Читать книгу In Ungnade - Band II - Nataly von Eschstruth - Страница 6

XVI.

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Schnell ist, was man erworben hat, zerronnen,

Die Ehre selbst! misslingt ein kühner Plan!

Tasso.

Ein einz’ger Augenblick kann alles umgestalten!

Wieland.

Der Flügeladjutant stand vor seinem Fürsten.

Max Christoph hatte ihn mit wenig freundlichem Blick kaum gestreist, als er durch kurze Geste seinen Gruss erwiderte. Er trat, seine innere Erregung und Missstimmung gegen Aurel zu bekämpfen, an eine der hohen Spiegelscheiben, schob den Store mit den darin eingestickten bunt seidenen Bouquets ungeduldig zur Seite und starrte in den Schneesturm hinaus. Seine schlanken Finger trommelten ein hastiges Tempo gegen das geschliffene Glas.

„Da wir heute weder dringliche, noch wichtige Angelegenheiten zu verhandeln haben, Hauptmann von Buchfeld, beurlaube ich Sie einstweilen, bis auf weiteres.“

Seine Stimme klang schroff und kurz, völlig anders wie sonst. Die Nerven des leidenden alten Herrn hatten öfters schon eine vorübergehend üble Laune veranlasst, darum legte Aurel kein sonderliches Gewicht auf diese Stimmung. Er trat einen Schritt näher, neigte abermals mit formellem Gruss das Haupt und wagte es, in dem Ton dienstlicher Meldung zu erwidern: „Halten zu Gnaden, Königliche Hoheit. Eine Angelegenheit von ausserordentlicher Bedeutung ermutigt mich, um Erlaubnis zu bitten, dieselbe vortragen zu dürfen!“

„Ausserordentliche Bedeutung?“ Max Christoph zuckte, ohne sich umzuwenden, etwas ironisch die Schultern.

„Unter diesem Passepartout reist so manche Bagatelle. Ich bin heute nicht zu längeren Auseinandersetzungen aufgelegt. Deuten Sie mir kurz an, um welch eine Affaire es sich handelt.“

„Mein Bericht bezieht sich auf die ominösen und skandalösen Zeitungsartikel, welche eine Zeitlang die hiesigen Hof- und Staatsverhältnisse an den Pranger stellten, Königliche Hoheit.“

Der Grossherzog wandte sich dem Sprecher jählings zu; die Finger seiner Rechten schoben sich zwischen die Uniformknöpfe auf die Brust, er richtete sich hoch empor. „Ah ... abermals ein neuer Angriff?!“ rang es sich drohend von seinen Lippen.

„Halten zu Gnaden, nein.“

„Nein? — was sonst! — reden Sie, — ich bin heute schon genugsam alteriert!“

Aurel öffnete sein Portefeuille. „Es ist mir durch gewissenhafte Nachforschungen gelungen, den Verfasser und Schreiber, respektive die beiden Autoren dieser Artikel zu ermitteln!“ sagte er mit leis bebenden Nasenflügeln.

Die Wirkung der Worte war eine ausserordentliche.

Max Christoph taumelte einen Schritt vor und fasste mit beiden Händen die Schultern seines Adjutanten, als müsse er sich vor dem Umsinken schützen.

„Buchfeld!“ schrie er fast auf, „ist das Wahrheit, Mann?!“

„Hier ist ein Streifen Manuskript, welches ich direkt aus der Druckerei erlangte, Königliche Hoheit. So ist es mir überbracht, und so liefere ich es in die Hände meines gnädigsten Herrn, überzeugt, dass Wahrheit und Gerechtigkeit die Siegel lösen werden, welche auch jetzt noch zum Teil dieses Blatt zum Rätsel machen.“

„Ein Stück Manuskript ... thatsächlich ... ah, ich danke Ihnen, lieber Buchfeld, danke Ihnen. Ist Ihnen besser geglückt wie mir. Wodurch? Haben Sie einen Beamten der Zeitungsdruckerei bestochen?“

Der hohe Herr liess sich kraftlos auf einen Sessel nieder, seine bleiche, leise bebende Hand hielt das verhängnisvolle Papier mit zitterndem Druck. Er lehnte erschöpft das Haupt zurück und schloss momentan die Augen. Die Erregungen der letzten Stunde hatten ihn emporgerüttelt, jetzt erzeigten sie sich dennoch als zu gross für seine noch immer kranken Nerven, er sank wieder schlaff und matt in sich zusammen, just, als ziehe die nüchterne und herbe Wahrheit ihm den Boden unter den Füssen fort, auf welchen ihn die Illusion für kurze Stunden gehoben.

