Читать книгу Aus vollem Leben - Nataly von Eschstruth - Страница 4

Rosen unterm Schnee.

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Es war eine milde, mondhelle Frühlingsnacht.

Silbern verschleiert tauchten die gewaltigen Berghäupter aus den tiefen Thalschatten empor, die Wellen des Flusses, welche so eilig und geschwätzig zwischen den hohen Ufern dahin schäumten, glitzerten in zauberhafter Schöne, wie ein breites Silberband, welches Feenhände um die Stirn der schlafenden Erde geschlungen, und aus dem nahen Wald wogte duftiger Lenzesodem, köstlich rein und frisch, durchduftet von den Blüten, welche im Garten die jungen Gesichtchen dem Vollmond zuwandten.

Die Nachtigallen jubelten und klagten aus dem blühenden Flieder empor, und die beiden jungen Mädchen, die an dem offenen Fenster des altehrwürdigen Hauses lehnten und voll schweigenden Entzückens in dieses Maienparadies hinausträumten, umschlangen sich fester und inniger und schmiegten die rosigen Wangen aneinander, wie zwei Menschenkinder, die in Liebe und Treue Eins geworden sind.

Nora und Otty waren Pensionsgenossinnen und hatten in dem grauen Hause, das so heimlich und versteckt wie ein Dornröschen in seinem Blütengarten lag, drei glückselige Jugendjahre verlebt.

Sie hatten sich sogleich vom ersten Blick an gefunden, als die zierliche kleine Otty mit den kecken, dunkelblitzenden Augen, welche freilich in diesem Moment recht verweint und schüchtern blickten, zum erstenmal in den Kreis der Pensionärinnen geführt wurde.

Da sah sie, wie die jungen Mädchen ihr recht neugierig, prüfend und musternd entgegenblickten, wie sie spöttisch die Näschen über ihre thränenfeuchten Wangen rümpften, ihren altmodischen Mantel und Hut heimlich verspotteten und sich unmerkliche Zeichen machten, die ein allgemeines Lippenbeissen und unterdrücktes Kichern zur Folge hatten. Nur ein paar grosse, ernste, leuchtend blaue Mädchenaugen richteten sich voll herzlicher Teilnahme auf die Neuangekommene, und die schlanke, blonde Nora trat freundlich neben die kleine Otty, legte den Arm um sie und küsste sie auf die Wange.

„Wir wollen gute Kameradschaft halten, Otty Florenzius!“ sagte sie herzlich; „wir werden in einem Zimmer wohnen, und ich hoffe, dass wir viele schöne Jahre miteinander darin verleben!“ —

„Natürlich, Nora bekommt stets die Neulinge zum Eindressieren!“ lachte eine Stimme aus der Schar der anderen jungen Mädchen, und abermals erhob sich ein allgemeines Kichern und Prusten; Otty aber umklammerte jählings die Hand ihrer schlanken Beschützerin und lächelte unter Thränen zu ihr auf: „Wie freue ich mich, dass gerade du mit mir zusammen wohnen sollst! Ich bin von daheim so viel Liebe gewöhnt, Grossmama war Tag und Nacht um mich, und mein guter Vater verzog und verwöhnte mich so sehr! Nun Grossmutterchen tot ist, ward es notwendig, dass ich in eine Pension kam, — ach ... und du glaubst nicht, Nora, wie schwer es ist, wenn man zum erstenmal von Hause fortkommt!“

„Ihr wohnt auf dem Lande, Otty?“

„Ja, Papa besitzt ein schönes, grosses Gut, aber es ist einsam gelegen, und weil Grossmama kränklich war und Vater sehr still und wortkarg ist, so hatten wir keinen Verkehr. Du musst also schon Geduld mit mir haben, liebe Nora, wenn ich in erster Zeit allzu scheu und sonderbar bin, — ich denke, ich überwinde es aber bald.“ — Nora nickte ihr lächelnd zu und hatte viel Geduld und viele Liebe zu dem armen, jungen Kind, welches gar bald Qualen des Heimwehs litt und zu niemand Vertrauen fasste, als zu der stillen, ernsten Nora mit dem Madonnengesicht und den Veilchenaugen.

Eine innige, grosse Freundschaft entwickelte sich aus diesem täglichen Verkehr, und als ein paar Monate vergangen waren, da hatten die beiden jungen Mädchen ahnungslos die Stellen getauscht.

Aus der schüchternen, etwas altmodisch erzogenen Otty war ein lebenslustiges, elegantes und bildhübsches Mädchen geworden, das bald im Kreise der Gefährtinnen tonangebend war. Es war bald bekannt geworden, dass Otty eine reiche Erbin war, — ihr Vater versorgte sie in ausgiebigster Weise mit Geld, — und da die Pension keine allzu strenge war, sondern den jungen Mädchen hauptsächlich Umgangsformen und eine Ausbildung in schönen Künsten, Musik, Malerei und Gesang geben sollte, so konnte Otty nach Herzenslust in den Magazinen der Stadt einkaufen, um sich modern und elegant zu kleiden, oder sich und ihre Mitschülerinnen durch allerhand Näschereien zu erfreuen.

Aus dem ehemals so unscheinbar aussehenden Mädchen entwickelte sich in der Stadtluft gar bald ein recht elegantes, allerliebstes kleines Fräulein, dessen sprudelnde Laune und Lebhaftigkeit ihr alle Herzen gewann. Nora sah oft ein wenig besorgt in die kecken, lustblitzenden Augen, welche das Leben so gar nicht ernst nehmen wollten, und sie musste oft ihren ruhigen, gesitteten Einfluss geltend machen, wenn die leichtsinnige kleine Freundin trotz aller Vorstellungen die rosa Briefchen aufhob und mit leisem Gelächter las, die ihre Verehrer heimlich über den Gartenzaun warfen.

Nora war sehr ärgerlich, wenn ihre Freundin während der Spaziergänge mit den Primanern und Fähnrichen kokettierte und sich in den Tanzstunden allzu sehr den Hof machen liess: aber wenn sie ihre Ermahnungen anhub, schlang Otty stürmisch den Arm um ihren Nacken, blickte ihr mit den blitzend dunklen Augen so voll Übermut und strahlender Heiterkeit in das Antlitz und jubelte so herzgewinnend froh und kindlich heiter: „Nora vergieb mir! — ach es ist ja so schön, sich zu amüsieren, sich anbeten zu lassen, du weisst, Nora, dass ich es nicht böse meine, wenn ich lache und tanze!“ — dass die ernste Freundin wohl oder übel sich drein finden musste.

„Ja, Otty, ich weiss es, dass du nicht die Absicht hast, kokett zu sein, — dein Wesen hat nur leicht diesen Anschein, und darum solltest du alles vermeiden, was es auffällig macht! Ich begreife nicht, wie du Menschen, die dir gleichgültig sind, ja über die du heimlich deine Witze machst, so anmutig anlächeln und sie mit so bezaubernden Augen ansehen kannst! Ich wäre dies gar nicht imstande, denn es ist doch immer ein bisschen Falschheit, den Menschen Empfindungen zu zeigen, die man nicht für sie fühlt!“

Otty lachte hell auf: „Ja du! Du liebe Heilige! Du nimmst alles so furchtbar ernst und solide wie eine Nonne! Wo sollte dann die Fröhlichkeit herkommen, wenn wir alle Leute nach unseren ehrlichsten Gefühlen behandeln wollten! Da würden wir das Lachen bald verlernen! Dass ich recht in diesem Punkte habe, kannst du schon an den Erfolgen sehen! Du bildhübsches, grosses, schlankes Mädchen mit dem ewig ernsten, stillen Wesen stehst unbeachtet beiseite, weil du es in deiner Redlichkeit nicht fertig bringst, den Menschen ein X für ein U zu machen! Ich garstiger kleiner Sprühteufel hingegen bin umschwärmt und verehrt wie ein Götzenbild, warum? Weil ich es mit der Aufrichtigkeit nicht allzu genau nehme, sondern die Menschen in meinem Interesse ausnutze. Du nennst das unedel — und egoistisch — und Gott weiss wie noch! Aber du musst mir zugeben, dass es trotz alledem praktisch und weltklug ist, und dass ich sehr viel bessere Geschäfte im Leben machen werde, als du, mein Liebling!“ —

Nora schüttelte traurig den Kopf — und doch konnte sie der kleinen Schelmin nicht zürnen, im Gegenteil, gerade die grossen Gegensätze ihrer Charaktere berührten sich sympathisch, und wenn Otty auch in allen anderen Dingen wankelmütig und selbstsüchtig erschien, — in ihrer Freundschaft war sie es nicht, — im Gegenteil, sie kannte keine grössere Freude, als Nora Beweise ihrer Liebe und Zärtlichkeit zu geben, sie überschüttete sie mit Geschenken und fand gar nicht genug Worte, um die Freundin ihrer Liebe und Treue zu versichern.

