdes stieß. Das Geräusch durchschnitt die Stille wie ein Peitschenhieb. Nur Augenblicke später vernahm Jill das verärgerte Knurren ihres Vaters aus der angrenzenden Stube. Sie hörte das Knarren des Sofas, dann schlurfende Schritte.
»Jill!« Seine Stimme war tief und laut. Er betrat die Küche, sein Hemd war zerknittert, die Schuhe hatte er scheinbar auch nicht ausgezogen, bevor er eingeschlafen war. Schon aus der Distanz roch Jill den Schnaps in seinem Atem.
»Jill, was soll das? Hast du nicht alle Tassen im Schrank?«
Jill blieb vollkommen ungerührt. »Nein, im Schrank ist die Tasse tatsächlich nicht mehr. Sie liegt unter dem Herd.«
»Wenn du wieder frech wirst, dann kannst du was erleben.« Ihr Vater machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu und hob die Hand, als wolle er sie schlagen. Dann schwankte er jedoch zur Seite und stützte sich gegen den Türrahmen. Jill gab sich unbeeindruckt. Sie kannte die Ausbrüche ihres Vaters nur allzu gut, vor allem, wenn er getrunken hatte.
»Du nichtsnutziges Ding, wie spät ist es?« Seine Worte und Reaktionen waren die eines Säufers, unlogisch und unberechenbar. Jills Blick glitt hinüber zu der Pendeluhr, die über der Kommode in der Küche hing. Sie hatte nie gelernt, eine Uhr zu lesen, doch sie wusste, dass die Position der Zeiger bedeutete, dass es noch furchtbar früh war.
»Entweder machst du dich bald nützlich, oder du fliegst aus meinem Haus!«
»Ohne mich könntest du deinen Suff gar nicht finanzieren, Brad.« Jill verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich im Stuhl zurück. Wenn sie sich mit ihrem Vater stritt, sprach sie ihn grundsätzlich mit seinem Vornamen an. Die Bezeichnung Vater hatte er auch eigentlich gar nicht verdient.
»Ich biete dir ein Dach über dem Kopf.«
Jill machte eine abwertende Handbewegung. »Ich streite nicht mit dir, wenn du betrunken bist.« Sie schob geräuschvoll den Stuhl zurück und stand auf. In diesem Moment hörte sie Schritte auf der Treppe. Nur wenig später erschien ihre Schwester Dana hinter ihrem Vater in der Küchentür.
»Warum müsst ihr euch schon am frühen Morgen anschreien?« Ihre Stimme klang flehend, beinahe weinerlich. Danas Füße waren nackt, die dunkelbraunen Locken unter einer Schlafhaube verborgen.
»Weil deine dumme Schwester sich die halbe Nacht herumtreibt anstatt für ihre Familie zu sorgen«, lallte Brad. »Und kalt ist es hier auch. Kannst du nicht wenigstens das Feuer im Ofen anfachen?«
Jill sog geräuschvoll die Luft ein. »Wessen Aufgabe ist es denn in anderen Familien, das Geld heran zu schaffen? Die der Kinder? Denk mal genau nach, Brad.«
Seine Augen verengten sich. »Ihr seid beide alt genug, um einen Mann zu finden, der sich um unser Haus und den Hof kümmert. Ein alter Mann sollte nicht schuften müssen, bis er in den Sarg steigt.«
Jill verbrannte ihren Vater mit einem bitterbösen Blick. »Alt. Brad, du bist noch nicht alt. Du könntest durchaus arbeiten, wenn du doch nur nicht so viel trinken würdest.« Jill wandte sich um und griff nach der Türklinke der Wohnungstür.
»Möchtest du nicht frühstücken?«, fragte Dana. Es war bewundernswert, wie sehr sich ihre ältere Schwester darum bemühte, die Familie seit dem Tod ihrer Mutter zusammen zu halten. Für Jill gab es da nichts mehr zu kitten. Mehr als eine Zweckgemeinschaft waren sie nicht.
»Ich besorge mir selbst etwas zu essen.« Jill öffnete die Tür zum Hof. Kühle Morgenluft schlug ihr entgegen. Sie hörte, wie jemand hinter ihr in der Blechdose kramte, die immer auf der Kommode in der Küche stand. Dann prallte etwas kleines Hartes gegen ihren Hinterkopf. Sie fuhr herum und bückte sich danach. Es war ein Schilling.
»Geh und bring Milch mit, wenn du wiederkommst. Und wehe du gibst das Geld für etwas anderes aus«, knurrte ihr Vater.
Jill hob das Geldstück auf und steckte es in ihre ausgebeulte Hosentasche. Dann zerrte sie die Milchkanne aus dem kleinen Schuppen hinter dem Haus hervor, öffnete das quietschende Tor zum Grundstück und trat auf die Straße hinaus.
Hier am Stadtrand bewegten sich kaum Menschen auf den Straßen, die meisten waren mit der Bewirtschaftung ihrer Felder und der Versorgung des Viehs beschäftigt. Das Grundstück von Jills Familie verfiel seit Jahren, und Vieh besaßen sie schon lange keines mehr. Die Nachbarn mieden die Familie Tevell, und Jill konnte es ihnen nicht einmal verübeln. Sie mochte diese Gegend nicht, sondern bevorzugte das geschäftige Treiben in der Innenstadt. Dort konnte sie weitgehend anonym untertauchen, dort gab es kein Gerede. Und dort konnte sie am ehesten dem nachgehen, was sie am besten konnte: stehlen. Sie war nicht stolz darauf, aber sie hatte durchaus Talent. Außerdem liebte sie die hohen Häuser, die Geschäfte, die bunten Plakate und die vornehm gekleideten Menschen, die sich in der Stadt tummelten. Manchmal bekam sie sogar eines der neuartigen Automobile zu sehen.
Jill betrat den breiten Bürgersteig der großen Hauptstraße, die Milchkanne baumelte an ihrem Handgelenk. Der Morgen war kühl und der Wind pfiff um die Häuserecken. Es war ein Tag im Spätsommer, trotzdem schaffte es die Sonne nicht, die Luft unter der dicken grauen Dunstschicht aufzuwärmen. Vielleicht würde es ein schöner Tag werden, wenn sich der Nebel gelichtet hatte.
Die ersten Kaufmänner begannen damit, die Schilder und Warenständer vor ihre Geschäfte zu zerren. Der Blumenhändler, der gerade damit beschäftigt war, die Eimer mit den Margeriten neben dem Eingang seines Ladens aufzustellen, warf Jill einen grimmigen Blick zu. Jill überlegte, ob er einen Grund hatte, sie so missmutig anzusehen. Hatte sie ihn kürzlich bestohlen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Vielleicht war er einfach schlecht gelaunt, oder ihm missfiel Jills sonderbares Auftreten. In ihren Herrenhosen und dem groben Leinenhemd wirkte sie nicht sehr damenhaft, aber das war Jill egal.
Ein helles bing bing riss Jill aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf. Eine Straßenbahn ratterte um die Ecke. Hier in der Innenstadt gab es schon elektrische Bahnen, weiter draußen zogen Pferde die Waggons. Jill sah dem leuchtend grünen Gefährt sehnsuchtsvoll hinterher. Gerne wäre sie einmal mit der Bahn gefahren, aber sie wollte das Geld für ein Ticket nicht achtlos vergeuden. Sicherlich hätte ihr eine solche Fahrt viele Wege erleichtert, doch sie war jung und gut zu Fuß. Kaum jemand konnte so schnell laufen wie sie, nicht einmal die halbwüchsigen Jungen aus ihrer Nachbarschaft.