„Allerdings, Königliche Hoheit. Ich habe in dieser Angelegenheit dem jesuitischen Grundsatz gehuldigt, dass der Zweck die Mittel heiligt, und erreichte auf dem krummen Umweg mehr, als auf der geraden Strasse.“

„Durch Geldmittel?“

„Lediglich durch solche.“

„Seltsam, ich habe Unsummen auszahlen lassen zu dem gleichen Zweck, ohne Erfolg zu erzielen! Wieviel opferten Sie meinen Interessen?“

Aurel lächelte seltsam. „Alles, was ich hatte und besass, Königliche Hoheit, aber ich vertraute es keiner fremden Hand an, ich bezahlte selber. Krumme Wege haben auch noch Abwege, auf welchen schon mancher Dukaten spurlos davon rollte!“

„Nein, nein — in diesem Fall absolut ausgeschlossen. Gräfin Vare leitete die Angelegenheit persönlich. Also alles, was Sie hatten und besassen —“ Der Sprecher strich tiefatmend über die Stirn und senkte den Blick. „Jetzt allerdings weiss ich, wo das Vermögen Ihres Bruders blieb. Beim Himmel, ein wertvoll Stücklein Papier, und ein seltener Triumph für eine Frau, dass sich ein Mann ihretwegen zum Bettler machte.“

Er sah plötzlich wieder scharf in Aurels Antlitz, die Leidenschaft der Eifersucht zitterte durch seine Stimme. Stolz und kalt hob der junge Offizier das Haupt.

„Was geschah und was ich that, geschah lediglich zur Ehrenrettung meines armen, geächteten Bruders, Königliche Hoheit“, entgegnete er gepresst.

„Ihres Bruders? Was hat der junge Dahlen mit dieser Angelegenheit zu thun?“

„Ich glaubte durch Enthüllung dieses Geheimnisses Mittel und Wege an die Hand zu bekommen, zu erfahren, inwieweit die Koketterie der Gräfin Vare meinen unglücklichen Bruder in das Verderben trieb!“

Das Haupt des Grossherzogs neigte sich vor, als habe er nicht recht gehört. Fahle Blässe überzog sein Antlitz, er wollte zornig emporfahren, aber er beherrschte sich.

„Sie erachten die Gräfin für schuldig, weil sich ein überspannter junger Mensch, dessen Liebesanträge sie als anständige Frau weder erhören wollte noch durfte, um ihretwillen erschoss?“

„Allerdings, Königliche Hoheit. Durfte sie seine Anträge nicht erhören, so durfte sie vor allen Dingen seine Leidenschaft nicht bis zur Sinnlosigkeit schüren. Wäre sie in der That eine anständige Frau, so hätte sie nicht voll schamloser Eitelkeit die Macht ihres Raffinements an einem derart jungen und naiven Menschen proben dürfen!“

Der Ausdruck in den Zügen Max Christophs wurde erschreckend, seine Zähne bissen sich in knirschendem Zorn aufeinander. Er rang nach Atem, den verwegenen Sprecher zu zerschmettern, aber Buchfeld fuhr hastig, mit beinahe rauher Stimme fort: „Es handelt sich jedoch absolut nicht um ein Opfer unglücklicher Liebe bei dieser Angelegenheit, denn für Weibereitelkeit gibt es leider Gottes immer noch schwache Entschuldigungen — Gräfin Vare hat meinen Bruder nicht in den Tod getrieben, weil sie sich ihm versagte, sondern weil sie ihm durch einen Schurkenstreich die Ehre nahm!“

„Buchfeld!“ Der Grossherzog stand ihm kerzengerade gegenüber, sein Auge sprühte. „Sie wagen es, solch empörende Verdächtigungen gegen eine Frau auszusprechen, die mir, wie Sie wissen, innig befreundet ist? Wehe Ihnen, wenn Sie nicht im stande sind, diese ungeheuren Anklagen zu begründen! Ich verlange es bei meinem fürstlichen Wort, und ich werde der Rächer der verleumdeten Unschuld sein, so wahr mir Gott helfe!“