So waren drei Jahre wie im Flug entschwunden, eine glückselige, harmonische Zeit, an die alle Pensionärinnen voll dankbaren Entzückens zurückdachten.

Nun hatten Noras Eltern die Tochter heimgerufen, und die beiden Freundinnen sassen zum letztenmal Arm in Arm an dem offenen Fenster ihres lieben, trauten Stübchens, um die ganze Poesie solch eines Trennungsschmerzes voll bitter-süsser Thränen auszukosten.

„Nora — wirst du mich auch nicht vergessen?“ — schluchzte Otty und umschlang die Gestalt der Freundin voll leidenschaftlicher Zärtlichkeit.

Nora küsste die fragenden Lippen: „Welch ein Gedanke, mein Liebling! Du weisst, dass mein ganzes Herz voll steter Treue dir allein angehört!“

Otty richtete sich empor und blickte forschend in das vom Mondlicht beschienene Gesicht der Sprecherin. „Nein, Nora! Das weiss ich nicht!“ stiess sie erregt hervor; „früher war ich dessen wohl gewiss, aber seit kurzer Zeit — seit du den dritten Brief aus Düsseldorf bekamst — — —“

Nora zuckte leicht zusammen. „Aber Otty — ich verstehe dich nicht —! Was meinst du damit?“

„Was ich meine?! Dass du seit jenem Tage ein Geheimnis vor mir hast, Nora! O glaube ja nicht, dass ich so kurzsichtig und thöricht bin! Ich habe es wohl gesehen, wie heiss du erglühtest, als dein Blick die Briefadresse traf, — du kanntest die Schriftzüge ganz genau, und dann verliessest du unter einem Vorwand das Zimmer, um das Schreiben heimlich öffnen zu können. Heimlich, Nora! Heimlichkeiten auch vor mir! Glaubst du, ich hätte dich nicht beobachtet? Wie verklärt sahst du aus! Deine Augen strahlten! Dein ganzes Wesen war verändert und ist es auch noch; soll ich dir sagen, warum? Du hast ein Bild erhalten, von einer Person, welche du viel — viel — ach tausendmal lieber hast, als mich!“

Und Otty barg ihr Antlitz schluchzend an der Schulter der Freundin.

Nora von Rastatt war heiss erglüht. Sie atmete schwer auf und drückte die bebende Gestalt der Kleinen fest und innig an sich.

„Nein, Otty — nicht tausendmal lieber ... wohl aber ... ach, wohl aber ebenso lieb wie dich!“ sagte sie leise mit ihrer weichen, seelenvollen Stimme.

Otty Florenzius hob jählings das Köpfchen. „Also doch! O du Böse! Und davon hättest du mir freiwillig kein Wort gesagt! Ist das etwa ehrliche Freundschaft, wie?!“

Nora verschlang die bebenden Hände. „Verzeih mir, Otty! — Ich sehe es selber ein, dass ich vielleicht unrecht that, dir etwas zu verheimlichen, was seit Jahren schon meine ganze Seele erfüllte! Aber es giebt Empfindungen, die nicht zum müssigen Geschwätz erniedrigt werden dürfen, und je heiliger ein Gefühl ist, desto sorgsamer verbirgt man es!“ —

Einen kurzen, schweren Kampf kämpfte sie mit sich, dann aber schlang sie jählings die Arme um Otty, blickte ihr wie in beschwörender Frage ins Gesicht und flüsterte: „Meinst du es treu mit mir, Otty — von ganzem Herzen treu?“ —

Die Kleine faltete hastig die Händchen über der Brust: „Treu bis in den Tod! — Ich werde dein Geheimnis ewig hüten und wahren!“

Nora küsste sie auf die Lippen, zog das dunkle Lockenköpfchen fester an sich und flüsterte: „So höre. Es war ein halbes Jahr nach meiner Konfirmation, als meine Eltern mich selber hierher in die Pension brachten, wo ich bis zu meinem achtzehnten Lebensjahre bleiben sollte, denn in meinem kleinen Heimatstädtchen hatte ich keine Gelegenheit, mich in der Musik auszubilden.

Wir reisten über Düsseldorf, und an der Bahn empfing uns der Sohn eines intimen Jugendfreundes meines Vaters.

Er hiess Raoul von Glärnisch und bildete sein hervorragendes Maltalent auf der Akademie in Düsseldorf aus. — O Otty — welch ein Augenblick, als ich ihm zuerst in die Augen sah! — Ich bin seit jeher ein stilles, ernstes Mädchen gewesen, ich habe niemals geschwärmt und mich bald hier, bald dort begeistert, wie du, kleine Libelle! — Ich bin schwerblütig beanlagt, und ein Gefühl, das mich beherrscht, ist keine Eintagsfliege, sondern ein Stück Leben, ein Teil meines ureigensten Ichs. — Nie zuvor hatte ich einen Menschen kennen gelernt, der einen so tiefen, unauslöschlichen Eindruck auf mich gemacht, wie Raoul! Seine ideale, sonnige Schönheit entzückte mich, seine Liebenswürdigkeit liess mein Herz höher schlagen, seine Kunst, sein reiches Wissen imponierten mir. — Und es war, als ob eine geheime Zaubermacht auch sein Herz in Banden geschlagen. Inniger und zärtlicher ruhte sein Blick auf mir, länger hielt er meine Hand, fester, ausdrucksvoller drückte er sie.

‚Fräulein Nora — wissen Sie wohl, was ich möchte?‘

Ich blickte fragend in seine leuchtenden Augen auf.

‚Als Ingeborg möchte ich Sie malen!‘ rief er leidenschaftlich: ‚Auf einsamem Felsstein am Meere sitzend, das blonde, herrliche Haar gelöst im Winde flatternd, den Falken auf der Hand und den Blick voll tiefen Liebessehnens hinaus auf das graue Nordlandsmeer gerichtet —:

Konnt fernhin sehn —

Die Segel wehn!

Ach sie dürfen Fritjof auf weiten

Meeren geleiten!‘

Ich ward sehr verlegen bei seinen schmeichelhaften Worten, noch verlegener aber senkte ich die Blicke, als ich in seine Augen schaute, die noch viel mehr, — ach so unendlich viel mehr sagten, als diese Worte!

Mein Vater lachte. ‚Könnte wahrlich ein schönes Bild werden, Raoul! Fürerst aber machen Sie Ihre Studien dazu, und Nora spielt noch zwei oder drei Jahre Fingerübungen und Sonaten in ihrer Pension! Wenn ihr dann beide fertig ausgebildet seid und mein Mädel zu uns heimkommt, melden Sie sich zum Besuch an, Freund Glärnisch, und malen die Ingeborg!‘

O wie jauchzte mein Herz bei diesem Gedanken, wie flammte es so heiss und verräterisch in meinen Augen auf!

Nachmittags fuhren wir rheinab, und Raoul begleitete uns.

Es war eine Mondnacht — so wie heute! Lind und duftig — zauberhaft schön und blütenfrisch wie jene Maiennacht, da der Trompeter unter das Turmfenster seiner Margareta trat und das Lied blies: ‚Jung Werner ist der glückseligste Mann im römischen Reich geworden!‘ — Ach Otty, auch ich ward in jenem Frühlingswehen das glückseligste Wesen auf Gottes weiter Welt! Raoul stand neben mir an dem Schiffsgeländer und träumte gleich mir still in die Pracht hinaus, welche, in silberne Lichtfluten getaucht, an uns vorüberzog. —

Und plötzlich nahm er meine Hand in die seine, drückte sie voll leidenschaftlicher Innigkeit und neigte sich nahe, ganz nahe zu mir.

