Читать книгу Zwischen zwei Türen - Nasim Khaksar - Страница 7

Betonsilos

Оглавление

Mein Vater streckt eine Hand nach mir aus. Er ist fassungslos. Kann nicht glauben, dass ich gehe und ihn alleinlasse. Er denkt, was auch kommen mag, ich bin Marhamats Tochter, und vergisst dabei völlig, dass ich nicht nur ihre, sondern vor allem seine Tochter bin. Marhamat hat immer gesagt: „Ihr zwei seid einer wie der andere, aus demselben Holz geschnitzt. Ihr steht einander in nichts nach.“

Ich war mittlerweile ein einziges Nervenbündel. Seit Monaten im Clinch mit mir selbst. Ich schlug mich, weinte, vergoss bittere Tränen, vergebens. Die Schleusentore mochten noch so weit offenstehen, ihre Fluten lösten weder den hartnäckigen Kloß in meinem Hals, noch spülten sie meine Wut auf mich selbst weg. Ich ging zum Arzt. Schilderte, wie maßlos zornig ich war, wie frustriert und manchmal so außer mir, dass ich mich sogar übergab. Der Arzt maß meinen Blutdruck und meinen Puls.

„Auf wen bist du denn so wütend?“

„Weiß nicht. Auf meine Mutter, meinen Vater.“

Er sah mich eindringlich an.

„Und auf dich?“

Ich brach in Tränen aus.

„Geh schwimmen. Geh raus in die Natur, pflanz Blumen. Hör Musik.“

Jeden dieser Ratschläge hab ich befolgt. Gebracht hat’s mir nichts. Das verschriebene Beruhigungsmittel hab ich nicht genommen. Traurig dachte ich an Marhamat, während ich meinen Vater tagtäglich zur Arbeit brachte und wieder abholte. Es wollte mir einfach nicht in den Kopf, wie sie das alles ertragen hatte, stoisch, klaglos. Wie hatte sie ihre Schmerzen und das Elend ringsum ausblenden können, scheinbar völlig mühelos? Vielleicht hat sie sich auch nie den Kopf darüber zerbrochen. Hat die in rostigen Blechkanistern gedeihenden Oleanderbäume der Nachbarn und von Unkraut und Gestrüpp überwucherte gelbe Blüten gedankenleer wahrgenommen, aber nicht gesehen? Marhamat wurde nie böse. Sie ärgerte sich weder darüber, wie mein Vater mit ihr umging noch über das Verhalten anderer Menschen. Und selbst wenn sie wütend war, wurde sie nie aufbrausend oder ausfallend. Wenn einer von uns jammerte, weil ihm ein Bein wehtat, machte sie „Psst-psst! Nicht laut sagen. Sonst hört dein Bein das und tut dir noch mehr weh.“

Sie wurde zusehends kränklicher, ging täglich gebeugter. Anfangs humpelte sie nur leicht. Ich wollte sie ein paarmal zum Arzt fahren. Nicht nur ich, alle wollten ihr etwas Gutes tun. Sie war von früh bis spät auf den Beinen, rackerte sich ab und ging jedem zur Hand. Zeit, ihre widerspenstigen Locken zu kämmen oder ihre Kleider zu wechseln, nahm sie sich nicht. In den Sachen, in denen sie morgens aufstand, ging sie abends zu Bett. Auf den Spiegel im Haus war sie schlecht zu sprechen. Mein Vater witzelte: „Lasst sie in Frieden. Es sind doch nicht alle Frauen gleich. Die einen schminken sich gern, andere hinken. Die einen lachen gern, andere weinen lieber.“

Marhamat verfluchte meinen Vater, so leise, dass nur sie es hören konnte. Sie brüllte nie. Sie rieb sich ihr Knie.

„Es tut weh. Aber es hilft ja nichts. Also ertrag ich den Schmerz.“

Mich machte das wahnsinnig.

„Mama Dschun. Du musst die Schmerzen nicht aushalten. Geh zum Arzt.“

„Ärzte können einem auch nicht helfen. Die bescheren einem nur zusätzliche Zipperlein.“

„Wenn du so denkst, dann hör auf zu jammern. Sei einfach still.“

Woraufhin sie umso heftiger klagte.

„Es tut wirklich weh, Allmächtiger!“

Wo sie ging und stand, redete sie über ihre porösen Knochen.