Ruhig und furchtlos sah Aurel in das Auge seines Fürsten. „Und so, wie Eure Königliche Hoheit die verleumdete Unschuld rächen, werden Sie auch die Schuldige strafen!“ erwiderte er mutig. „Der Zettel, welchen Königliche Hoheit in der Hand halten, ist der erste Beweis für die Wahrhaftigkeit meiner Aussagen.“

Max Christoph sank in die Polster zurück; Fieberglut lag auf seiner Stirn. Seine lang verhaltene, wildzornige Erregung kam zum Ausbruch, aber sie richtete sich nicht im mindesten Verdacht gegen das Weib, welchem all seine Pulse in leidenschaftlichem Verlangen entgegenschlugen, sondern gegen ihn, den Angreifer, den Mann, auf welchen er eifersüchtig war, für welchen sich Judith in rührendster Güte so oft verwandt, dessen ganzes Glück sie begründet, und der sie nun voll krassesten Undanks in den Kot treten will, sie, die ihn zur Sonnenhöhe des Lebens erhob!

„Dieser Zettel ... ah, lasst sehen ... die Handschrift wird zu ermitteln sein ... was sagen Sie? Erklären Sie sich deutlicher. Dieser Zettel ein Beweis ihrer Schuld?!“

Aurel stützte sich schwer auf die marmorne Tischplatte. „Ich kenne die Schrift, sie ist von der Hand meines verstorbenen Bruders auf dieses Papier gebracht.“

„Ihres Bruders?“

„Meines Bruders Ortwin von Dahlen.“

„Und Dahlen hat die Schandartikel geschrieben? Ihr eigner Bruder hat mich und mein ganzes Land zu beschimpfen gewagt?! Ihr Bruder, der verschmähte Liebhaber der Gräfin, hat diese Racheangriffe gegen sie geschrieben?!“ Ein schneidendes Lachen gellte auf. „Und weil Ihr Bruder der Bube gewesen, der diesen Schurkenstreich beging, darum verurteilen Sie die Unglückliche, welche seiner Schamlosigkeit zum Opfer fiel?“

Aurel bebte an allen Gliedern, kein Blutstropfen kreiste in seinem Antlitz. Er biss die Zähne zusammen und krampfte die Finger um den kalten Marmor, seiner Gelassenheit gewaltsam Herr zu bleiben.

„Wollen Königliche Hoheit den Zettel genauer prüfen. Er trägt noch andere Schriftzüge ausser denen meines Bruders!“

„Noch andere? Oh ... ich bin begierig ... haha, vielleicht die Ihren? Soyons done ... wo? Ich sehe nichts!“

Wie eine Pagode neigte sich der junge Offizier und deutete auf die Korrekturen. „Königliche Hoheit kennen die Schrift der Gräfin Vare? Diese Abänderungen in dem Manuskript stammen von — ihr!“

„Unmöglich! Sind Sie toll geworden?!“

„Gestatten mir Königliche Hoheit eine Erklärung?“

„Zum Teufel ... reden Sie!“

Seine Lippen zitterten, schwarze Schatten senkten sich tief um die Augen — Aurel aber erklärte mit keuchendem Atem die einzelnen Korrekturen und den früheren Wortlaut des Manuskriptes und fuhr lebhaft fort, seine Kombinationen auseinander zu setzen, in welcher Weise einzig diese Doppelarbeit entstanden sein könne. Der Grossherzog hatte zuerst still und jäh entsetzt zugehört; auch er musste sich von der Ähnlichkeit der Schriftzüge überzeugen, als aber sein Adjutant in schärfsten Worten den Plan der Gräfin entwickelte und sie schonungslos der raffiniertesten aller Intriguen beschuldigte, da flammten Zorn und Empörung abermals in ihm auf, Partei nehmend für die verfolgte und allseits angefeindete Frau, welche seinem Herzen so teuer war, und deren vollster, verführerischer Zauber ihn noch so frisch und lebendig umfangen hielt.