Was er da alles in mein Ohr flüsterte — o ich weiss es noch so genau und vermöchte doch nicht, es zu wiederholen! Aber in jener seligen Stunde gelobten wir uns einander an, und siehst du, Otty, das ist der Grund, warum ich mich so still von allen Vergnügungen, die euch entzückten, zurückzog; warum ich nach keinem andern Herrn blickte und keine Aufmerksamkeiten und Huldigungen duldete. Ich liebe Raoul! Und diese Liebe wird meines ganzen Lebens Inhalt sein! — Du wirst das noch nicht verstehen, mein Liebling, denn dein flatterhaftes Herzchen hat die grosse, heilige und wahre Liebe, die selbst den Tod überdauert, noch nicht kennen gelernt!“

„Aber ich werde sie kennen lernen, Nora!“ rief das junge Mädchen mit glühenden Wangen und presste die Freundin leidenschaftlich an die Brust, „und ich werde so lieben wie du! Treu bis in den Tod! O wehe mir, wenn mich dann der Erkorene nicht wiederlieben würde! Ich ginge zu Grunde an solchem Unglück! Doch warum jetzt an so etwas denken! Jetzt, wo ich mich mit dir freuen und vor Glückseligkeit in alle Welt hineinjubeln möchte! Der Brief aus Düsseldorf war natürlich von ihm, dem Herrlichsten von allen — und er hat dir sein Bild geschickt — und was geschrieben?“

„Was er schrieb?“ Nora lächelte wie verklärt. „Dass er nun meines Vaters Wort einfordern und zu uns kommen wolle, um seine Ingeborg zu malen!“ flüsterte sie und strich mit der Hand wie träumend über ihr glänzendes, goldblondes Haar —: „Ach Otty, — du ahnst nicht, was dieses Wiedersehen für mich bedeutet! Den Gipfel alles Glückes! Die Erfüllung all meiner sehnlichsten Wünsche, die Verwirklichung alles dessen, was mir die vermessensten Träume vorgegaukelt!“

Otty nahm das glühende Antlitz der Specherin zwischen ihre kleinen, heissen Hände und küsste stürmisch Wangen und Mund.

„Ja, du wirst glücklich sein, Teuerste! Und ich werde mich in deinem Glück sonnen und mich mit dir freuen! Wer verdient es mehr auf der Welt, als du! — Aber ach —“ und die Sprecherin schlug plötzlich die Hände vor das erregte Gesichtchen und schluchzte laut auf, „wenn du dich verlobst und verheiratest, dann wirst du mich um des Geliebten willen vergessen, dann wird unsere Freundschaft zu Grabe gelegt werden, denn nicht umsonst heisst es: ‚Hochzeitsglocken sind der Freundschaft Sterbeglocken!‘ —“

Nora zog die Weinende voll grosser Innigkeit an sich. „Daran glaubst du selber nicht, Otty!“ sagte sie sehr ernst, „dazu kennst du mich zu gut! — Du weisst, dass ich nichts im Leben so hoch und heilig halte wie die Treue! — Wem ich jemals die Treue gelobte, dem halte ich sie unverbrüchlich, mag da kommen, was wolle, mag sie noch so schwer auf die Probe gestellt werden, ich breche sie nicht; aber ich verlange auch von denen, welchen ich mein Herz so völlig zu eigen gebe, dass sie nur wieder die Treue halten! — Um mich brauchst du dich nicht zu sorgen, Kleine, wohl aber könnte ich um dein sorgloses, flatterhaftes Herzchen bangen, dass es mir nicht eines schönen Tages doch davonfliegt und die arme Nora einsam und unglücklich zurücklässt!“

Otty schüttelte heftig die dunklen Löckchen aus der Stirn und umarmte die Freundin in ihrer erregten, leidenschaftlichen Weise so ungestüm, dass Nora kaum zu atmen vermochte.

„Ich? Ich sollte dir jemals die Treue brechen?“ rief sie, „niemals, Nora! Das schwöre ich dir! Nicht einmal — nein hundert-, tausendmal! Gott soll mich strafen, wenn ich jemals vergesse, was du mir Gutes gethan, wie viel Liebe und Freundschaft du mir geschenkt! Himmel und Erde sollen einstürzen, wenn ich je im Leben falsch an dir handeln oder dich vergessen würde! Hörst du, Liebste, das schwöre ich dir! Und du sollst das gleiche thun — du sollst mir ebenfalls Treue geloben.“ — —

Nora legte mit ernstem Lächeln die Hand auf den Mund der Sprecherin. „Nicht mit solchen Worten, mein Liebling, die klingen theatralisch und überschwenglich, die liebe ich nicht. Hier meine Hand! Und blick in meine Augen, darin sollst du lesen, wie treu ich es mit dir meine!“

Wieder umarmte und küsste Otty Florenzius das ernste Mädchen voll glühender Begeisterung, und als sich der Sturm ihrer Gefühle etwas gelegt, fragte sie plötzlich: „Und sein Bild hat er dir geschickt? Weisst du auch, dass ich dir eigentlich böse sein müsste, weil du dein Geheimnis so lange vor mir gehütet hast? Ich entschuldige es lediglich mit deiner ganzen Art und Weise, die so verschlossen und schweigsam ist, dass man es nicht als ein Zeichen von Misstrauen auffassen kann! Nun lass mich aber schnell sein Bild sehen! Ich muss wissen, wie der Mann aussieht, der dieses stolzeste und sprödeste aller Herzen zu eigen gewann!“

Die Sprecherin hustete scharf auf und zog fröstelnd ein Tuch um die Schultern, Nora aber sprang erschrocken von dem Fensterbrett herab. „Du hustest schon wieder, Kleine!“ sagte sie besorgt, „beim Abschiedsfest der Tanzstunde hast du dich doch tüchtig erkältet! Ich warnte dich gleich, als du die kalte Limonade trankst, du warst viel zu erhitzt, und Tante Emma hatte es auch streng verboten! Komm schnell in das Zimmer! So herrlich diese Mondnacht auch ist, die Luft scheint doch zu kühl für dich zu sein!“

Otty lachte. „O du lieber Angsthase! Dies bisschen Husten ist gar nicht der Rede wert! Da hättest du mal hören sollen, wie ich daheim in dem kalten, grossen Gutshaus oft gehustet habe! Beinahe so schlimm, wie mein armes Mütterchen, ehe sie starb! — So; nun hast du deinen Willen. Ich schliesse das Fenster und stecke Licht an! Zur Belohnung darf ich nun aber auch sein Bild sehen, — ja?“ —

Etwas zögernd griff Nora in die Tasche ihres Kleides und entnahm ihr einen Brief. Man sah, es kostete sie einige Überwindung, ihr grösstes Kleinod fremden Blicken preiszugeben, — und wenn es auch die der besten Freundin waren.

Mit leicht bebenden Händen schlug sie das feine Seidenpapier zurück und bot der Gefährtin die Photographie dar. „Hier sieh!“ sagte sie schlicht und innig: „Mein ganzes Glück!“

Otty neigte sich hastig gegen das Licht, und ihr Blick traf schier ungeduldig forschend das schöne Männerantlitz, das ihr aus dem Bild entgegenlächelte.

Ein leiser Laut höchster Überraschung und höchsten Entzückens.

Wie gebannt starrte sie auf Raoul von Glärnisch nieder, und in Noras Wangen flammte es purpurn heiss vor stolzer, seliger Freude und Genugthuung.

„O Himmel, wie schön, wie blendend schön ist er!“ stiess Otty atemlos hervor: „Wirklich, liebstes Herz — so viel hatte ich nicht erwartet! Welche Augen! Welch ein Gesicht! Der Apoll von Belvedere ist nicht schöner als er! O Nora! Nora! ja du bist glücklich — beneidenswert glücklich!“

Otty rief es in derselben überschwenglichen Weise wie zuvor, und doch hatte ihre Stimme plötzlich einen andern Ausdruck, sie umarmte die Freundin flüchtiger als zuvor und wandte sich sofort wieder dem Bilde zu.