„Angeblich hilft Straußenöl dagegen. Wo krieg ich das her?“

Als ich ihr sagte, dass ich welches aufgetrieben hatte, runzelte sie die Stirn.

„Sahra Khanum hat doch gesagt, sie kauft welches. Du hättest nicht noch zusätzlich Geld ausgeben müssen.“

Auch der Spiegel, den ich ihr gekauft hatte, war ihr kein Grund zur Freude. Der einzige, den wir im Haus hatten, war in tausend Scherben zersprungen, als mein Vater ihn hingedonnert hatte. Damals ging alles zu Bruch, was er in die Finger bekam. Marhamat vergaß meist, Sachen aus dem Weg zu räumen. Ich zog sie auf:

„Jetzt, wo er alles zerschmissen hat, fällt dir ein, die vier Plastikteile, die uns geblieben sind, vor ihm in Sicherheit zu bringen?“

Ihr Kinn zog sich zusammen wie eine Katzenpfote, aber sie sagte kein Wort. Sie sprach weder mit mir noch mit meinem Vater. Manchmal hörte ich sie in der Küche mit meiner kleinen Schwester reden. Sobald die beiden mich sahen, endete ihr Gespräch. Ich goss mir Tee ein.

„Na, was ist? Hat’s euch die Sprache verschlagen?“

Vom Wohnzimmer aus brüllte mein Vater:

„Marhamat, Tee!“

Sie sprang sofort auf. Wie ich das hasste!

„Sag ihm, er soll sich seinen Tee gefälligst selbst holen. Er sieht zwar nichts, aber gehen kann er. Und Hände hat er auch.“

Seine raue Stimme kam aus dem Wohnzimmer:

„Was geht dich das an, du gewissenloses Ding?“

Ich gehe ein paar Schritte, drehe mich um und schaue ihn an. Am Morgenhimmel hängen Wolken in düsteren Fetzen. Die Betonblocks der Siedlung haben wir hinter uns gelassen. Seit Monaten werden die verfallenen alten Wohnsilos saniert. Bis unser Block an die Reihe kommt, wird es noch ewig dauern. Im staubigen Gelände vor uns liegen Eisenträger und Baumaterial verstreut. Noch zweihundert Meter bis zur Haltestelle. Etwas abseits kurbelt ein Mann das Rollgitter seines Ladengeschäfts hoch. Man hört Krähen krächzen. Zu sehen sind sie nicht. Mein Vater bleibt stehen und lauscht. Weit und breit ist niemand in Sicht. Er hofft, dass ich zurückkomme und ihn an der Hand nehme. Marhamat würde die paar Schritte auf ihn zugehen. Sie wäre gar nicht erst vorausgegangen. Selbst wenn sie Schläge bekommt, rührt sie sich nicht vom Fleck. Einmal hat mein Vater sie so hart auf den Kopf geschlagen, dass es gekracht hat. Sie hat sich ins Haar gefasst, hat über die getroffene Stelle gewischt und ist langsam aufgestanden, ohne mich anzusehen. Ich dachte damals: ,So wie die Dinge inzwischen liegen, springt sie jetzt aus dem Fenster.’ Stattdessen ist sie in die Küche gehumpelt, hat sich die frisch gekauften Küchenkräuter vorgenommen und sie geputzt als sei nichts gewesen. Wenige Stunden später war die Suppe fertig.

Marhamats Hauptsorge galt den Mägen ihrer Mitmenschen. Ob die Leute auch andere Probleme hatten, kümmerte sie nicht. Dafür zu sorgen, dass niemand hungers starb, war ihr Lebenszweck. Wenn einer von uns Fieber hatte, sagte sie: „Das Kind braucht was in den Magen.“ Auch wenn wir andere Krankheiten hatten, sah sie im Essensmangel die Ursache. Als mein Bruder schlechtere Schulnoten bekam, kochte sie Suppe. „Dem Kind fehlt doch die Kraft zum Lernen.“

Sie interessierte sich nur fürs Kochen. Wie sie den Tisch deckte und wieder abräumte, musste man gesehen haben. Sie zog die Prozedur dermaßen in die Länge, dass es uns allen auf die Nerven ging. Dabei war sie selbst eine schlechte Esserin. Sie wog ganze neunundvierzig Kilo und war in letzter Zeit so stark abgemagert, dass ihr Kopf viel zu groß wirkte für ihren Körper. Sie machte mich wahnsinnig. Weil sie sich wie ein großer Automat bewegte. Weil sie so wenig Wert auf sich selbst legte. Weil sie sklavisch unterwürfig war. Ich schrie ihr ins Gesicht:

„Was bist du nur für ein Mensch?!“

Sie schwieg mich an.