Nachdem Jill ihren Einkauf beendet hatte, wäre sie gerne noch ein wenig länger in der Stadt geblieben und durch den Park geschlendert, aber sie wusste, dass der Vater zuhause ungeduldig auf seine Milch wartete, deshalb trat sie den Rückweg unverzüglich an. Der Griff der schweren Kanne schnitt ihr in die Handflächen.
Gedankenverloren schlenderte sie die lange Hauptstraße zurück nach Garnick, dem Viertel der Bauern und einfachen Bürger, als sie plötzlich jemand von hinten gegen die Schulter stieß. Jill stolperte und hatte alle Mühe, keine Milch zu verschütten.
»Pass doch auf!«, fuhr Jill den Rüpel an, noch bevor sie sein Gesicht gesehen hatte. Ein hagerer junger Mann stand hinter ihr, die Fäuste in die Luft gereckt, im Gesicht ein boshaftes Grinsen. Seine Haare waren kupferrot, die Ohren standen ihm vom Kopf ab. Jill hätte dieses Gesicht überall wiedererkannt.
»Was willst du, Ricky?« Sie sah ihm herausfordernd in die Augen. Er überragte sie um eine ganze Kopflänge, doch Jill fürchtete sich nicht vor ihm.
»Du schuldest mir noch etwas«, sagte er.
»Tatsächlich? Was soll ich dir denn schulden? Einen Schlag auf die Nase?«
Ricky kam einen Schritt auf sie zu. Die ersten Passanten reckten die Köpfe nach den beiden, gingen jedoch ihres Weges.
»Geld. Für Zigaretten.« Ricky verschränkte die Arme vor der Brust und klopfte mit der rechten Fußspitze ungeduldig auf den Boden.
»Zigaretten?« Jills Stimme kippte. Immer, wenn sie sich aufregte, klang ihre Stimme schrill. »Die Zigaretten waren ein Geschenk. Von Geld war nie die Rede.«
»Seit wann schenke ich dir etwas? Da du mir nicht deine Brüste dafür zeigen wolltest, muss ich eben Geld verlangen.« Er grinste und offenbarte seine schiefen Hasenzähne.
»Du spinnst wohl. Damit du irgendetwas von mir zu sehen bekommst, müsste ich schon sehr betrunken sein. Und jetzt verzieh dich.«
Jill wandte sich um und wollte die Milchkanne wieder aufnehmen, als Ricky diese mit einem Tritt umstieß. Die Milch versickerte im Rinnstein.
»Jetzt reicht’s.« Jill krempelte die Ärmel hoch und holte zum Schlag aus, aber jemand hielt von hinten ihr Handgelenk fest. Ricky rannte davon. Jill drehte sich um. Ein Mann mit Hut und Frack stand hinter ihr. Sein Schnauzbart zuckte verärgert.
»Mach, dass du hier verschwindest, oder ich hole die Polizei«, brummte er. »Eine Prügelei wollen wir hier nicht haben. Das gehört sich außerdem nicht für eine Dame!«
Jill riss ihren Arm los, nahm wortlos die leere Milchkanne auf und setzte ihren Weg fort. Unbändige Wut stieg in ihr auf. Sie achtete nicht auf die Menschen um sie herum, und beinahe wäre sie auf einen kleinen Hund getreten. Seine Besitzerin schimpfte lauthals, aber Jill achtete nicht darauf.
Sie wusste, dass es zuhause ein Donnerwetter geben würde. Sie hatte keine Angst vor Brad, aber es tat ihr leid um ihre Schwester, die nach einem heftigen Streit immer ganz aufgewühlt war und oft stundenlang in ihrem Zimmer saß und weinte.
Als Jill das Bauernviertel Garnick erreichte, war der Vormittag bereits fortgeschritten. Es roch nach Unrat, weil einige der Bäuerinnen die Nachttöpfe im Rinnstein geleert hatten. In der Innenstadt roch es niemals schlecht, dort gab es wenigstens richtige Toiletten. Jill rümpfte die Nase und ging eiligen Schrittes weiter.
Als sie das quietschende Tor zum Hof öffnete, stand Brad bereits im Vorgarten.
»Da bist du ja endlich. Hast du die Milch?«, stieß er hervor und riss Jill die Kanne aus der Hand. »Da ist nichts drin. Was soll das?« Er schlug mit der Kanne nach Jill, aber sie duckte sich rechtzeitig.
»Jemand hat die Milch verschüttet, es war nicht meine Schuld.«
Eine Weile lang sagte er nichts, als müsse er angestrengt über ihre Worte nachdenken. Mittlerweile trug er ein frisches Hemd, vermutlich hatte Dana ihm beim Ankleiden geholfen.
»Das glaube ich dir nicht. Du hast das Geld wieder ausgegeben. Für Drogen nehme ich an.« Seine Stimme wurde lauter.
»Ich nehme grundsätzlich keine Drogen.«
»Egal, wofür du es ausgegeben hast, du sorgst dafür, dass bis heute Nachmittag neues Geld da ist, sonst kannst du heute Abend nicht mehr sitzen!« Er reckte eine Faust in die Luft. Jill ließ sich nicht provozieren, deshalb nahm Brad die Hand wieder herunter. In ruhigerem Tonfall sagte er: »Dana geht gleich hinunter zum Marktplatz. Geld verdienen. Mit ehrlicher Arbeit.« Er betonte seine letzten Worte besonders abfällig. »Du wirst ihr dabei helfen.«
Jill schritt an ihrem Vater vorbei hinter das Haus. Sie hatte mit wesentlich mehr Ärger gerechnet, deshalb wollte sie ihn nicht noch weiter provozieren.
Dana stand mit aufgekrempelten Ärmeln an der Pumpe und gab sich alle Mühe, ihre Waschwanne mit Wasser zu füllen. Sie trug ein einfaches blaues Tuchkleid mit Schürze, auf ihrem Kopf saß ein weißes Kopftuch. Jill lächelte amüsiert. Ihre Schwester bemühte sich, eine redliche Dame zu sein. Manchmal tat sie ihr leid. Seit ihre Mutter gestorben war, fielen ihr sämtliche Aufgaben im Haushalt zu. Wenn Jill nicht diejenige gewesen wäre, die das meiste Geld nach Hause brächte, hätte sie vermutlich ein schlechtes Gewissen gehabt. Doch so verteilten sich die Aufgaben wohl gerecht.
»Hast du keine Kraft in den Armen, Schwesterchen?«, zog Jill sie auf.
Dana ließ den Hebel der Pumpe los. »Wenn du alles besser kannst, kümmere dich doch selbst um die Hausarbeit.« In ihrer Stimme lag Bitterkeit.
»Vater hat gesagt, ich soll mit dir zum Markt gehen.«
»Ich weiß, er war kaum zu überhören.«
Jill glaubte, Missmut in ihrer Stimme zu hören.
»Aber vorher gehst du dich waschen und kämmst dir die Haare«, sagte Dana. »Du vertreibst mir noch die Kunden.«
***
Zwei Stunden später hatte Jill sich die Haare gekämmt und ihrer Schwester zuliebe ein frisches Kleid angezogen. Sie mochte Kleider nicht besonders, weil sie sie beim Klettern und rennen behinderten. Jill betrachtete sich im Spiegel an der Innenseite der Küchentür und musste unwillkürlich lachen.