„Hat er blaue Augen? Auf dem Bild hier sehen sie eigentlich dunkel aus! Und die Locken ... wie bildschön ringeln sie sich um seine Stirn, so ein echter, rechter Künstlerkopf — o und die Hand ... welch eine klassische Form hat sie! Ist er gross oder klein? Grösser als du? — Und sieht er sehr blass und interessant aus, oder hat er frische Farben? ...“

So sprudelte es von ihren Lippen, und Nora griff lächelnd nach dem Bild und sagte: „Halt! halt! eine Frage nach der andern! — Ich denke, ich kann sie alle zu deiner Zufriedenheit beantworten! Und dabei traf ihr Blick voll zärtlichster Liebe das Bild des Verlobten, und sie neigte das Antlitz und drückte einen Kuss darauf. Über Ottys lebhaftes Gesichtchen flog unmerklich ein Schatten. Sie warf sich auf einen Stuhl und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „O du Glückliche!“ seufzte sie, „ja, es muss schön sein, solch einen herrlichen Herzliebsten zu haben! — Ob der meine wohl jemals ebenso schön sein wird? Ach, einen Maler hatte ich mir seit jeher gewünscht, es ist so poetisch, und die Künstler sind alle so interessant! Ja, du kannst wirklich lachen, Nora! Du bist ein Glückspilz!“

„Möchte Gott mir dieses Glück schirmen! Raoul ist nicht nur schön, er ist auch brav und edel, und das ist die Hauptsache! Nun aber lass uns zu Bett gehen, mein Liebling, es ist schon sehr spät geworden, und du siehst plötzlich so bleich aus, — die Nachtluft hat dir am Ende doch geschadet!“

Die Sprecherin neigte sich voll zärtlicher Sorge über die Freundin, und Otty schlang voll etwas nervöser Innigkeit die Arme um ihren Nacken.

„Ja, ich bin müde geworden, — wir wollen uns beeilen, dass wir zu Bett kommen. Gute Nacht, meine liebe, liebe Nora, — du Glückliche! — träume von ihm! —“

„Die letzte Nacht in der Pension, — die letzte Nacht in unserm trauten Stübchen!“ nickte Nora voll Wehmut, und just als habe sie nur auf einen Anlass gewartet, um ihren Gefühlen freien Lauf zu lassen, schluchzte Otty plötzlich laut auf und warf sich bitterlich weinend auf ihre Kissen. „Du sollst nicht fort von mir! Ich ertrage es nicht!“ rief sie voll leidenschaftlichen Trotzes, „ich will es nicht! Bleib’ hier, Nora! Ich sterbe, wenn du gehst!“

Da nahm Nora die Aufgeregte wie ein kleines Kind in den Arm und beruhigte sie, und als Otty das blasse, weinende Gesicht zum Schlaf neigte, sass Nora noch neben ihrem Bett und hielt trostreich und liebevoll die heisse kleine Hand in der ihren.

Spät erst, als sie die Freundin in festem Schlaf wähnte, suchte sie selber ihr Lager auf.

Otty schlief aber nicht.

Mit weitoffenen, brennenden Augen lag sie und starrte in das mondhelle Zimmer. „Wie glücklich, wie beneidenswert glücklich!“ war der einzige Gedanke, der sie beherrschte, und dabei schwebte das schöne Männergesicht vor ihr, wie eine Vision.

Wahrlich, so schön hatte ihr noch kein anderer je zuvor gedeucht, und dieser ... gerade dieser war der Bräutigam der besten Freundin!

Welch irre, wirre Gedanken kreuzen plötzlich hinter ihrer Stirn. Wie mit dämonischen Gewalten drängt und treibt es sie.

Leise, ganz leise und heimlich gleitet sie aus dem Bett, schleicht neben das Lager der Freundin und tastet nach deren Kleiderrock.

Hier in der Tasche knistert der Brief. — —

Otty beisst wie in leidenschaftlichem Trotz die Zähne zusammen und zieht Brief und Bild vorsichtig heraus. —

Lautlos wie ein Schatten flieht sie mit der kostbaren Beute in ihre Kissen zurück.

Ein neues, ganz fremdes, unerklärliches Gefühl beherrscht sie. Sie kennt keine Scham und Reue über ihr verächtliches und frevelhaftes Thun, nur eine Empfindung höchster Genugthuung und fiebernden Entzückens überkommt sie.

Nun gehört er auch ihr, der schöne, bildschöne Mann, nun muss ihn Nora mit ihr teilen ... wenigstens in effigie ...

Sie verbirgt ihren Raub auf das sorgsamste und schläft ein.

Wüste, beängstigende Träume quälen sie, vor einem Abgrund steht sie — am jenseitigen Ufer Raoul. Sie breitet die Arme nach ihm aus und ruft ungestüm seinen Namen, er lächelt und bietet ihr die Fingerspitzen dar.

Sie will sie erhaschen — um jeden Preis — und sie springt blindlings über die Tiefe hinweg. Die Felsen aber weichen zu beiden Seiten zurück — sie kann nicht Fuss fassen und sinkt in die Tiefe ... Eiseskälte durchschauert sie — ihr Herzschlag stockt — dunkel wie ein Grab wird es um sie her — —

„Nora! Nora!“ schreit sie gellend auf. —

Zwei Arme umfassen sie liebevoll rettend wie die eines Engels.

Sie erwacht.

Nora neigt sich über sie und streicht ihr zärtlich mit der kühlen, weichen Hand über die schweissbedeckte Stirn.

„Kind — du träumst ja gar zu ängstlich! Komm, ermuntere dich, — es ist so wie so schon die höchste Zeit, wir haben es beide tüchtig verschlafen!“

Welch eine Hast und Unruhe.

Nora muss sich in fliegender Eile ankleiden, frühstücken, sich verabschieden.

Die ganze Pension giebt ihr das Geleit zum Bahnhof.

Arm in Arm schreitet sie mit Otty, und wenn sie in das blasse Gesichtchen sieht, das sichtlich vermeidet, die Augen zu ihr aufzuschlagen, so überkommt sie tiefste Rührung und Mitleid. Wie schwer, wie unendlich schwer fällt dem armen Kind der Abschied!

Der letzte Kuss — die letzte Umarmung, — da hebt Otty plötzlich das Köpfchen und blickt der Freundin mit seltsam flehendem, beinahe zwingendem Blick in das Antlitz.

„Ich besuche dich, Nora — ich muss dich besuchen! Ich sterbe vor Sehnsucht!“ stösst sie hervor.

„Ei, du liebes Närrchen, das ist doch selbstververständlich!“ lächelt Fräulein von Rastatt: „Das haben wir doch längst ausgemacht! Du meintest nur, vor dem Herbst werde es dir nicht recht möglich sein — —“

„Doch! Doch!“ nickt Otty aufgeregt, „ich komme schon bald — sehr bald —! Schreib mir nur alles, sehr, sehr ausführlich ...“

„Bitte einsteigen! einsteigen!“ klingt die Stimme des Schaffners neben ihnen, die Pensionsmutter schliesst ihren Zögling noch einmal in die Arme — man trennt sich.

Einsilbig und voll düsterer Träumerei — oder ganz unmotiviert ausgelassen und übermütig ist Otty Florenzius.

Man nennt es Heimweh nach Nora und beklagt sie im stillen.

Schon der zweitfolgende Tag bringt ihr einen Brief von der Freundin.

Nora schreibt ganz unglücklich und verzweifelt. In dem Reisetrubel hat sie Brief und Bild verloren. „Hat es sich vielleicht in unserm Zimmer gefunden? Ach, Otty, ich weine mir die Augen danach aus, es kommt mir vor wie ein böses, trauriges Omen ...“

Nein, weder Bild noch Brief hatte sich gefunden! Otty schrieb in sehr überschwenglichen Worten ihr Bedauern darüber. „Und sollte es ein böses Omen sein, mein Liebling, — so nimm es dir ja nicht zu Herzen! Du weisst, dass Ehen im Himmel (oder in der Hölle!!) geschlossen werden, und manch aufgelöste Verlobung hat sich schon als grosses Glück erwiesen!“ —

Nora antwortete bald. „Dass du kleine Schmetterlingsseele dich bald über eine gelöste Verlobung trösten würdest, glaube ich wohl! Du weisst aber, wie verschieden wir beanlagt sind. Raouls Liebe verlieren bedeutet für mich den moralischen Tod. — Mein Leben würde von solchem Augenblick an ausgelebt sein, denn ohne ihn kein Glück! — Gott sei Lob und Dank brauche ich solch ein namenloses Unglück aber wohl nicht zu befürchten. Eben meldet sich Raoul an. In acht Tagen ist er bei uns. Ich habe ihn gebeten, erst das Bild seiner Ingeborg zu vollenden und dann von meinen Eltern das Jawort zu erbitten, — sehen sie, welch ein Künstler er ist, entschliessen sie sich wohl eher, denn noch trägt Vater mancherlei Bedenken, da weder Raoul noch ich über grosse Mittel verfügen ...“

Ottys hübsches, pikantes Gesichtchen mit den unruhig flackernden Augen hatte sich zuerst verdüstert, bei den letzten Zeilen aber blitzte es wie eitel Genugthuung darüber hin.