Sie bückte sich in ihrer weiten Baumwolltunika und las die Brotkrümel auf, die meinem Vater zu Boden gefallen waren. Er hatte meist Freunde und Freizeit im Kopf. Mein Bruder schwänzte ständig die Schule. Meine Schwester hatte sich verliebt. Niemand rief die Familie zur Ordnung. Jeder machte einfach, was er wollte. Ich war mein Leben leid, war die Siedlung leid, die baufälligen Wohnblocks mit ihren schäbigen Hauseingängen und Treppenhäusern. Auch die erst kürzlich in die Stadt gezogenen Landeier von Nachbarn war ich leid. Ich investierte mein gesamtes Gehalt in Kleidung. Ich achtete auf mein Äußeres. Gab gern vor, einen erfolgreichen Geschäftsmann zum Vater und eine pensionierte Lehrerin zur Mutter zu haben. Und dass wir in einem bestimmten Viertel in der Oberstadt wohnten. Ich würde mir beizeiten einen reichen Mann angeln. Unglück, Komplikationen aller Art waren mir verhasst. Ich nutzte jede Gelegenheit, von Zuhause wegzukommen. Fuhr zu meiner Tante nach Isfahan.

Eines Tages rief meine Schwester an.

„Komm schnell heim!“

Am frühen Abend war ich dort.

Zog an der Haustür hastig meine Schuhe aus und ging geradewegs zu meinem Vater ins Zimmer. Die Vorhänge waren zugezogen. Der Raum war finsterer als jede Dunkelkammer. Mein Vater lag im Bett, die weit aufgerissenen Augen gen Zimmerdecke gerichtet, die Pupillen starr, wie vor Schreck. Seine Haare klebten ihm nass und pomadig am Kopf. Im ersten Moment dachte ich: ‚Dieser massige Körper liegt so saft- und kraftlos hingestreckt wie von einem Lkw überrollt.‘ Ringsum im Raum saßen Verwandte, Freunde, Bekannte. Meine Schwester weinte still vor sich hin. Marhamat, eine Hand auf der Brust, ihr krauses Haar wie immer ungekämmt, stand dabei und trat bei jedem Aufschrei meines Vaters zu ihm ans Bett.

Ich setzte mich zu ihm, schob das mit Medikamenten überladene Tablett beiseite. Es stank so stark nach Schweiß und Medizin im Zimmer, dass ich mich fast übergab. Mein Vater hatte trockene Lippen. Marhamat beugte sich zu mir.

„Er hat seit zwei Tagen nichts gegessen. Er brüllt nur rum und schlägt sich.“

Ich wollte seine Hand nehmen. Er wies mich zurück.

„Siehst du, wie viel Pech ich habe?“, stieß er hervor. Noch nie hatte ich ihn so hilflos gesehen. Ich beugte mich über ihn:

„Du hast Glück, dass du noch lebst, Agha.“

Sechs seiner Freunde waren schon gestorben. Ich stand auf, zog die Vorhänge zurück. Es wurde hell im Raum. Mein Vater verzog das Gesicht. ,Das Licht ist ihm wohl zu grell’, dachte ich und lag falsch. Schmerzen hatte ihm das Quietschen beim Zurückziehen der Vorhänge bereitet.

„Schade, dass ich nicht auch gestorben bin“, seufzte er.

Er bewegte seinen Kopf in der feuchten Kuhle seines Kissens hin und her und wälzte sich im Versuch, eine unsichtbare Kette abzuschütteln. Dabei stieß er mit einem Handrücken heftig an die Wand, stöhnte auf und weinte. Ich weinte mit ihm und schrie in die um sein Lager gescharte Runde, ob sie denn gekommen sei, einem Trauerspiel beizuwohnen und den tragischen Helden zu beweinen?

„Macht man einem Kranken so etwa Mut?!“

Mein Vater bedeckte beide Augen mit einer Hand und heulte:

„Welchen Mut denn? Ich bin jetzt blind und Schluss. Meine Freunde sind alle weg.“

Ich klang jetzt genauso gequält wie er.