»Was ist so lustig?«, fragte Dana, die gerade damit beschäftigt war, die Kerzen und Honiggläser in den Handkarren zu laden.
»Ich sehe aus wie ein Mütterchen.«
»Du siehst endlich einmal nach dem aus, was du bist: eine hübsche junge Frau von zwanzig Jahren.«
Jill strich sich über die glatt gekämmten schwarzen Haare. Dana hatte Recht, sie sah aus wie eine anständige Frau im besten Heiratsalter. Jill verzog das Gesicht und schnitt sich selbst Grimassen. Der Gedanke war derart absurd, dass sie sich über sich selbst wunderte. Niemals würde sie heiraten.
»Willst du jetzt albern sein oder mir mit den Gläsern helfen?« Dana wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
Jill half ihr, die restlichen Gläser im Wagen zu verstauen. Die beiden Bienenstöcke waren der ganze Reichtum der Familie Tevell. Sie versorgten sie mit Honig, und Dana verkaufte ihre selbst gezogenen Kerzen jede Woche auf dem kleinen Marktplatz von Garnick. Sie verdiente weniger Geld als Jill mit der Stehlerei. Sie wusste, dass es ihre Schwester störte.
Sie verließen den Hof, als die Sonne hoch am Himmel stand. Es war doch noch ein schöner Tag geworden, aber nicht besonders warm. Ein angenehm kühler Wind streifte durch die Gassen.
Der Marktplatz von Garnick lag nicht mehr als zwei Meilen entfernt, sodass sie den schweren Karren nicht allzu weit ziehen mussten. Trotzdem war der Weg beschwerlich, denn weder die Straßen noch der Marktplatz von Garnick waren asphaltiert oder gepflastert. Große und kleine Steine, Löcher und Erhebungen ließen die Gläser unter der Plane beängstigend klirren. Als sie den Marktplatz erreicht hatten, stand Dana der Schweiß auf der Stirn. Sie war nicht besonders sportlich. Jill fragte sich, wie sie es bloß schaffte, diesen beschwerlichen Weg Woche für Woche allein zurückzulegen.
Dana hatte einen kleinen Klapptisch im Karren verstaut. Sogleich machte sie sich daran, ihre Waren darauf aufzubauen. Ein kleiner befleckter Sonnenschirm mit roten Streifen schützte die empfindlichen Bienenwachskerzen vor der Sonne. Sie waren nicht allein, auch andere Bauern und Händler waren gekommen, um ihre Waren feilzubieten. Eine Mannigfaltigkeit verschiedener Gerüche hüllte Jill ein.
»Lederriemen und Seile! Heute besonders günstig!«
»Haare schneiden für Damen und Herren! Kommt heran und lasst euch die Haare schneiden!«
Mit jeder Minute stieg die Anzahl der Menschen, die sich um Jill herum drängten, und auch immer mehr Händler bauten ihre Stände um sie herum auf. Blumen, Käse, Stoffe, Kräuter, Früchte, Hühner und allerhand anderen Krempel gab es hier zu kaufen. Jills Blick streifte neugierig die Waren der anderen Verkäufer.
»Denk nicht einmal dran«, sagte Dana, als sie hinter ihrem Tisch Stellung bezog.
»Wie bitte? Woran denken?« Jill warf ihr einen verwirrten Blick zu.
»Etwas davon zu stehlen.«
»Du hast eine ziemlich schlechte Meinung von mir, Schwesterherz«, sagte Jill empört. »Ich stehle nicht, wenn es nicht unbedingt nötig ist.«
Jill wusste, dass sie sich selbst belog. In Wahrheit liebte sie es, wenn sie sich etwas nur für sich allein gönnen konnte. Einer Zuckerstange oder Zigarette war sie nie abgeneigt. Nicht jeder Penny, den sie ergaunerte, kam der gesamten Familie zugute.
Jill malte mit den Fußspitzen Muster in den staubigen Boden. Sie überließ das Verkaufen ihrer Schwester. Stattdessen machte sie sich Gedanken darüber, wie sie den verlorenen Schilling wiederbeschaffen könnte.
Nach einer endlos langen Weile, in der Jill ihre Schwester beim Verkaufen der Kerzen beobachtet hatte, riss Jill schließlich der Geduldsfaden. »Dana, ich gehe noch einmal in die Stadt hinaus«, sagte sie. Es war keine Frage oder Bitte. Dana wusste, dass Jill ohnehin ihren Kopf durchsetzen würde. Was sollte sie auch weiter hier herumstehen und Maulaffen feilhalten?
Ihre Schwester verengte die Augen und presste die Lippen aufeinander. »Geh nur, du bist mir ohnehin keine Hilfe.«
Jill warf ihr einen entschuldigenden Blick zu und wandte sich ab. Sie wollte ins Stadtzentrum zurückgehen, vielleicht sogar zum Hafen. Wenn sie Glück hatte, traf sie Firio dort. Sie hatte ihn seit Tagen nicht mehr gesehen. Sicherlich würde er sich freuen, wenn Jill ihm ein wenig Gesellschaft leistete.
Sie erreichte die Hauptstraße und mischte sich unter das geschäftige Volk. Kinder mit Zöpfen und Schürzen spielten nahe der Bordsteinkante mit Glasmurmeln, gut gekleidete Herren mit Hüten und Anzügen eilten an ihr vorbei. Alle Geschäfte waren geöffnet, gemusterte Markisen überspannten die Gehsteige, bunte Werbeschilder prangten über und in den Schaufenstern. Die reich mit Stuck verzierten Häuser verfügten über mehrere Stockwerke. Frauen schüttelten Kissen und Decken hinter geöffneten Fenstern aus. Hier wohnten die Bürger, die mehr besaßen als zwei Bienenstöcke und ein heruntergekommenes Bauernhaus. Hier roch es auch nicht nach Unrat.
Jill erreichte einen großen Platz, in dessen Mitte ein Denkmal die Köpfe der Menschen überragte. Es stellte einen Reiter auf einem Pferd dar. Sein Umhang überdeckte den Rücken des steinernen Tieres beinahe vollständig. Er trug ein Schwert an seiner Seite, die Augen blickten streng nach vorn. Jill wusste nicht, wen die Statue darstellte, denn sie konnte die metallene Gedenkplatte auf dem Sockel nicht lesen. Sie war nicht einmal ein Jahr lang zur Schule gegangen, bevor sich ihre Eltern das Schulgeld nicht mehr leisten konnten. Dana war in der Lage, flüssig zu lesen und zu schreiben, doch für die Ausbildung der zweiten Tochter hatte das Geld nicht mehr gereicht.
Jill suchte mit den Augen die Parkbänke ab, die zu Füßen des Reiters den Platz säumten, doch Firio war nicht hier.