Eine masslose Heftigkeit überkam ihn. „Weil sie meine Gattin werden wollte, weil sie nach Krone und Thron strebte?“ keuchte er mit loderndem Blick. „Schon hierin kann ich Ihre infamen Anschuldigungen widerlegen, mein Herr von Buchfeld. Jetzt gilt es die Ehrenrettung einer Unglücklichen, an welcher Sie in blindem Fanatismus den Tod Ihres leichtsinnigen, schamlosen Bruders rächen wollen, und darum treten meine eignen Interessen in diesem Augenblick zurück. So erfahren Sie es aus meinem eignen Munde, dass Judith Vare weder einst noch jetzt danach strebte, meine Gemahlin zu werden, denn Sie wies meine Hand zurück, welche ihr Krone und Purpur bot, sie verzichtete freiwillig darauf, mir je mehr zu sein, als meine treue, opfermutige Ratgeberin und Vertraute. Und diese Aussage verbürge ich mit meinem königlichen Ehrenwort! Was sagen Sie jetzt, Herr Hauptmann?“

Aurel griff wie schwindelnd nach seinem Kopf. „Ich muss gestehen, Königliche Hoheit, dass ich eine solche Eröffnung nicht erwartete“, stammelte er, „aber gleichviel, so wird sich ein anderes Motiv finden.“

Abermals ein zorniges, spottendes Auflachen. „Gewiss, mit etwas Phantasie lässt sich vielleicht ein neuer Strick zusammendrehen! Aber vorerst, mein Herr von Buchfeld, gestatten Sie mir wohl, dass ich mich überhaupt erst überzeuge, ob diese Schriftzüge, die vermeintlichen Korrekturen der Gräfin, auch echt sind! Wie leicht lässt sich von boshaft geschickter Hand solch ein kleiner Schnörkel ziehen ... also, Sie gestatten wohl, dass ich das Urteil eines Sachverständigen befrage. Selbstverständlich werden Sie auch einen solchen stellen, damit von keiner Parteilichkeit die Rede sein kann. Und somit wären wir am Ende unserer Unterredung. Sie werden in Ihrer Wohnung weitere Verfügungen erwarten.“

Eine kurze Geste — Max Christoph setzte die silberne Klingel auf seinem Schreibtisch in stürmische Bewegung. Aurel war entlassen.

Er wollte noch sprechen — er konnte nicht. Die Zunge klebte ihm am Gaumen, die Kehle war wie zugeschnürt. Bleich wie ein Mondsüchtiger schwankte er über die Schwelle.

Er sah nicht die Herren und Damen, welchen er in den Gemächern begegnete, er hörte nicht Gruss noch erstaunte Anrede — er starrte mit verglasten Augen vor sich hin ins Leere und stieg mit schweren Schritten, wie ein alter Mann, die Treppe zu seiner Wohnung empor.

Vom Turm schlug die Uhr — sie schlug seine Stunde. Eine kurze Stunde später durcheilte ein Gerücht wie auf Sturmesschwingen die Residenz: Heusch von Buchfeld war mit kolossalem Eklat in Ungnade gefallen! In Ungnade! War’s möglich? Manche schüttelten ungläubig die Köpfe, viele nickten schadenfroh: „Natürlich! Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht!“ Einzelne fühlten heimliches Mitleid, keiner aber sprach ein Wort zu seiner Verteidigung. In Ungnade! Kein Pestkranker ist so einsam und verlassen, so bar aller Hilfe und allen Zuspruchs, als ein Mann, der in Ungnade fällt.

Wer so hoch herabstürzt, der fällt mit Centnerlast, und was sich in seine Nähe wagt, wird mitgerissen; einsam, — wie vom Sturmwind gefegt ist die Bahn, welche von den Stufen eines Thrones herab in die Verbannung führt.

Gräfin Vare hatte sich noch im letzten Moment bei dem Minister entschuldigen lassen; plötzlich eingetretener Migräne halber konnte sie leider nicht von seiner so gütigen Einladung zum Gabelfrühstück Gebrauch machen! Sie lag daheim auf der Chaiselongue, die Arme unter dem Haupt verschränkt, und starrte nachdenklich zu dem Plafond empor. Sie ersann Pläne und verwarf sie wieder, sie glaubte oft das richtige gefunden zu haben und war im nächsten Moment unschlüssiger wie je. Ein Sturm von Gefühlen durchtobte sie, und das war nicht gut. Ruhe, — volle, kaltblütige Ruhe, eher lässt sich kein Gedanke fassen, darum still, du ungestümes, wildes Herz! Gräfin Judith hat einen Käufer für ihre Hand gefunden, der bietet hohen Preis, nun gilt es mit nüchternem Verstand überlegen, was aller Liebe Seligkeit und was aller Welt fürstliche Pracht wert ist, und was sich eventuell thun liesse, um beides zu eigen zu gewinnen!