„Deinen Freunden und ihrem Fusel hast du deine Blindheit zu verdanken, Agha.“

„Geh mir aus den Augen!“, schrie er mich an. „Alle deine Vorfahren waren blind, du Wechselbalg! Was weißt du denn schon?“

Er setzte sich auf. Griff in die Luft, griff sich an die Brust, rief: „Macht die Fenster auf und alle Lichter an!“ Das taten wir. Es half nichts. Er fand das Glas neben seinem Bett und schlug sich damit auf den Kopf. Blut lief ihm übers Gesicht. Es dauerte Monate, bis er sich an sein Blindsein gewöhnt hatte. Meinen Bruder stellte er in den Laden. Obwohl er ihm misstraute.

„Dieser Trottel. Ein Dieb ist er. Er wird den Laden an die Wand fahren.“

Der Laden war ein kleiner Textilhandel im Basar. Mein Vater bestand darauf, Geschäftsführer zu bleiben. Ich sollte die Buchhaltung übernehmen. Und Marhamat brachte ihn morgens hin und holte ihn abends ab. Jeweils eine Stunde Fahrt mit dem Bus. Er brüstete sich immer damit, dass er den Weg kenne, sogar wisse, welchen Bus er zu nehmen hatte, und dass er eines Tages allein in sein Geschäft fahren werde. Zwei Jahre vergingen, ohne dass dieser Tag gekommen wäre.

Binnen weniger Monate bekam er graue Haare. Sehen konnte er das nicht. Er sah sich nicht grau werden und Marhamat nicht altern. Jetzt verbrachte er zwar weniger Zeit mit seinen Freunden. Vom Alkohol aber ließ er nicht ab. Wenn ich abends heimkam, verfiel ich in Trauer. Unsere vier Wände waren rissig und voller Flecken. Der Wasserhahn im Bad tropfte. Der Bodenbelag in der Küche hatte mehrere Brandlöcher. Marhamat war mittlerweile blinder als mein Vater. Und ungestört. Wer hätte sie ihrer zunehmenden Gleichgültigkeit und der Unordnung wegen kritisieren sollen, die immer weiter um sich griff? Wenn ich nach Hause kam, wurde sie noch phlegmatischer. Sie schlich umher wie ihr eigener Schatten. War entweder damit beschäftigt, das ihrer Auslegung nach unreine Geschirr meines Vaters zu spülen. Oder sie kochte Essen. Auf meine Fragen antwortete sie mir immer nur, ohne mich anzuschauen. Ich trat auf sie zu und entdeckte eine blauviolette Schwellung unter einem Auge. Die hatte sie hinter ihrem dichten Haar vor mir verbergen wollen.

„Wer hat dir denn die Aubergine unters Auge gepflanzt?“

Sie verzog den Mund und deutete auf das Zimmer, in dem mein Vater lag. Ich holte tief Luft.

„Na schönen Dank auch. Hoffentlich hat er sich bei der Aktion nicht die Hand verletzt.“

Marhamat wandte sich wieder ab: „Streu du nicht noch Salz in meine Wunde.“

„Was geht mich das überhaupt an?“

In solchen Situationen setzte ich mich zwar vor den Fernseher und schaute eine Telenovela meiner Wahl, war in Gedanken aber weiterhin bei meiner Mutter. Die las gemächlich mit einer Hand Schmutz vom Boden auf, legte die andere auf die Brust und humpelte dann in die Küche.

„Hast du Herzschmerzen?“, fragte ich sie laut.

Und wartete auf ihre Antwort.

„Ich hab kein Herz mehr.“

„Was hast du stattdessen?“, fragte ich scherzhaft.

Ihre Antwort kam prompt:

„Nichts.“

Man hört Eisenteile zu Boden fallen. Der Lärm hallt sekundenlang nach. Ein Käfer surrt wie ein Feuerwerkskörper an meinem Ohr vorbei. Mein Vater hat einen Arm ausgestreckt, presst seinen Stock und seine Aktentasche mit dem anderen Arm fest an sich und geht mit Tippelschritten vorwärts. Anfangs hatte er oft befürchtet, unterwegs eines Tages kopfüber in einem Straßengraben zu landen. Irgendwann sprach er nicht mehr über seine Ängste. Er tat so, als sei sein Gesichtssinn leicht getrübt, aber noch vorhanden. Marhamat nahm ihm das ab.

Ich nahm eines Tages die Zucchinischalen von dem Tablett, das sie vor sich hatte, und ließ sie auf den Teppich fallen. Auf ihren verblüfften Blick hin flüsterte ich ihr zu:

„Wenn er’s merkt, kauf ich dir ein schönes Kleid. Wenn nicht, kaufst du mir eins.“

Das Kleid, das sie an dem Tag anhatte, war abgetragen, das Muster aus kleinen Blüten total verwaschen. Sie lachte ihr zahnloses Lachen.