Sie setzte ihren Weg zum Hafenviertel fort. Es war ein weiter Weg, sie brauchte beinahe eine ganze Stunde, um endlich die Wasseroberfläche am Horizont aufblitzen zu sehen. Der salzige Geruch des Meeres wurde zunehmend dominanter, je näher sie dem Ufer kam. Hier waren die Gebäude niedriger, große Hallen rahmten die Hafenpromenade ein. Einige Schiffe lagen vor Anker, darunter auch ein imposantes Dampfschiff. Jill stellte sich an eine Kaimauer und beobachtete, wie Männer das Schiff beluden. Fässer wurden hinein gerollt, auch Kisten, Teppiche und Pferde bugsierte man über die Planken. Sie fragte sich, wohin das Schiff fahren würde. Seit ihrer Geburt war Jill nie weiter als bis in die Nachbarstadt gelangt, aber sie hatte Landkarten gesehen, die ganz England und sogar Europa darstellten. Sicher würde ihr nie die Ehre zuteilwerden, einmal mit einem Dampfschiff fahren zu dürfen.
Sie ließ den Blick über die Wasseroberfläche schweifen. In einiger Entfernung glitzerten die blank polierten Scheiben der Villen auf Falcon’s Eye, der Insel der Adligen, in der Sonne wie Diamanten. Nicht einmal bis dorthin war Jill in ihrem Leben je gelangt, obwohl dies sicher keine Schande war. Man bewachte die Insel pedantisch, und Jill kannte niemanden persönlich, der sie je betreten hätte. Man erzählte sich, dass die Behausungen dort durchweg über elektrischen Strom verfügten, beinahe jeder Einwohner besaß ein Automobil.
Sie riss ihren Blick von der Insel los und seufzte. Sie erschrak, denn als sie sich umdrehte, stand Firio direkt hinter hier.
»Hallo Jill, ich wollte dich nicht erschrecken.« Er strahlte sie freundlich an, sein bunter Anzug leuchtete in der Sonne.
»Das hast du aber!« Jills Miene hellte sich auf.
Firio grinste und ein Satz strahlend weißer Zähne lugte durch seinen dichten Bart hervor. »Wie siehst du denn aus?« Er musterte sie von oben bis unten. »Für wen hast du dir die Haare gekämmt und ein Kleid angezogen?« Er stieß sie freundschaftlich in die Seite.
»Ich wollte mit meiner Schwester auf dem Markt Kerzen verkaufen, aber ich habe mich schrecklich gelangweilt dort.«
»Ach Jill, du hast doch ganz andere Talente. Lass uns etwas musizieren gehen. Ich kenne einen tollen Platz.«
Firio klemmte sich sein Akkordeon unter den Arm und ging beschwingt die Straße zurück ins Innere der Stadt. Jill folgte ihm achselzuckend. Sie hatten sich tagelang nicht gesehen, aber Firio fragte niemals nach ihr, auch fragte Jill niemals nach seinem Verbleib oder Befinden. Es war eine so unbefangene Freundschaft, die sie nicht mit lästigen Fragen beschatteten. Firio war Straßenmusiker, aber für Jill war er ein Lebenskünstler. Er nahm die Dinge, wie sie waren. Sie wusste nicht einmal wie alt er war, aber sie schätzte ihn auf Mitte dreißig. Seit zwei Jahren verbrachte sie häufig Zeit mit ihm.
Er bog in eine kleine Gasse ein, deren Ende direkt in die große Hauptstraße mündete. An der Ecke befand sich eine Bibliothek, und direkt davor blieb Firio stehen.
»Hier haben die Menschen noch einen Sinn für die Kunst«, sagte er und begann sogleich damit, ein Lied auf seinem Akkordeon anzustimmen. Jill hätte sich gern mit ihm unterhalten, aber Firio war so unbeständig wie das Wetter im April. Selten konnte man ihn zu einer ernsthaften Diskussion bewegen, aber wenn es diese Momente einmal gab, bemerkte Jill, wie intelligent und gebildet er war. Sie fragte sich, wann er sich für dieses Leben entschieden hatte. Sie wusste, dass er allein in einer kleinen Scheune wohnte. Die Musik war alles, was er hatte und auch sein einziger Verdienst.
Die ersten Menschen warfen Firio einige Münzen vor die Füße. Er bedankte sich und schenkte den Leuten ein strahlendes Lächeln. Ihn interessierte nicht, wie jemand aussah oder woher er kam, das imponierte Jill am meisten.
Als sein erstes Lied endete, wandte er sich an Jill. »Möchtest du nicht zu meinen Liedern singen? Du möchtest doch sicher auch etwas verdienen.«
»Ach Firio, ich kann nicht gut singen.«
»Na und? Ich kann auch nicht gut Akkordeon spielen.« Er zwinkerte ihr zu.
Schließlich ließ Jill sich doch noch dazu hinreißen, das ein oder andere Lied mit ihm anzustimmen. Erst als die Schatten bereits länger wurden, verabschiedeten sie sich voneinander. Jill hatte genügend Geld verdient, um die umgestoßene Milch zu ersetzen, sogar für einen Butterkuchen müsste es reichen. Sie trat den Heimweg an und fragte sich, wie viel Geld Dana wohl verdient haben mochte.
Wahrscheinlich versäuft es unser Vater ohnehin.
***
»Du könntest zur Abwechslung ein freundlicheres Gesicht machen«, sagte Dana und biss in eine Scheibe Brot. Jill rührte gedankenverloren in einer lauwarmen Tasse Tee. Den anderen Arm benutzte sie, um ihren Kopf zu stützen. Sie lehnte mit dem Oberkörper halb auf der Tischplatte. Es war Sonntag, trotzdem war Jill heute Morgen schon früh aus dem Bett gefallen, weil Dana laut mit dem Geschirr geklappert hatte. Der Vater lag noch immer auf dem Sofa in der Stube, er hatte die Nacht in einer Kneipe verbracht.
»Mir ist heute nicht nach freundlich schauen«, knurrte Jill. »Ich habe mich mit kaltem Wasser gewaschen, wie sollte ich da gut gelaunt sein?«
Dana schüttelte missbilligend den Kopf. »Das bist du doch selbst schuld. Das Feuer im Ofen brennt, du hättest dir Wasser heiß machen können.«
Jill schnaubte verächtlich. »Noch früher aufstehen?« Ein scheußlicher Gedanke.
Dana zuckte nur mit den Achseln. Sie stand vom Tisch auf, sammelte Besteck und Geschirr ein und verstaute alles in der kleinen Zinkwannne auf der Anrichte. Dass Jill noch immer nicht mit dem Frühstück fertig war, schien sie nicht zu interessieren.
»Wirst du heute wieder in die Stadt gehen?«, fragte Dana, während sie die unbenutzten Teller zurück in den Schrank stellte.
»Ich weiß noch nicht. Weshalb fragst du?«
»Weil du mir heute helfen könntest. Das Wetter ist gut, ich wollte ein paar Kleidungsstücke waschen und draußen zum Trocknen aufhängen.«
»Sonntags?« Jills Stimme kippte vor Empörung.
»Weshalb denn nicht? Als ob du dich an irgendwelche Tugenden hieltest.« Dana stieß ein kurzes Lachen aus.
Jill konnte sich einen spöttischen Blick nicht verkneifen. »Und ich dachte immer, du wärest diejenige von uns, die so sittsam und korrekt ist. Gerade du, wo du doch nichts tust, das IHN dort oben verärgern könnte.«
Dana schoss das Blut in die Wangen. Schnell wandte sie sich ab, doch Jill hatte es längst bemerkt. Sie gab sich noch nicht zufrieden, sondern holte zu einem weiteren verbalen Schlag aus. »Weshalb gehst du stattdessen nicht in die Kirche? Wenn du dich beeilst, schaffst du es noch rechtzeitig.« Jill wusste genau, dass sie einen wunden Punkt getroffen hatte, doch Dana gab sich tapfer.