„In acht Tagen! Vortrefflich, dass der Doktor sich plötzlich so besorgt wegen meiner Lunge zeigt, sie wird den Vorwand abgeben, dass ich Luftveränderung brauche und reisen kann.“ Ja, Otty hustete mehr denn je und die Röte auf ihren Wangen vertiefte sich. Das stand ihr vortrefflich, und die grossen, glänzenden Augen waren fesselnder und eigenartiger als zuvor.

Ja, Luftveränderung!

Der Arzt und die Pensionsmutter konferierten längere Zeit und sahen beide recht besorgt aus. „Die Mutter ist auch an der Schwindsucht gestorben, es liegt in der Familie! Man muss sofort etwas dafür thun.“

Otty hatte an ihren Vater geschrieben, und der sehr ängstliche alte Herr wünschte die sofortige Heimkehr der Tochter, um mit ihr in ein heilsames Bad abreisen zu können.

Das junge Mädchen nickte sehr befriedigt vor sich hin und packte voll stürmischen Eifers die Koffer. Zuvor aber machte sie die weitgehendsten Einkäufe, Toiletten, Hüte, Mäntel und Matinees, alles so elegant und kostbar wie möglich.

„Ich reise ja zuvor zu Nora Rastatt, — da muss ich doch anständig aussehen, sonst hält man mich für ein armes Aschenbrödel!“ sagte sie mit wunderlichem Blick.

Und sie reiste zu Nora ab.

Welch ein Jubel des Wiedersehens!

Fräulein von Rastatt war von derselben ruhigen, tiefinnigen Herzlichkeit wie stets, ihr schönes Antlitz war verklärt von einem Hauch stillen Glückes, das machte sie älter und gereifter aussehend noch als früher.

Ottys überschwengliche Zärtlichkeit wirkte beinahe etwas unnatürlich.

Es hatte den Anschein, als suche sie gewaltsam mit schönen Worten über ein gewisses Etwas hinweg zu täuschen, was sich entfremdend zwischen sie und die Freundin geschoben. In dem Hause des pensionierten Oberstleutnants ging es schlicht und still zu, und so war es plötzlich, als sei mit dem eleganten kleinen Fräulein Otty ein ganz neuer Hauch unter das Dach geweht.

Welch ein Unterschied zwischen den beiden jungen Mädchen!

Nora, die stets thätige, wirtschaftliche, schritt in ihren schmucklosen Hauskleidern und praktischen Schürzen wie die verkörperte Prosa neben der Freundin her, welche in weissgestickten Kleidern, spitzenbesetzt und von farbigen Schleifen umflattert, wie ein reizendes Sommerwölkchen durch Haus und Garten schwebte.

Alles war Grazie, kecke, sprühende Laune an ihr, ihre zarte, wohl allzu zarte Gestalt stach sylphenhaft ab gegen die stolze, germanische Schönheit der kraftvoll blühenden Nora, die so gar nicht neben der pikanten Anmut des brünetten Sprühteufelchens zur Geltung kam.

Jede Schönheit und Eigenart wirkt auf das Auge eines Künstlers, und Raoul, dessen Malerauge besonders empfänglich für neue und anmutige Motive war, erblickte voll ehrlichen Entzückens in Otty die Quelle manch eines neuen, anregenden Gedankens. Ihre geschmackvollen, eleganten Toiletten gefielen ihm, sie stachen für den Künstler so vorteilhaft ab gegen die graue Einfachheit der Geliebten, auch amüsierte ihn das lebhafte, amüsante Wesen Ottys, ihr schelmisches Kokettieren, ihre fieberische irrlichtartige Unruhe.

Nora lag kein Gedanke ferner, als der der Eifersucht, und als Raoul den Wunsch aussprach, Otty skizzieren zu dürfen — er gebrauche noch lichte Geister für sein geplantes Gemälde „Im Reiche der Proserpina“, und die umschatteten, so übernatürlich glänzenden Augen des Fräulein Florenzius passten unbeschreiblich gut in die bläulich leuchtende Grotte des Orkus — da war es Nora selber, welche voll freudigen Eifers diese Idee aufgriff und den Vorschlag machte, während der „grossen Waschwoche“ sollten die Sitzungen für Ingeborg unterbrochen und Otty im Schleier der Euridice skizziert werden. —

Wo die Bäume des Gartens ihr grüngedämpftes Licht verbreiteten, malte Raoul sein neues Modell.

Nora wohnte den ersten Sitzungen bei, und ihr treues, redliches Auge weilte voll Entzücken auf dem Köpfchen der Freundin, das mit geisterhaft grossen Augen aus dem bleichen Schleiergewebe hervorträumte.

Ein paarmal überkam es sie wie ein leichtes Grauen. Es lag so etwas Überirdisches, Schattenhaftes in diesem Geistergesichtchen — und wenn sie hustete ...

Raoul lachte über ihre Befürchtungen. „Fräulein Otty ist kerngesund! Zart und ätherisch, vielleicht ein bisschen bleichsüchtig ... das wird sich alles schnell geben, wenn sie sich auf der Badereise erholen und pflegen kann. Ihr Vater ist ja ein schwerreicher Mann, der kann wohl alles thun, um seiner Einzigen eine kleine Erkältung wegzuschaffen!“

Die nächsten Tage war Nora viel im Hause beschäftigt, und wenn sie einmal einen flüchtigen Blick in das „Reich der Proserpina“ warf, so war sie meist so eilig, dass ihr die eigentümlich beklommene Stimmung, die wortkarge Verlegenheit der beiden kaum auffiel.

Sie fand auch keine Gelegenheit, viel mit Raoul zu plaudern oder einen Blick und Händedruck mit ihm zu wechseln, es schien, als ob er selber jede Gelegenheit dazu vermeide! Sein Wesen war plötzlich zerstreut, nervös und unruhig, und dabei klagte er über Muskelschmerzen im Arm, die ihm das Malen zur Zeit sehr erschwerten.

Er glaubte, es sei wohl besser, eine Pause zu machen.

Das „Ingeborgbild“ sei ja nicht so eilig, er könne fürerst noch eine kleine Studienreise machen und es später vollenden.

Auch Otty überraschte die Freundin mit dem Entschluss, dass sie sich unbedingt schon in den nächsten Tagen mit ihrem Vater treffen müsse; er sei jetzt am besten daheim abkömmlich, und die Badereise dürfe aus diesem Grunde nicht länger hinausgeschoben werden! —

Da Otty zuvor stets versichert hatte, sie sei an keinerlei Zeit gebunden, wunderte sich Nora wohl über die plötzliche Eile; da sie aber annahm, dass der Gutsbesitzer in der That mit den Tagen rechnen musste, so nahm sie voll unverändert grosser Herzlichkeit Abschied von ihrem kleinen Liebling.

Otty schien wieder sehr unter der Trennung zu leiden, sie sah ganz verstört aus, war einsilbig oder von einer ganz unmotiviert überschwenglichen Zärtlichkeit, weinte sogar und sagte den Eltern ihrer Freundin in so überstürzter Weise Lebewohl, dass sie wie ein helles Sommerwölkchen davongeflattert war, ehe man recht zum Bewusstsein dessen gekommen war.

Noras Blicken wich sie beharrlich aus.

„Schreibst du bald?“ bat Fräulein von Rastatt mit treuem Händedruck.

Da grub Otty die spitzen Zähnchen in die Lippe und nickte hastig: „Du wirst bald von mir hören, — Gutes, viel Gutes!“ — Und dann warf sie sich noch einmal jählings an die Brust der Freundin und lachte hell auf: „Nicht wahr, Nora, die Mädchen, die an gebrochenem Herzen sterben, sind Närrinnen? — Um Gottes willen nicht hinter einem Manne hertrauern —! Es giebt ein so hübsches Lied — kennst du es:

Ich hab mir Rosmarin gepflanzt,

Er wollte nicht treiben, —

Ich hab mit einem Bursch getanzt —

Der wollte nicht bleiben!