„Wovon denn?“

„Dann kauf mir eben Kaugummis.“

Sie lachte wieder.

„Ich hab keine Lust auf Probleme.“

Mein Vater reagierte.

„Sind die Zucchini noch nicht soweit, Marhamat?“

Sie sah mich fragend an. Ich riet ihr, zu antworten.

„Du siehst doch, dass ich sie schäle.“

Mein Vater schaute in ihre Richtung.

„Ich sehe dich damit rumspielen.“

Diesmal schlug ich ihr vor, nicht zu antworten. Auch mein Vater sagte nichts. Er schaute zum offenen Fenster. Es war Frühling, und es roch nach Regen. Ein frischer Windstoß wehte kleine gelbe Blütenblätter ins Zimmer. Wie Pailletten wirbelten sie durch die Luft und landeten sanft auf unserem Teppich. Mein Vater schien verblüfft über die Schönheit und Wohltat der Natur. Ich ging nach draußen. Bei schönem Wetter konnte ich einfach nicht zu Hause sitzen und Marhamat beim Zucchinibraten zuschauen. Zeit im Freien zu verbringen war für mich wie Urlaub. Ich ließ allen Ärger hinter mir und genoss diese wenigen Ruhestunden. Aber schon jeder Heimweg machte meine gute Laune wieder zunichte. Mein Vater saß im Dunkeln. Und Marhamat mit ihm. Aus purer Gewohnheit machte sie erst Licht, wenn ich zur Tür reinkam und tastete sich im Dunkeln bis zur Küche vor, in der es heller war, weil Licht von draußen einfiel. Ich verfluchte die düstere Grottenatmosphäre, für die Marhamat sorgte, und sorgte meinerseits aus Trotz für Festbeleuchtung.

„Du nutzt wohl aus, dass ich nichts sehen kann, gewissenlos wie du bist?“, schnauzte mein Vater.

Ich schaute sofort zu Marhamat, die mich verstohlen ansah, aufstand und ging. Ich schloss die Tür zu meines Vaters Zimmer und heftete mich Marhamat an die Fersen. Mir platzte fast der Kragen. Ihr Kinn zitterte.

„Er kriegt alles mit, was ich mache.“

Ich riet ihr: „Stell dich doch nicht so dumm, Mütterchen. Er ist nicht Gott. Er ist ein armer, hilfloser Tropf, der nicht mal sein eigenes Gesicht sehen kann.“

Marhamat kamen die Tränen. Ich unterbrach meine Tirade.

„Was gibt’s zu weinen?“

„Tut mir leid, dass er so hilflos geworden ist.“

Ich schrie sie an.

„Du bist hilflos! Und merkst es nicht mal, du Unglückliche! Er spielt sich als Herrscher auf und kommandiert dich rum wie seine Dienerin!“

Ihr Haar hing ihr ins Gesicht wie ein Strang verstaubter alter Wolle. Dass sie keinen Finger rührte, um sich freie Sicht zu verschaffen, brachte mich noch mehr auf. Ich hätte sie am liebsten durchgerüttelt, geschlagen. Für den Bruchteil einer Sekunde fürchtete ich sogar, mir könnte tatsächlich die Hand ausrutschen. Ich zog schnell meinen Mantel an.

„Komm, lass uns rausgehen.“

Sie kehrte mir den Rücken.

„Ich kann allein rausgehen. Bin schließlich kein Kind mehr.“

„Nein, du bist kein Kind, und ich bin nicht deine Mutter. Leider ist es umgekehrt. Nun komm schon, erheb dich. Du warst mir übrigens nie eine richtige Mutter, vergiss das nicht.“

„Du brauchst gar keine Mutter.“

Sie hielt mich seit jeher für ungemein stark.

„Wieso braucht das Riesenbaby da eine, und ich nicht?“

Ihr Mund verzog sich mitleidsvoll.

„Versündige dich nicht.“

Nichts machte mich rasender als ihre Floskeln.

„Steh auf und geh, bevor ich mich deinetwegen in Stücke reiße.“

Am nächsten Tag machte ich einen Schritt auf sie zu. Sie aß Fladenbrot und Schafskäse. Beides fand sie immer schon schmackhafter als Hackspieße mit Reis. Ich rückte das Tischtuch gerade. Sie hatte nur ein Eckchen ausgefaltet. Ich legte die Brotfladen in die Mitte, stellte den Teller mit Käse daneben.