»Ich habe keine passende Kleidung«, presste sie mit dünner Stimme hervor.
»Glaubst du, der liebe Gott interessiert sich für einen feinen Fummel? Ich denke, du schämst dich eher vor der Nachbarschaft.«
Danas Lippen waren nun schmal vor Zorn. »Ich diskutiere mit dir nicht mehr darüber. Hilf mir beim Waschen, oder ich erzähle Vater, dass du dich weigerst.«
Jill hatte weder Angst vor einer Standpauke ihres Vaters noch waren ihr die bissigen Kommentare ausgegangen, mit denen sie Dana noch stundenlang hätte ärgern können, doch ihr stand heute nicht der Sinn nach Streit. So fand sie sich eine Stunde später mit einem Korb voll Wäscheklammern im Hof wieder. Dana hockte neben ihr auf dem Boden und schrubbte eine Hose über ein Waschbrett, das in einer Zinkwanne mit Waschwasser steckte.
»Wie lange willst du das eigentlich noch machen?«, fragte Jill. Sie streckte sich und befestigte die Wäscheleine an einer verkrüppelten Kiefer im Garten.
»Bis die Hose sauber ist«, knurrte Dana.
Jill stieß die Luft zischend durch die Zähne aus. »Du weißt genau, was ich meine. Wie lange willst du dich von unserem Vater noch schikanieren lassen?«
Dana hielt die Hose prüfend in die Luft und suchte sie nach Flecken ab. Dann versenkte sie sie wieder im Waschwasser. »Habe ich eine Wahl?«
Jill war nicht sicher, ob es Traurigkeit oder Ärger war, der in ihrem Tonfall lag.
»Du könntest heiraten. Irgendwann bist du zu alt, dann will dich keiner mehr«, stichelte sie.
Dana rollte entnervt mit den Augen. »Auf deine Ratschläge kann ich verzichten. Glaube mir, wenn ich irgendwie die Möglichkeit hätte, aus diesem Leben auszubrechen, hätte ich es längst getan.«
»Du lässt dich von Brad gängeln und schlagen. Weshalb wehrst du dich nicht?«
Dana reichte ihr die tropfnasse Hose. Jill wrang sie aus und klemmte sie an der Leine fest.
»Lass mich einfach in Ruhe«, schnaubte Dana verärgert. »Weshalb befolgst du nicht deinen eigenen Rat und heiratest selbst? Dann kann dein Ehemann sich um dieses Haus kümmern und Geld für uns alle verdienen.« Dana schleuderte ein Hemd ins Waschwasser. Ein zorniges Funkeln glühte in ihren Augen.
»Ich muss nicht heiraten, ich könnte für mich allein sorgen. Ich könnte zu Firio in die Scheune ziehen.«
»Hoffentlich weißt du, dass Vater und ich dann den Hungertod sterben müssten. Wenn es dir so großen Spaß bereitet, uns leiden zu sehen, dann geh.« Danas Gesicht färbte sich rot vor Wut.
»Ach Schwesterherz, du darfst nicht immer alles so ernst nehmen. Du bekommst noch Falten davon, und dann heiratet dich ganz bestimmt niemand mehr. Ich mache doch nur Spaß.« Jill konnte sich ein spöttisches Grinsen nicht verkneifen.
»Ich wüsste nicht, was an unserer Situation so komisch sein sollte. Du musst langsam erwachsen werden.« Dana reichte ihr das letzte Kleidungsstück, welches sie nur noch lieblos durchgewaschen hatte.
»Und du solltest langsam lernen, deine Naivität abzulegen. Mit Ehrlichkeit kommt man in dieser Welt leider nicht weit. Es ist traurig, aber leider wahr.«
Ein Ausdruck der Empörung trat auf Danas Gesicht. »Willst du damit sagen, ich soll es so machen wie du? Nein danke. Ich weiß, dass wir ohne das Geld, das du nach Hause bringst, nicht überleben könnten, aber es bereitet mir Bauchschmerzen.«
Dana zerrte die Wanne bis an den Zaun und kippte das Wasser in den Rinnstein. Jill legte den Korb mit den Wäscheklammern beiseite und trat vor ihre Schwester.
»Das Leben ist ein Buffet. Du musst schon aufstehen und dir etwas von den Köstlichkeiten nehmen, sonst wirst du hungern müssen und ein anderer nimmt deine Portion.«
Als Dana daraufhin nichts erwiderte, öffnete Jill das Gartentor und trat hinaus auf die Straße, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Sie hatte kein Ziel vor Augen, sie wollte bloß weit weg von Dana und ihrem Vater. Sie kannte sich aus in den Straßen von Haven, trotzdem trugen ihre Füße sie immer wieder an neue Plätze. Die Stadt war groß und es gab jederzeit etwas Neues zu entdecken. An einem Sonntag wie diesem bewegten sich nur wenige Menschen über die Gehsteige, selbst die Pferdebahnen und elektrischen Straßenbahnen verkehrten nicht. Sie seufzte. Ihr tat es leid, dass sie ihre Schwester wieder einmal verlacht hatte, trotzdem konnte sie einfach nicht verstehen, weshalb Dana ihr Schicksal nicht selbst in die Hand nahm. Sie musste dringend einen Mann finden, der den Hof übernahm, andernfalls bliebe auch Jill nichts anderes übrig, als weiterhin stehlen zu gehen. Sie sehnte sich nach nichts mehr als Unabhängigkeit und Freiheit. Vielleicht sollte sie tatsächlich in Erwägung ziehen, ihr Leben endlich selbst in die Hand zu nehmen …
***
Als sie am Nachmittag in das Haus der Familie Tevell zurückkehrte, ahnte Jill bereits nichts Gutes. Sie hatte sich stundenlang in der Stadt herumgetrieben und ein paar Groschen erbeutet. Ihr Handwerk hatte sich heute als äußerst profitabel erwiesen. Sie hatte genug Geld ergaunert, um sich eine frische Pastete leisten zu können. Es war sogar noch so viel Geld übrig, dass sie sich ohne ein schlechtes Gewissen damit zuhause blicken lassen konnte.
Doch ihre Stimmung sank sogleich, als sie die Küche betrat. Aus der Stube drangen das Gebrüll des Vaters und die wimmernde Stimme ihrer Schwester. Ein Knall ertönte, gefolgt von einem spitzen Schrei.
»Du dummes Weib, was hast du mit dem Geld gemacht?« Brads laute tiefe Stimme fuhr Jill durch Mark und Bein. Vorsichtig näherte sie sich der Tür zur Stube.
»Ich habe nicht mehr verdient, ehrlich! Ich habe nichts davon ausgegeben.« Danas Stimme zitterte.
Die beiden bemerkten nicht, dass Jill den Raum betrat. Dana kniete vor dem Kachelofen, das Gesicht rot und verheult. Brad stand drohend über ihr, die krausen Haare wirr vom Kopf abstehend. Sein Gesicht konnte Jill nicht erkennen, denn er wandte ihr den Rücken zu.