Die Strasse ist frei!

Und mag er mich nicht — —

So lässt er’s bleiben!

Nicht wahr, Nora, so vernünftig muss man sein? Und Gott sei Dank, du bist ja so ein gutes, vernünftiges Mädchen!“

Überrascht starrte Nora die Sprecherin an. Sie wusste nicht, was Ottys frivole Worte bedeuten sollten, aber ehe sie fragen konnte, setzten sich die Räder des Zuges in Bewegung, und wie eine Vision entschwand ihr das aufgeregte Gesichtchen ihrer so sehr geliebten Gefährtin, die heissgeröteten Wangen und die fieberisch glänzenden Augen.

„Wie schön sah sie doch aus, die kleine Seele aus dem Reich der Proserpina!“ lächelte Nora tief in Gedanken und schritt langsam nach Hause zurück, wo es plötzlich so still und einsam geworden war.

Jetzt erst, wo auch Otty gegangen, empfand sie voll und ganz das Wehe, welches ihr der Abschied des Geliebten geschaffen.

Über acht Tage waren vergangen, da traf ein dicker Brief aus Wiesbaden ein.

Er trug die Schriftzüge Raouls.

Wie hatte sie voll Sehnsucht und Herzeleid auf Nachricht von ihm gewartet!

Nun jauchzte ihr Herz auf! Mit bebenden Fingern erbrach sie den Umschlag. Ein kurzer Brief von ihm — ein steifes Kartonpapier mit Goldrand — —

Erstaunt starrt Nora es an, — neigt sich näher und liest ...

Ein leiser Weheschrei, — ein Blick namenlosen Entsetzens — — der Rittergutsbesitzer Florenzius zeigt die Verlobung seiner einzigen Tochter Ottilie mit Herrn Raoul von Glärnisch an! Träumt sie? Ist sie bei Sinnen? Quält sie nicht ein entsetzlicher Fieberwahn?

Otty und Raoul verlobt! — Sie, die beiden Menschen, die sie so unsagbar liebt, denen sie vertraut hat — an deren Treue sie geglaubt wie an sich selbst — sie haben ihr Leben vergiftet und sie betrogen? O, so erbärmlich — so schnöde verraten und hintergangen! —

Ihr Blick irrt über Raouls Zeilen.

Sie enthalten die alten Phrasen von Übereilung, von nicht zusammenpassen und harmonieren, sie flehen um Nachsicht und grossmütiges Entsagen: „Ich lernte mich selbst und mein Herz erst verstehen, seit ich Otty begegnete. Wie ein Rausch des Entzückens, wie ein Traum der Leidenschaft kam es über mich. — Glaube mir, Nora, ich habe dagegen angekämpft wie ein Held, mit dem ehernen Willen und der Verzweiflung eines Mannes, der fest entschlossen ist, seiner Ehre und Pflicht zu genügen. Aber die Liebe war stärker als ich. Vergieb mir, Nora! Ich weiss, wie unrecht ich handle, und dieses Bewusstsein ist der Gifttropfen in dem Becher des Glückes, ich werde es nie verwinden. Und dennoch sündige ich gegen dich und dein treues Herz! Ist das zu verstehen? Nur wer liebt, kann es begreifen, denn die Liebe ist eine Krankheit, ein Wahnsinn, welcher uns zu willenlosen Spielbällen unserer Gefühle macht!“ —

Thränen stürzten aus Noras Augen.

„Nein, das ist die Liebe nicht!“ schrie es in ihrem Herzen auf: „Die wahre und echte Liebe ist weder Krankheit noch Wahnsinn — und das, was dich an Otty fesselt, hat nichts mit diesem heiligen Gefühl gemein! — Wehe der Liebe, wenn sie so hilflos in der Sünde Sold stünde! — — Und hier am Schluss noch ein paar Worte von Otty: ‚Verzeih mir, Nora, — ich konnte nicht anders! Ich liebe ihn! — Mehr als alles, mehr selbst als dich! — Und wenn du mir fluchst und zürnst in Ewigkeit — ich kann nicht anders, ich sterbe ohne ihn!‘“ —

Mit einem Ausdruck des Ekels schleuderte Nora den Brief von sich, schlug die Hände vor das leichenblasse Antlitz und verharrte regungslos.

Anfänglich hatte der unverhoffte, namenlose Schmerz sie völlig gebeugt.

Tagelang wankte sie schattenhaft bleich, stumm und thränenlos durch das stille Haus, den einsamen Garten.

Ihre Eltern befanden sich auf einer kleinen Reise, sie war ganz allein, ganz verlassen in dein unaussprechlichen Weh, an welchem ihr Herz tropfenweise verblutete.

Eine grenzenlose Verachtung für die beiden Verräter erfüllte sie, und dieses Gefühl der herbsten Nichtachtung gegen Menschen, die man früher über alles geliebt, quälte sie mehr als der Gedanke an ihr gemordetes Glück, an ihre einsame, trostlose Zukunft.

Allmählich begann sie ruhiger zu denken. Die Erbitterung wich einem tiefen, schmerzlichen Mitleid.

Können zwei Menschen, die ihr Glück auf Verrat und Treubruch, auf dem vernichteten Dasein einer anderen erbauten, können die jemals glücklich sein?

Gewiss nicht.

Das, was sie zusammenführte, war keine Liebe, sondern ein kurzer Rausch, eine Verblendung, die über kurz oder lang ihre Macht verlieren muss.

Dann werden die Augen, die zuvor mit Blindheit geschlagen, sehend werden, und was sie erblicken, wird Elend sein!

Jede Weihe, jede hohe und heilige Lauterkeit fehlt einer Liebe, die von der Leidenschaft in den Staub gezerrt wurde. —

Und wo Gott nicht das Haus baut, da arbeiten umsonst, die daran bauen. —

Otty und Raoul werden sich heiraten, und es wird eine unglückliche Ehe mehr auf der Welt geben.

Hat der junge Maler aus Egoismus gewählt? Hat ihn das Gold der reichen Erbin geblendet? O nein! — Nora wies diesen Gedanken weit von sich.

Raoul konnte wohl in leidenschaftlicher Aufwallung eine Kette zerbrechen, die fürerst nur lose und leicht aus Rosen geschlungen war, aber niedrig und gemein konnte er nicht handeln, das wusste Nora, und trotz allen Herzeleids hielt sie die Erinnerung an jene beiden Menschen in ihrem Herzen wert und treu, immer noch entschuldigend und begütigend, wenn ihr Gerechtigkeitsgefühl sie anklagen wollte. —

Und je mehr sie sich klar wurde, dass man jene armen, fried- und ruhelosen Seelen mehr beklagen, als ihnen zürnen müsste, um so friedlicher und stiller ward es in ihrem Innern; sie gedachte der Verlorenen, wie man an Verstorbene denkt, — die man liebt und denen man die gelobte Treue hält, gleichviel, ob das Grab seinen dunklen Abgrund zwischen uns und ihnen aufgerichtet.

Ist die Liebe wirklich eine Krankheit, ein Wahnsinn? —

O gewiss nicht. Noras grosses, edles Herz wusste es besser. Ihre Liebe glich derjenigen, welche zum leuchtenden Vorbild jedweder Liebe geworden, — sie trägt alles, sie glaubt und duldet alles — die Liebe hört nimmer auf!“

Oft flogen ihre Gedanken wie weisse Tauben über Berg und Thal.

Ach, dass sie einmal — nur einmal noch Nachricht von Otty bekäme!

Haben sie schon geheiratet? Wo leben sie? Ist ihr Rausch schon verflogen, oder sind sie dennoch, trotz allem und allem, glücklich geworden, so wie Noras Gebet es ihnen in letzter Zeit so oft erflehte? —

Keine Antwort auf alle diese brennenden Fragen. Der Herbst zieht in das Land, der Winter kommt und breitet sein weisses Bahrtuch über die Erde.