„Ich sag ja nicht, dass du gar nichts für ihn tun sollst. Aber krummlegen musst du dich für ihn nicht. Warum massierst du ihm den Rücken?“

Während ich redete, zog sie eine Fliegenklatsche unter ihren Knien hervor und schlug nach einer Fliege. So kraftlos, dass das Tierchen sich aufrappelte und davonflog. Marhamat sah mich an, wartete, bis ich geendet hatte.

„Wenn du ein bisschen Kaschk kaufen könntest, getrockneten Quark - die Auberginen sind schon fertig.“

Ich starrte sie an, fassungslos.

„Kipp dir deine Quark-Auberginen übern Kopf!“

Sie zuckte zusammen, weil ich laut geworden war.

„Du bist wie dein Vater.“

„Nein, bin ich nicht, Hadschi Khanum.“

Mit ihren dritten Zähnen hatte sie Mühe, ihr Brot zu kauen.

„Doch, bist du. Er kann nichts sehen, aber du hast Augen, und du machst Sachen.“

„Was für Sachen?“

„Du weißt genau, was ich meine.“

„Nein, weiß ich nicht. Sag du’s mir.“

Sie bückte sich, klaubte mit einer Hand Krümel vom Teppich und sammelte sie in der anderen.

„Lass mich in Frieden. Lass mich in meinem Unglück sterben.“

„Sag mir erst, welche Sachen du meinst, danach kannst du meinetwegen sterben gehen.“

„Wenn ich tot bin, bist du mich los.“

Ich ließ nicht locker.

„Was für Sachen?“

Sie schob ihren halbgekauten Bissen Brot in eine Backe. Die wurde dick.

„Du rührst keinen Finger, machst aber viel Geschrei. Du heiratest nicht, tust stattdessen aber auch nichts anderes. Du schminkst dich, putzt dich raus und gehst auf die Straße. Genau wie er, in seinem Alter, ständig macht er sich fein, schmiert sich Pomade ins Haar und geht aus dem Haus.“

„Ich arbeite.“

„Ja, für dich. Wir hatten davon bis heute nichts.“

Ich drehte mich um und trat ihr direkt unter die Augen.

„So siehst du mich also? Hast du vergessen, dass ich dir letztes Jahr Sachen zum Anziehen gekauft habe? Wo hast du die hingetan? Warum trägst du sie nicht?“

Je mehr ich auf sie einredete, desto stärker geriet ich in Rage. Wieder schrie ich sie an. Sie. Meinen Vater. Und er übertönte mich: „Schrei mich nicht an, du Wechselbalg!“

Stattlich gebaut und kräftig wie er war, holte er aus und warf etwas nach mir. Ich ergriff die Flucht und knallte die Tür hinter mir zu. Seitdem hat er nie wieder die Hand gegen mich erhoben. Er brauchte mich. Von seinen vier nichtsnutzigen Blagen war ich ihm die nützlichste. Nicht umsonst hatte er mir die Buchhaltung seines Ladens übertragen. Sobald er aufmuckte, klappte ich die Bücher zu und warf meinen Stift nach ihm.

„Mach deine Abrechnung selbst.“

Als ich heute morgen nach ihm schaute, hatte er sein schwarzes Hemd abgelegt und trug das rote. Marhamat war erst seit sechsundvierzig Tagen tot.

„Du hast dein rotes Hemd an.“

Er stand vor der Wand, an der früher der Spiegel hing, fasste an den Hemdkragen.

„Ich seh das ja nicht. Ich dachte, es sei das Dunkelblaue.“

Ich suchte ihm das Blaue raus und gab es ihm. Er warf es in die Ecke.

„Lass gut sein. Jetzt hab ich das Rote schon an. Das andere trag ich morgen.“

Der alte Trickser. Glaubte er wirklich, ich ließe mich für dumm verkaufen? Ich öffnete und schloss die Tür, blieb aber im Zimmer. Er setzte seine getönte Brille auf, trat dann von einem Fuß auf den anderen. Ich stand wortlos auf. Er rief nach mir. Ich gab keine Antwort. Er musste glauben, ich sei nicht mehr im Raum. Er ging zum Kleiderschrank. Öffnete die Tür. Sie quietschte. Er wartete einen Moment und lauschte in die Stille. Dann nahm er eine Flasche Duftwasser aus dem Schrank, gab mit Bedacht ein paar Tropfen in seine hohle Hand und verteilte die Flüssigkeit sanft und sorgfältig auf Kinn und Hals. Er schloss die Schranktür leise. Diesmal quietschte sie nicht. Dann nahm er seinen Stock zur Hand und brach auf.