»Ich habe kein Geld. Ich habe es einfach nicht«, wiederholte Dana ihre Worte und schlug die Hände vors Gesicht. Gerade, als Brad zu einem weiteren Schlag ausholte, sagte Jill mit lauter Stimme: »Ich habe das Geld.«
Der Vater fuhr herum. »Du hast das Geld? Das hätte ich mir denken können! Willst du auch ein paar Schläge?«
»Wage dich, mich anzufassen, und ich schwöre dir, es wird dir nicht bekommen«, zischte Jill. Sie legte das frisch gestohlene Geld auf den Wohnzimmertisch. Als Brad es zählte, schien sich sein Gemüt wieder zu beruhigen.
»Das ist mehr als ich erwartet habe. Wieso hast du nicht gleich gesagt, dass Jill es hat?«, fragte er an Dana gewandt.
Dana hatte indes aufgehört zu wimmern, erwiderte jedoch nichts. Brad steckte das Geld in seine Tasche und verließ das Haus durch die Tür zum Hof, die hinter ihm donnernd ins Schloss fiel.
»Danke«, flüsterte Dana. »Das hättest du nicht tun müssen.«
Jill setzte sich auf die Holzbank neben dem Ofen. »Hast du wirklich kein Geld gehabt?«
Dana schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Vater glaubt, ich hätte die Einnahmen vom Verkauf der Kerzen für mich selbst behalten, dabei läuft das Geschäft mehr als schlecht. Ich würde es nie wagen, das Wenige, das ich verdiene, für mich selbst auszugeben.«
Jill runzelte die Stirn. »Ich war wirklich guten Mutes, als ich heimkehrte, aber immer wieder vergiftet mir dieses Haus die Laune. Ich halte es bald nicht mehr aus.« Es lag mehr Bitterkeit in ihrer Stimme als beabsichtigt.
Dana legte ihre kleine weiße Hand auf Jills Unterarm. Die Berührung war kühl und ungewohnt. Unwillkürlich zuckte Jill zurück.
»Du wirst doch deine Drohung nicht wahr machen, oder?« Dana warf Jill einen flehenden Blick zu.
»Von welcher Drohung sprichst du?«
»Dass du weggehen möchtest, zu Firio.«
Jill schmunzelte. »Nein. Vorerst gehe ich nicht weg. Uns wird schon eine Lösung einfallen.«
Jill war die Berührung ihrer Schwester unangenehm. Sie spürte, dass es Dana nicht gut ging, aber Jill empfand die Nähe anderer Menschen als bedrohlich. Sie wusste, dass Dana sich nach einer Umarmung sehnte, aber das war eindeutig zuviel verlangt. Jill stand von der Bank auf und verließ das Haus, ohne sich noch einmal nach Dana umzudrehen.
Ihre Schwester hatte sie auf eine Idee gebracht. Firios Gesellschaft würde ihr nun gut tun. Der unbeschwerte Musiker mit seiner sorglosen Art war jetzt genau das, was Jill brauchte. Obwohl ihr noch immer die Beine und Füße schmerzten, nahm sie erneut den weiten Weg in die Innenstadt auf sich.
Jill vermutete zwar, dass sie Firio nicht bei den Parkbänken unter dem Reiterdenkmal oder vor der Bibliothek finden würde, trotzdem schritt sie alle Plätze ab, die der Musiker für gewöhnlich nutzte, um die Passanten mit seinen Liedern zu erfreuen. Es war Sonntag und die meisten Menschen saßen nachmittags bei Tee und Kuchen anstatt durch die ausgestorbene Stadt zu flanieren. Wahrscheinlich musizierte Firio heute nicht. Jill seufzte und beschloss, sich auf den Weg hinunter zum Meeresufer am südöstlichen Ende der Stadt zu machen. Dort lebte Firio in einer alten Scheune, die die Besitzer des Grundstücks nicht nutzten und ihm zur freien Verfügung überlassen hatten.
In der Nähe des Wassers waren die Häuser niedriger und bei weitem nicht so alt. Hier gab es nur wenig stuckverzierte Gebäude, sondern größtenteils Flachbauten aus Holz oder Ziegelsteinen neueren Datums, weil die Herbststürme und die feuchte Witterung jegliches Gemäuer mit der Zeit zerstörten. Manchmal gab es sogar eine Flut, deshalb gab es ganz nahe am Wasser kaum noch Gebäude.
Jill passierte die Überreste einer alten Lagerhalle, die vor einigen Jahrzehnten abgebrannt war. Junge Burschen hatten sie damals in Brand gesteckt, vermutlich war es eine Mutprobe gewesen. Sie waren allesamt dabei ums Leben gekommen. Man erzählte sich noch heute die Geschichte. Jill wandte den Blick schaudernd von der Ruine ab.
Die Schatten wurden bereits länger, als Jill die kleine Scheune erreichte, in der Firio lebte. Sie stand ganz dicht am Wasser, eines der wenigen noch existierenden Gebäude auf einer kleinen Landzunge, die noch nicht vom Sturm verschluckt worden waren. Das stete Rauschen des Wassers wirkte beruhigend auf Jill. Die Scheune bestand nur aus einem einzigen Raum. Firio hatte ihr einmal erzählt, dass die Besitzer hier ursprünglich Fischernetze gelagert hatten. Der Geruch von Fisch sei seitdem nicht wieder heraus zu bekommen, egal wie gründlich man lüftete.
Jill rüttelte an der Tür, aber niemand öffnete. Es brannte auch kein Licht. Wo konnte Firio an einem Sonntag bloß sein?
Sie setzte sich auf einen Felsen neben der Hütte. Vielleicht würde Firio tatsächlich bald wiederkehren. Sie betrachtete die Wasseroberfläche, die im sterbenden Licht der untergehenden Sonne glitzerte wie tausend goldene Juwelen. Es war ein lauer Spätsommerabend. Das Rauschen des Meeres und die Rufe der Möwen wirkten beruhigend auf Jill. Vorsichtig stand sie von ihrem Platz auf dem Stein auf und balancierte hinunter bis zum Ufer. Dann zog sie einen ihrer Stiefel aus und benetzte ihren nackten Fuß mit Wasser. Es war überraschend warm. Jill legte auch ihren anderen Stiefel auf einen kleinen Felsvorsprung und setzte sich daneben, beide Füße hingen bis zu den Waden im Wasser.
Der Abend kroch über das Land, und die Nacht folgte ihm auf den Fersen. Noch immer war Firio nicht zurückgekehrt. Jill verspürte nicht den geringsten Drang, nach Hause zu gehen, obwohl der Mond bereits aufgegangen war. Sie kletterte behutsam zurück hinauf zur Straße, mit den Händen und den nackten Füßen stets nach einem sicheren Halt zwischen den Gesteinsspalten suchend. Die Straße war menschenleer. So weit unten am Hafen gab es keine Laternen mehr, sodass der Mond und die fernen Lichter auf der Insel Falcon’s Eye die einzigen Lichtquellen waren. Jill hatte noch einen weiten Heimweg vor sich und in der Dunkelheit war Haven kein schöner Ort, erst recht nicht für eine Frau. Allerhand Gesindel kroch nachts aus seinen Löchern, die Betrunkenen waren noch das kleinere Übel. Jill war nur eine Kleinkriminelle, nichts im Vergleich zu den Schlägern und Frauenschändern, die sich im Schutze der Dunkelheit auf den Straßen herumtrieben. Doch Jill hatte sich noch nie vor der Dunkelheit gefürchtet. Oft war sie nachts umhergezogen, und das ein oder andere Mal hatte sie dabei auch unangenehme Bekanntschaften gemacht.