„Nun sollst du tanzen und dich amüsieren, Nora!“ hat ihr Vater fröhlich ausgerufen. „Zuvor machen wir eine Reise nach Berlin! Ich habe fleissig gespart und denke, es sollen herrliche Tage dort werden. Du musst einmal heraus und die grosse Welt kennen lernen, Kind! Hier in der kleinen Stadt versauerst du mir, das sehe ich alle Tage an deinen blassen Wangen und den müden, traurigen Augen!“

Diese traurigen Augen leuchteten hell auf. „Nach Berlin!“ — wie lange war dies schon ihr sehnlichster Wunsch gewesen! Eine gute Oper — erlesene Konzerte hören, — wahrlich, diese genussreiche Abwechslung wird Balsam für ihr krankes Herz sein!

Voll Entzücken lebte sich Nora in diesen lockenden Gedanken ein, bereitete alles für die schöne Zeit vor und sehnte den Tag der Abreise herbei, — endlich sollte ihr armes, verkümmertes Leben einmal bunte, heitere Blüten tragen.

Da kam ein Brief.

Nora starrte mit bebenden Lippen auf die zittrige, matte Schrift hernieder. Von Otty! Ein Brief von Otty! Aus Montreux in der Schweiz geschrieben!

Mit bebenden Fingern, kaum fähig sich zu beherrschen, erbricht sie ihn.

Die Zeilen sind kurz mit Bleistift geschrieben.

„Meine Nora! Ich weiss, ich habe kein Recht mehr, an dich zu schreiben, geschweige deine Barmherzigkeit und deine alte Liebe zu mir anzurufen; dennoch thue ich es. Was ich auch gegen dich gefehlt — der Tod ist ein grosser Versöhner — und ich bin eine Sterbende. Ja, eine Sterbende, die doch nicht sterben kann, ehe sie noch einmal deine Hand gehalten, ehe sie deine Vergebung erfleht hat. Nora, sei noch einmal der gute Engel, der du mir stets gewesen, — ach, komm noch einmal zu mir! Komm, ehe es zu spät wird! Ich möchte schlafen, Nora, so wie ehemals, wenn ich zu aufgeregt war und keine Ruhe fand, bis du an meinem Bette sassest! Bring mir Ruhe und Frieden, Nora — lass mich noch einmal in deinem Arm entschlummern, zum letztenmal!“ —

Thränen stürzten aus den Augen der Lesenden, sie war nicht mehr im stande, die Worte zu lesen, die Ottys Vater den Zeilen beigefügt, sie bedeckte das Antlitz mit den Händen und schluchzte voll tiefsten Wehs.

Otty eine Sterbende! —

Da war alles vergessen, was zwischen dem Jetzt und Ehemals lag, all das Falsch, die Untreue, die bittere Kränkung, — Noras edles, grosses Herz hatte es nie verlernt zu lieben und die Treue zu halten, und so entsetzt ihre Eltern auch waren, dass sie die ganze lockende Lust und Freude der Berliner Reise aufgeben und an ein Totenlager eilen wollte, — Nora flehte so inständig, bis sie die Erlaubnis erwirkt hatte.

Eine Depesche verständigte Herrn Florenzius von ihrem Kommen, und einige Tage später trat Fräulein von Rastatt in das Hotelzimmer, in welchem ihre unglückliche, junge Freundin bleich und sterbensmatt auf einer Chaiselongue lag. Voll zitternden Schrecks neigte sich Nora über die Kranke. Wie sah das ehedem so reizende, lebhafte und kecke Mädchen aus! Wahrlich, ein geisterhafter Schatten aus dem Reiche der Proserpina.

Die grossen, dunklen Augen glänzten noch wie ehemals voll fieberischer Glut aus dem fleischlosen Gesichtchen, das so weiss und durchsichtig wie das spitzenbesetzte Morgenkleid in den stützenden Kissen ruhte.

„Nora! Nora!“ flüsterte sie mit verklärtem Blick, eine dunkle Blutwelle ergoss sich über die Wangen, und die abgezehrten kleinen Hände umklammerten die Hand der Freundin. „Gott segne dich, dass du kommst!“

Die Balkonthür stand weit geöffnet, — drunten blitzte und flimmerte der Genfer See im Sonnengold, und die weissbeschneiten Alpen grüssten voll stummer Majestät herüber.

Da sass Nora neben der Sterbenden und scheuchte voll zärtlicher Liebe alle Todesschatten noch einmal zurück, — Otty aber flüsterte, ohne sich das anstrengende Sprechen verbieten zu lassen: „Nun lass mich beichten, Herzliebe, — meine Zeit ist knapp. Sieh, Nora, als ich dir einst in der Pension — in der letzten Mondnacht am Fenster — Treue gelobte, da sagte ich: ‚Gott soll mich strafen, wenn ich sie breche!‘ Ich habe sie gebrochen, und Gott strafte mich, wie ich es verdiene! Unterbrich mich nicht — sage kein Wort der Anklage gegen Raoul, — wehe mir, wollte ich meine Schuld auf ihn wälzen! Ich bin die Verräterin — ich habe ihn mit allen erdenklichen Koketterien und Verführungskünsten an mich gezogen! O wie tapfer hat er sich dagegen gewehrt, aber er war ein Mann — ein Künstler — er wurde schliesslich doch schwach — — ach Nora — nicht diesen düstern Blick, du ahnst nicht, wie sehr ich ihn bethörte! Und das kam nicht plötzlich — o nein, ich liebte ihn seit dem Augenblick, wo ich sein Bild sah, wo ich es dir noch in derselben Nacht aus der Tasche stahl — da schon ward ich zur Verräterin an dir und schwor mir zu, dass ich Raoul zu eigen gewinnen wolle um jeden Preis! — Nora — schauderst du nicht? Weichst du nicht voll Abscheu zurück von mir? — Du lässt mir deine Hand und lächelst mir unter Thränen zu! — O du Engel voll himmlischer Güte! Gott segne dich dafür. — Hör weiter, Nora! Ich bethörte Raoul, und in einem jähen Rausch, einer flüchtig aufwallenden Empfindung für mich, verliess er dich und verlobte sich mit mir. — Nun glaubte ich die Höhe alles Erdenglücks erreicht zu haben. Ich irrte mich. — Ach schon bald, sehr bald verflog der schöne Wahn. Ich liebte Raoul zu namenlos, um es nicht voll Entsetzen zu empfinden, dass er mich nicht liebte, dass die Erinnerung an dich ihn nicht verliess, dass wahnsinnige Reue und Sehnsucht ihn quälten. Ich litt bei dieser Erkenntnis Folterqualen der Eifersucht — ich bot alles auf, seine erkaltende Leidenschaft für mich neu zu entflammen, umsonst, er blieb kühl, gleichgültig — wir entfremdeten uns von Tag zu Tag mehr. Bei meinen verzweifelten Bemühungen, ihn an mich zu fesseln, mutete ich mir Anstrengungen zu, denen ich nicht gewachsen war. Bei einem Gartenfest erkältete ich mich auf den Tod. — Diese schwere Erkrankung war wohl der Grund, welcher Raoul hinderte, seine Verlobung mit mir wieder aufzulösen; nur sein Mitleid mit der Sterbenden lässt ihn noch zarte Rücksichten üben! Da sieh — jene Blumen kamen von ihm — so weiss und duftlos wie seine Liebe zu mir, — nur Scheidegrüsse, keine Flamme der Liebe mehr! — Ja, Raoul ist unglücklich, so namenlos unglücklich, wie du es bist, Nora, — ihr beide so elend durch meine Schuld! — Welch ein schweres, schweres Sterben ist das! Die Last der Anklage erdrückt mich, sie lässt mich nicht zum Himmel empor! O Nora — ich kann keine Ruhe finden, ehe ich nicht gesühnt habe, was ich an euch verbrochen!“ Die Kranke hatte mit grosser Anstrengung gesprochen, leise und abgerissen, oft von qualvollen Hustenanfällen unterbrochen, jetzt streckte sie der Freundin voll flehender Angst beide Hände entgegen und flüsterte: „Nora — vergieb ihm um meinetwillen! Hab ihn wieder lieb wie früher — gelobe dich ihm von neuem an ...“

Bisher hatte Fräulein von Rastatt voll innigster Liebe und Barmherzigkeit die Sterbende im Arm gehalten, ihr süsse Worte des Trostes gesagt und sie ihrer vollen Vergebung versichert — jetzt schrak sie empor, löste jählings ihre Hände aus denen der Kranken und trat mit flammenden Wangen abseits.