Trittsicher ist er noch immer nicht. Aber so selbstbewusst wie eh und je. Er wirft sich in die Brust und richtet seine starren Pupillen geradeaus. Sein grau meliertes Haar steht an einer Seite vom Kopf ab, aber die wenigen widerspenstigen Strähnen machen sein ernstes, schön geschnittenes Gesicht umso interessanter. Jetzt weiß er, dass ich noch nicht gegangen bin. Ich warte darauf, dass er nach mir ruft. Aber er ruft nicht. Er hat seinen Stolz.

Auch Marhamat wollte nie Hilfe. Einmal bin ich zu ihr ins Bad gegangen, um ihr den Rücken zu schrubben. Sie hat meine Hilfe abgelehnt. Also ging ich selbst unter die Dusche, verärgert über mein harsches Verhalten. Ich war angespannt, hatte überreagiert und Marhamat mal wieder angeschrien. Sie hatte gesagt, sie sei sauber genug, auch ohne geschrubbten Rücken. Jedesmal, wenn ich gut aufgelegt war, brachte sie es fertig, mir die Stimmung zu vermiesen.

Sie kauerte unter der Dusche. Hager war sie geworden und schmächtig wie ein junges Mädchen. ‚Sie hat Angst vor mir!‘, schoss es mir durch den Kopf, während ich mir die Haare nass machte.

„Ich bin nicht dein Mann, aber du zierst dich wer weiß wie. Ich wollte dir einfach nur den Rücken schrubben.“

Sie griff nach dem Waschlappen auf ihrer Schulter und reichte ihn mir. Ich nahm ihn entgegen und rieb ihr den Rücken damit ab.

„Du raubst mir den letzten Nerv, meine Güte. Und im Grunde bist du selbst schuld. Wenn du dich ihm einmal, nur ein einziges Mal entgegenstellst und den Befehl verweigerst, wird er’s nicht mehr wagen, dich derart zu erniedrigen.“

Sie stöhnte. Ich gönnte ihr eine Pause. Ihr Waschlappen war einer von der alten Sorte, aus rauem Gewebe.

„Tut dir das weh, Mütterchen?“

Statt mir zu antworten, sank sie noch tiefer in sich zusammen. Ich fasste sie an der Schulter, richtete sie auf. Und bekam einen Schock! Die Geschwulst in ihrer Brust war so groß, dass die Haut darüber hauchdünn geworden und zum Zerreißen gespannt war. Ich schrie meine Mutter an.

„Was ist das denn?!“

Sie hielt sich die Hände schützend vors Gesicht, so wie immer, wenn mein Vater auf sie losging. Mir wurde übel. Ich nahm sie in den Arm.

„Keine Angst, wir gehen zum Arzt. Warum hast du nicht längst was gesagt?“

Sie ließ ihre Hände nicht sinken. Diese Szene hing nach ihrem Tod gerahmt an meiner imaginären Erinnerungswand und machte mir das Leben zur Hölle. Ich, um die Tränen schon immer einen großen Bogen gemacht hatten, weinte nun rund um die Uhr.

Mein Vater atmet tief durch.

„Hörst du’s?“

Ich antworte widerwillig.

„Was denn?“

Er lacht.

„Die Vogelstimmen.“

„Bei dem Verkehrslärm höre ich nichts.“

Wieder lacht er und seine Stimme wird freundlich.

„Manchmal hindert dein Dickschädel dich am Hören. Die Autos spielen dabei keine Rolle.“

Er bleibt stehen und atmet tief ein.

„Hm, herrlich, dieser Duft! Welche Farbe haben die Blumen?“

Er geht weiter. Mir geht durch den Kopf, dass er vermutlich auch Marhamat solche Fragen gestellt hat.

„Das sind keine Blumen, das sind einfach wildwachsende Gräser.“

Er seufzt laut auf.