Jill sah sich nach allen Seiten hin um. Das stete Rauschen des Wassers, das sich in seichten Wellen gegen die Felsen warf, war das einzige Geräusch, das diese laue Nacht erfüllte. Niemand außer ihr war hier. Geleitet von einer fixen Idee stieg sie zurück hinunter zum Ufer. Dort streifte sie sich ihre Hose ab, dann knöpfte sie das alte Leinenhemd auf und legte es zu ihren Stiefeln. Auch des Schlüpfers und des Unterhemdes entledigte sie sich, bis sie vollkommen nackt am Ufer stand. Unter dem Deckmantel der Nacht setzte sie einen Fuß vor den anderen, bis nur noch ihr Oberkörper aus dem Wasser ragte. Der Boden unter ihren Füßen fiel nur leicht ab, sodass sie sich bald weit draußen vor der Küste befand. Dann ließ sie sich vollständig ins Wasser sinken und schwamm ein paar Züge. Schon bald hatten sich ihre schweren Haare mit dem kühlen Nass vollgesogen. Das Mondlicht ließ ihre Haut absonderlich weiß erscheinen. Erst als Jill nach einigen Minuten den Rückweg antrat, fiel ihr ein, dass sie nichts bei sich hatte, womit sie sich hätte abtrocknen können. Ihre spontanen Einfälle hatten sie so manches Mal in unangenehme Situationen gebracht.
Jill näherte sich dem Ufer und watete zurück zu der Stelle, an der sie ihre Kleidung abgelegt hatte. Schon von weitem bemerkte sie, dass etwas nicht stimmte. Dann sah sie die dunkel gekleidete Gestalt, die genau neben ihren Habseligkeiten stand und sie zu beobachten schien. Ihr fuhr der Schreck wie ein Messer in den Leib. Sofort begann ihr Herz zu rasen, doch nach einigen Augenblicken sinnloser Panik zwang sie sich, Ruhe zu bewahren. Sie ging in die Knie, bis nur noch ihr Kopf aus dem Wasser ragte. Sie hatte sich bis auf wenige Yards dem Fremden genähert, konnte dessen Gesicht jedoch noch immer nicht erkennen. Jill schlussfolgerte angesichts seiner Größe und Statur, dass es sich um einen ausgewachsenen Kerl handelte. Sekundenlang schwiegen sie sich an, bis der Typ schließlich aus seiner Starre erwachte. Er hob Jills Hemd auf, das zu seinen Füßen gelegen hatte und wedelte damit in der Luft herum.
»Suchst du das hier, meine Schöne?« Seine Art zu sprechen erinnerte sie an ein Wiesel oder einen Fuchs, obwohl sie freilich niemals ein Tier hatte sprechen hören. Aber genau so stellte sie sich die Stimme des Fuchses in den zahlreichen Fabeln vor, die ihre Mutter ihr damals erzählt hatte.
»Entfernen Sie sich sofort von meinem Eigentum«, sagte Jill mit kalter Stimme. »Schämen Sie sich denn nicht?«
Der Mann stieß geräuschvoll die Luft durch die Zähne aus. »Schämst du dich denn nicht? In dieser gefährlichen Gegend badet man als Frau nicht nackt, und erst recht nicht nach Einbruch der Nacht.«
»Was ich tue oder nicht, geht Sie nichts an. Und jetzt verschwinden Sie.«
Jill schlang die Arme um ihren Oberkörper. Das Wasser entzog ihr stetig die Körperwärme, sie musste sich beherrschen, nicht mit den Zähnen zu klappern.
»Komm doch heraus und hole dir deine Sachen persönlich ab. Ich werde sie solange bewachen.«
Sie holte mit der Hand aus und spritze dem widerlichen Kerl einen Schwall Wasser entgegen, doch dieser gab sich unbeeindruckt. Dies war einer der seltenen Augenblicke, in denen Jill ehrliche Verzweiflung packte.
Eine kalte, boshafte Lache erklang. »Komm heraus, ich werde dir nichts tun.«
»Hallo, kann mir jemand helfen?« Jill rief aus voller Kehle, aber niemand antwortete ihr.
»Nun, meine Süße, du hast dir keinen guten Platz zum Baden ausgesucht. Hier ist niemand, der dir hilft.«
Allmählich nahm das Zittern zu, Jill spürte ihre Zehen nicht mehr. Ihr war so kalt, dass sie sich einer Ohnmacht nahe fühlte.
Es nutzte nichts. Wenn sie weiter auskühlte, war sie dem Rohling erst recht ausgeliefert. Wenn sie stattdessen jetzt herauskam, hatte sie vielleicht noch eine Chance, ihm davonzulaufen. Sie raffte all ihren Mut zusammen und ging auf das Ufer zu. Jetzt konnte sie das Gesicht des Mannes erkennen. Er war wahrlich keine Schönheit. Schulterlanges, fettiges Haar hing ihm wie ein Vorhang ins Gesicht. Seine schmalen Augen fixierten Jills Brüste, als sie auf ihn zukam. Jill bemühte sich nicht, ihre Blöße vor ihm zu verbergen, dadurch hätte sie ihm vermutlich noch mehr Freude bereitet. Obwohl ihre Beine nicht nur vor Kälte zitterten, zog sie sich ans Ufer hinauf und versuchte, so schnell wie möglich die Felsen zu erklimmen und die Straße zu erreichen. Ihre Nacktheit kümmerte sie nicht weiter, abgesehen von dem kühlen Wind, der ihr auf der nassen Haut eine Gänsehaut bescherte. Sie wollte von diesem Ort verschwinden, alles andere war ihr egal. Notfalls würde sie auch nackt nach Hause laufen, auch wenn sie ihrem Vater dann endgültig den Beweis für seine Anschuldigung lieferte, sie würde sich prostituieren.
Jill hätte sich denken müssen, dass der Kerl sie niemals kampflos würde gehen lassen. Schon spürte sie eine Hand an ihrem Knöchel. Mit dem freien Fuß trat Jill um sich, traf jedoch nur Luft. Mit roher Gewalt zerrte der Mann an ihrem Fuß, bis siel den steilen Hang hinunter glitt. Steine schlugen ihr mehrmals gegen Knie und Ellenbogen, die Haut an ihren Händen schürfte ab. Der Mann griff um ihre Taille, er roch nach Schnaps und Schweiß. Jill stieß einen Schrei aus. Dies war nicht der Moment für falsche Eitelkeiten. Sie wand sich in seinem Arm, trat ihm vor die Beine und krallte sich in seine Haare, doch der Kerl gab nicht auf. Jill rechnete mit dem Schlimmsten. Weshalb nur war sie so unvorsichtig gewesen? Dieser Fehler hätte ihr niemals unterlaufen dürfen.
»Lass mich los, du Penner!«
Seine rechte Hand packte und knetete ihre Brust. Ein Ekelgefühl überwältigte Jill, bis ihr übel wurde. Sie wollte nur noch nach Hause.