„Still, still, Otty, kein Wort davon!“ stiess sie mit beinahe heiserer Stimme hervor, „davon kann nie — nie wieder die Rede sein! Ich zürne Raoul nicht mehr — ich habe ihm um meines Herrn und Heilandes willen vergeben, — aber ihm wieder angehören — ihn lieben wie früher — — nie!“ —

„Nora!“ Wie angstvoll und flehend klang das von den farblosen Lippen.

Da trat Nora an die geöffnete Balkonthür, zu der die blühenden Rosen hereinnickten, strich mit der Hand über die duftenden Kelche und sagte ernst und ruhig: „Lass dies deine geringste Sorge sein, Otty. Ein Mann, der seine Braut so leicht und schnell, so ohne jeden Seelenkampf verlässt, ist nicht danach angethan, um an gebrochenem Herzen zu sterben. Ich glaube nicht mehr an Raouls Liebe, und einen Mann heiraten, dem man nicht vertrauen und glauben kann, ist kein Glück, sondern ein unaussprechliches Elend, viel grösser als die Vereinsamung und das ewige Scheiden und Meiden!“ —

„Du wirst deinen Glauben an ihn zurückgewinnen, Nora, wenn du siehst, wie sehr er gelitten und gebüsst, wie sehr er dich noch liebt und ohne dich seines guten Geistes beraubt ist!“

Nora schüttelte ernst den Kopf. „Tote Liebe erblüht nicht neu, ebensowenig wie jemals der Schnee blühende Rosen deckt! — Und so wenig wie sich dieses Wunder je ereignen kann — so wenig wie ich diese duftenden Kelche hier je von dem Leichentuch des Schnees bedeckt sehe, ohne dass er sie zu Tode friert — so wenig wird auch meine und seine Liebe wieder in alter Maienfrische erstehen!“ — Nora wandte sich wieder zurück, neigte sich über die Kranke und küsste sie liebevoll auf die Stirn. „Es giebt keine Wunder mehr, Otty, und ohne Wunder und Zeichen glauben unsere armen, toten Herzen nicht mehr. — Lass das Vergangene vergessen sein, mein Liebling —! Sieh, da kommt deine Wärterin, um dich für die Nacht zu betten. Ich sitze wieder bei dir und halte deine Hand, — und du schläfst so süss und ruhig ein, wie ehemals in der Pension, wenn draussen der Mond leuchtete und die Nachtigallen im Garten sangen!“

Otty antwortete nicht, ein neuer Hustenanfall erschütterte ihre schwache Brust, und die Wärterin und Herr Florenzius walteten voll Angst und Sorge ihres schweren Amtes.

Die Kranke umklammerte mit fieberheissen Händen die Rechte der Freundin, aber sie fand dennoch keine Ruhe, so zärtlich Nora auch für sie sorgte. —

„Es giebt keine Wunder mehr? — O lieber Herrgott, lass ein Wunder geschehen!“ murmelte sie wieder und immer wieder, leise, unverständlich, qualvoll — bis die Wärterin das beruhigende Pulver mischte und Nora mit flehender Geste aus dem Zimmer schob. —

Todmüde legte sich Fräulein von Rastatt zur Ruhe. Die Anstrengung der weiten Reise und die grosse seelische Erregung forderten ihr Recht. —

Ein lautes, starkes Klopfen an der Thür weckte sie.

Erschrocken richtete sie sich auf.

Der Tag leuchtete hell in das Zimmer, die Uhr zeigte schon eine vorgerückte Stunde.

„Gnädiges Fräulein! Ach bitte, kommen Sie so schnell wie möglich einmal zu Fräulein Otty in den Salon!“ klang die angstvolle Stimme der Wärterin vor der Thür.

„Sofort! Um Himmels willen, steht es schlechter mit ihr?!“

„Sehr, sehr schlecht! Bitte, eilen Sie sich, gnädiges Fräulein!“

Mit zitternden Händen, in fliegender Hast kleidete sich Nora an.

Dann eilte sie voll banger Sorge in den Salon.

Noch hatte sie sich keine Zeit genommen, die Gardinen aufzuziehen und einen Blick in den Garten hinauszuwerfen, um so überraschter war sie, als sie in das Zimmer trat.

Otty lag in ihrem Krankenstuhl, der dicht neben die grossen Spiegelscheiben der Balkonthür geschoben war.

Gestern standen diese weit offen, heute hatte man sie geschlossen.

Mit weitoffenem, starrem Blick, in welchem sich die tödliche Fieberglut spiegelte, schaute Otty der Freundin entgegen, eine grosse, lebhafte Spannung, eine beinahe überirdische Verklärung lag auf den hageren Zügen.

„Nora!“ flüsterte sie mit einem Versuch zu sprechen und streckte ihr beide Hände entgegen —: „Das Wunder, Nora ...“

Sie konnte nicht vollenden, ihre Stimme erstickte — mit verzweifelter Anstrengung richtete sie sich in den Kissen auf und deutete mit der abgezehrten Hand auf den Balkon hinaus. „Siehst du es?“ fragte ihr leuchtender Blick.

Fassungslos vor Staunen schaute Nora auf das Wunder, das sich ihren Augen bot. Wahrlich ein Wunder!

Da lag auf den frisch blühenden Rosen des Balkons der Schnee, — wirklicher, echter Schnee, über welchen die Sonnenstrahlen flimmerten, ihn voll zärtlicher Hast von den zarten Blüten fortzutrinken! Eine Schneewehe, die von den Alpen herabgestäubt war, deckte für kürzeste Frist das sonnige Thal!

Rosen unter dem Schnee!

Und sie sahen so frisch und herrlich aus, so gar nicht geknickt und zu Tode gefroren, sondern richteten sich nur blühender und kraftvoller empor, wenn der feine Lufthauch die starre Winterlast von ihrem Haupte schüttelte.

Rosen unter dem Schnee!

Nein, sie waren dem Eiseshauch nicht erlegen, sie lächelten so wundersam durch die Scheiben herein, als sprächen sie aus stummen Kelchen dennoch eine gar heilige, beredte Sprache —: Die Liebe und wir Rosen gleichen einander! Denn die wahre, echte, heilige Liebe glaubt alles — und duldet alles — und verzeiht alles — die Liebe höret nimmer auf!

„Nora!“ klang es wie ein leiser, flehender Hauch von den Lippen der Sterbenden.

Da rang sich ein lautes Aufschluchzen aus der Brust des schlanken, blonden Mädchens neben ihr, Fräulein von Rastatt sank wortlos neben der Freundin nieder und drückte die Lippen auf die bebende kleine Hand. —

„Nora, verzeihst du ihm und mir?“ —

„Ja, Otty — ich habe verziehen —! In diesem Augenblick weiss ich es mehr denn je, dass auch der Winterschnee herbsten Leides meine Liebe nicht zu Tode frieren konnte!“

Ein selig erstrahlender Blick aus brechenden Augen. Otty gab ein schwaches Zeichen mit der Hand — und ihr Vater öffnete mit thränenfeuchten Wangen die Thür eines Nebenzimmers.

Raoul stand auf der Schwelle und trat hastig näher. Sein Blick suchte voll banger Frage die verlassene Braut. —

Nora erbebte. — Alles Blut wich ihr zum Herzen, — aber ihr Auge ruhte liebevoll, voll ernsten Friedens auf dem Geliebten.

Da tastete Otty nach beider Hände und fügte sie mit flehendem Blick zusammen, — und als sie sah, dass sie sich gefunden in dem festen Druck eines ewigen Gelöbnisses, da ging es wie ein seliges Aufleuchten über ihr Antlitz, auf welchem schon die Schatten des Todes lagen, — noch einmal richtete sie sich empor und wollte sprechen ... umsonst, der leise Hauch erstarb auf den Lippen, ein Lächeln verklärte ihren Blick —

Nora öffnete vorsichtig die Balkonthür, pflückte die blühenden Rosen und legte sie in die Hand der Sterbenden. —

Da tauten die weissen Schneesternchen und rieselten wie Thränen über die gefalteten Finger — die rosigen Kelche aber schauten wie tröstende Hoffnung empor zu der Scheidenden, die wohl gefehlt, aber auch gesühnt hatte, und ihr Duft trug seliges Bekenntnis: „Die Liebe glaubt alles — duldet alles und erträgt alles, — die Liebe höret nimmer auf!“ —

Aus vollem Leben

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