„Marhamat kannte jede einzelne Pflanze beim Namen. Manchmal hat sie sogar zu viele Worte gemacht. Dann hab ich ihr gesagt: ,Lass gut sein, Frau. Ich hatte dich nur nach der Farbe gefragt. Was soll ich mit dem Wissen über Blumenzwiebeln und Samen?’ Du bist nicht wie sie. Du sagst gar nichts.“

„Soll ich dir die Pflanzen beschreiben?“

Er wird lebhaft.

„Du kannst sogar welche pflücken.“

Seine Heiterkeit ärgert mich. Ich bin froh, dass hier nirgends Blumen wachsen.

„Ich sehe keine Blumen. Bloß einen noch immer nicht entsorgten Haufen Müll. Außerhalb des Geländes die Baustelle der Einkaufspassage. Zu Ihrer gefälligen Beachtung sei auch gesagt, dass hier weit und breit keine Nachtigall in Sicht ist. Ein paar magere Sperlinge hüpfen durch die Bäume. Eine gebrechliche alte Frau hat ein Fladenbrot gekauft und trägt’s nach Hause.“

Er lacht.

„Geht dir das Herz immer so über?“

Er hat wohl Honig mit Sahne gefrühstückt, so witzig und gesprächig ist er. Meine Stimmung hebt er damit nicht.

„Im Moment gehen wir mitten durch die baufälligen Wohnblocks. Soll ich dir was von herrlichen Gärten vorschwärmen?“

Er schüttelt bedauernd den Kopf.

„Deine Mutter, Gott hab sie selig, hatte sehr viel Geduld.“

Ich koche vor Wut.

„Geduld oder keine Gefühle? Ich glaube eher, sie war so gefühllos, dass sie nicht gemerkt hat, welches Leid ihr geschieht.“

Mein Vater bleibt wieder stehen und schreit mich an:

„Rede nicht so dumm daher! Nimm lieber was ein. Du bist ja völlig fertig mit den Nerven!“

Ich schreie zurück:

„Soll ich Tabletten schlucken und so enden wie Marhamat? Als Punchingball, auf den du eindreschen kannst, wie’s dir passt?!“

Ich bleibe stehen und schreie noch lauter:

„Ich bin nicht Marhamat!! Wie oft soll ich dir das noch sagen?! Ich bin nicht Marhamat!! Ich bin nicht Marhamat, der du nach Lust und Laune Unglück aufbürden kannst!!“

Weil ich brülle, höre ich nicht, was er antwortet. Schlimmer noch, egal was ich sage, es beruhigt mich nicht. Ich schleudere seine Aktentasche weg, die ich ihm bis hierhin getragen habe. Sie trifft ihn am Bein.

„Geh und such dir ‘ne neue Marhamat. Ich bin nicht dein Dienstmädchen!“

Er bückt sich, hebt die Tasche auf. Er klingt traurig:

„Natürlich bist du nicht sie. Auch wenn du dich umbringst, wirst du nicht sie.“

Ich höre und staune. In diesem Tonfall hat er noch nie von Marhamat geredet. Ich schlucke meine Tränen, überwinde einen Erdhügel, erreiche ebenes Terrain. An der Bushaltestelle sitzen Leute. Ein Mann steht auf, weil er den Bus kommen sieht. Ich schaue hinter mich. Mein Vater, einen Arm weiter vorgestreckt als sonst, will sich ganz offenbar allein bis zur Haltestelle durchschlagen. Vor unserem Streit hatte ich ihm gesagt: „Es sind nur noch ein paar Schritte bis dahin.“ Ein langer lilafarbener Faden hat sich an den Saum seines Hosenbeins verirrt. Marhamat hätte sich gebückt und ihn abgezupft. Noch hundert Meter. Wenn er sich’s anders überlegt und umkehren will, wird sein Weg länger. Er scheint sich nicht beirren zu lassen, geht weiter Richtung Haltestelle. Sein rotes Hemd hat an der Schulter einen Staubfleck. Wo hat er sich den zugezogen? Jetzt verliert er die Orientierung und geht von der Haltestelle weg. Ich lege instinktiv zwei Finger an die Lippen, um zu pfeifen, wie früher, als Kind, wenn ich ihm ein Zeichen geben wollte. Weil der Kloß in meinem Hals aber sehr fest sitzt, kann ich kein Wort sagen und bringe erst recht keinen Pfiff zustande. Ich renne zur Haltestelle. Durchs Busfenster kann ich sehen, wie mein Vater in seinem roten Hemd sich weiter und weiter von der Haltestelle entfernt.

Zwischen zwei Türen

Подняться наверх