Sie hatte die Augen bereits in Erwartung des Unumgänglichen geschlossen, als der Kerl sie plötzlich losließ und ein ersticktes Keuchen ausstieß. Jill taumelte zur Seite und prallte gegen einen Felsen. Im Mondlicht beobachtete sie, wie sich eine weitere Person näherte und dem ungehobelten Rüpel mit der Faust gegen den Kopf schlug. Der Getroffene schrie auf, fuhr sich mit der Hand ins Gesicht und kroch dann den Hang hinauf. Binnen weniger Sekunden war er verschwunden. Jill hörte seine sich entfernenden Schritte auf der Straße. Der Mann, der ihn verjagt hatte, war groß, beinahe ein Riese. Er überragte sie um zwei Kopflängen. Seine Schultern waren breit, seine langen dunklen Haare zu einem Zopf gebunden. Vorsichtig näherte er sich und streckte Jill eine seiner massigen Hände entgegen. Zögernd ließ sie sich auf die Beine helfen. Sie war noch immer nackt, aber niemals zuvor hatte sie sich so erleichtert gefühlt. Sie hob den Blick. Der Mann, der mit einem milden Lächeln im Gesicht vor ihr stand, räusperte sich verlegen.
»Ich habe deine Rufe gehört.« Seine Stimme glich einem tiefen Schnurren. »Es tut mir leid, das ist sicher keine schöne Situation, um sich kennenzulernen.«
»Ist schon gut. Danke.« Jill nahm ihre Kleidung vom Boden auf und schlüpfte zuerst in ihre Hose. Wenigstens war ihre Haut mittlerweile trocken. Sie spürte die Blicke des Fremden auf ihrem Körper. Er untersuchte sie mit den Augen, schien jede Narbe und jede Unebenheit in sich aufzusaugen und sich ins Gehirn zu brennen. Es war fast vollkommen dunkel, trotzdem hatte Jill das Gefühl, dass er sie ganz genau beobachtete. Hastig zog sie ihr Hemd über und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht.
»Was hast du denn allein um diese Zeit am Hafen verloren? Das ist keine sichere Gegend für eine junge Frau«, sagte er.
Jill musterte den Mann. Er war gut gekleidet und verströmte einen Geruch nach teurem Parfum. Sie wusste nicht weshalb, aber sie fühlte sich von diesem Koloss keineswegs bedroht. Er strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus.
»Ich bin im Meer geschwommen. Es war eine dumme Idee.«
»Allerdings. Aber weshalb mitten in der Nacht?«
Jill rechtfertigte sich von Natur aus nicht gerne, aber sie glaubte, dass sie ihrem Retter eine Antwort schuldig war.
»Ich habe auf einen Freund von mir gewartet, aber er ist nicht gekommen. Er wohnt dort oben in der alten Scheune.«
Jill sah in den Augen des Mannes kurz etwas aufblitzen, das sie nicht zu deuten imstande war. Es war, als läge Wissen in seinem Blick.
»Er wird bestimmt wiederkommen. Mach dir keine Sorgen.«
»Ich gehe jetzt besser nach Hause.« Jill verspürte nicht den Drang, sich weiter mit ihm zu unterhalten.
»Ich könnte dich heimbringen«, sagte er, als Jill sich bereits zum Gehen abwandte. Sie drehte sich noch einmal um.
»Woher soll ich wissen, ob du nicht die gleichen Absichten hegst wie der Kerl, den du verjagt hast?« Da der fremde Mann ihr von sich aus sofort das du angeboten hatte, sah sie keinen Grund für Höflichkeiten. »Ich weiß nicht, was du für deine Hilfe verlangst, aber ich habe kein Geld. Und ich werde meine Hose nicht noch einmal für dich ausziehen, falls du das dachtest.«
Der Mann lächelte verlegen. »Nein, das darfst du nicht falsch verstehen. Ich verlange überhaupt nichts von dir. Ich möchte bloß, dass du sicher nach Hause kommst.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Du scheinst ein kesses Mädel zu sein, solche Frauen imponieren mir.« Sein Blick glitt über ihre löchrige Hose. »Zu schade, dass du dich nicht deiner natürlichen Schönheit entsprechend kleidest.«
Jill schnaubte. »Meine Familie ist arm. Ich kann mir weder teure Kleidung noch Parfum leisten. Ich bin kein Umgang für dich. Und ich kann schnell laufen, ich werde schon allein nach Hause kommen. Mach dir keine Sorgen.«
Sein Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Lächeln. »Kannst du nicht einfach ein Kompliment annehmen? Ist es denn so schwer für dich? Ich wollte nur höflich sein. Mir scheint, dir ist es unangenehm, wenn jemand freundlich zu dir ist. Du musst wahrlich kein schönes Leben führen.«
Jill verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit einem anklagenden Blick. »Wenn du höflich wärest, hättest du mir deinen Namen genannt.«
»Ich entschuldige mich vielmals. Mein Name ist Cryson.« Er deutete eine Verbeugung an. »Und wie heißt du?«
»Jill.«
»Ein einfacher, aber kräftiger Name. Freut mich, dich kennenzulernen, Jill.«
Ihr fehlten zum ersten Mal in ihrem Leben die passenden Worte. Alles, was sie zustande brachte, war ein Nicken.
»Nun, hübsches Mädchen Jill, wenn du tatsächlich keinen Geleitschutz haben willst, dann lass mich dir wenigstens etwas schenken.« Er steckte seine Hand in die Innentasche seines teuren Mantels und zog einen kleinen Gegenstand heraus. Er blitzte im Mondlicht und war beinahe so groß wie Jills Hand. Wie gebannt starrte sie auf dieses Ding, das aussah, als hätte jemand mehrere Metallröhrchen aneinander geklebt. Er drückte ihr das Teil in die Hand. Es war schwer.
»Was ist das und was soll ich damit?« Es war ihr unangenehm, etwas geschenkt zu bekommen.
»Das ist ein Musikinstrument. Eine Flöte.« Er nahm Jills Hand und schloss sie um das Instrument, dann führte er sie sacht an Jills Mund heran. Nach einigen Versuchen schaffte sie es, durch Blasen in das eine Ende des Instruments einen sauberen Ton zu erzeugen.
»Es ist wunderschön, aber das kann ich nicht annehmen.«
»Doch, das kannst du. Verliere die Flöte nicht. Sie ist wertvoll. Wenn du wieder einmal Hilfe benötigst, kannst du darauf spielen.« Er zwinkerte ihr zu.
Jill stieß ein keuchendes Lachen aus. »Und dann kommt der Geist aus der Lampe, um mir zu helfen?«
Cryson verdrehte die Augen. »Natürlich nicht. Nimm das Geschenk bitte an. Einer hübschen Frau macht man doch Geschenke.«
Jill spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Es war ein Gefühl, das sie nicht kannte. Sie steckte die Flöte in ihre Hosentasche.
»Dann bedanke ich mich dafür.« Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Bist du von der Polizei?«
Cryson runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn darauf? Hast du etwas zu verbergen?«
Jill schüttelte den Kopf. »Zumindest jetzt gerade nicht.« Cryson nickte wissend. »Nun geh schnell heim, kleine Jill.« Er wandte sich ab und winkte ihr über die Schulter hinweg noch einmal zu. Den ganzen Heimweg lang dachte Jill unentwegt darüber nach, was ein wohlhabender Mann in der Nacht am Hafen zu suchen hatte. Ein gutaussehender wohlhabender Mann wohlgemerkt. Zudem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er sie noch immer verfolgte. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, aber es war kein Schauder der Angst, sondern einer der freudigen Verlegenheit.