Die Kammerfrau stand nach zaghaftem Klopfen auf der Schwelle. Die Legationsrätin hatte jede Störung streng untersagt, dennoch ward sie nicht zornig, sondern strich nur langsam mit der Hand über die Stirn und blickte apathisch nach dem silbernen Teller, auf welchem Frau Lorenz einen Brief präsentierte.

„Von wem?“

„Königliche Hoheit der Grossherzog lassen um alsbaldige Antwort bitten!“

„Gut, — ich werde klingeln.“ Mit hastigem Griff nahm Judith das Schreiben entgegen. Heisse Glut flammte in ihre Wangen empor, und ihr Auge blitzte voll Genugthuung, als sie auf das länglich weisse, durch roten Wappenstempel verschlossene Billet niedersah. Wie eilig! — Brennt die Glut denn plötzlich gar so hoch?! Noch ist die Adressatin nicht ins reine gekommen mit ihrer Rechnung. Also Geduld, Sir, Judith Vare hat auch lange Geduld haben müssen!!

Sie las. Plötzlich schrak sie empor, Leichenblässe bedeckte ihr Antlitz. Buchfeld im Besitz eines Stückes Manuskript, Buchfeld als ihr Ankläger vor dem Grossherzog.

Sie richtete sich auf, mit weitgeöffneten Augen starrte sie einen Augenblick wie eine Sterbende auf das Blatt nieder, — — und Buchfeld in Ungnade! Max Christoph nimmt voll fanatischem Eifer für das Weib seines Herzens Partei. —

Was nun! — Judiths Pulsschlag stockt, sie ringt verzweifelt nach Fassung. Eine tödliche, zitternde Angst erfasst sie, jetzt hat sich die Situation auf das äusserste zugespitzt, nun würfelt das Schicksal um Sein oder Nichtsein. Hat sie für sich selber zu fürchen? Ihr vertrauter Freund Sellkow hatte ihr damals guten Rat gegeben, sie war wohl sicher, aber — was ist noch Sicherheit? Sie steht auf einem Vulkan! Und fällt sie nicht zum Opfer, so ist Buchfeld gerichtet, für ewige Zeiten in der Umgebung des Grossherzogs unmöglich geworden! In Ungnade! der Donnerkeil schwebte drohend in der Luft; er muss jetzt herniederwuchten und einen zerschmettern, ihn oder sie. Muss?! — Nein! — Die Denkerin sprang leidenschaftlich empor, noch wagt sie den Kampf gegen die verderbenden Mächte, noch wird sie einen Ausweg finden, das Unheil abzuwenden! Hat sie nicht aus jeder Situation bislang Vorteil gezogen? Auch diese muss sich biegen, kneten und verarbeiten lassen, eine Form anzunehmen, wie Gräfin Vare sie just braucht. Aber vorerst eine Antwort. Samiel hilf! sie ist nicht leicht. Max Christoph drängt auf ihre Entscheidung, er verlangt voll stürmischer Leidenschaft nach ihrem Kommen.

Einen Augenblick schloss die Legationsrätin sinnend die Augen und presste die eiskalten Hände gegen die Schläfen. Dann schnellte sie wie mit gewaltsamem Ruck empor und ergriff die Feder auf dem Schreibtisch. Ein paar hastige unsichere Schriftzüge: „Königlicher Gebieter, unendlich teurer Herr über mein Leben und meinen Tod! — Aufs neue angeklagt stehe ich vor Eurer Königlichen Hoheit. Der allbarmherzige Gott segne Sie für Ihren Glauben an meine Unschuld und stärke mein schwaches, liebekrankes Herz, noch kurze Zeit stark zu sein, bis ich gerechtfertigt vor Euere Königliche Hoheit treten kann. — All meine Gedanken, mein ganzes Sein und Wesen ist bei dem Mann meiner heissen, so inbrünstigen und doch so reinen Liebe! Aber ich flehe meinen Allergnädigsten Herrn an, auf mein Kommen zu verzichten, bis die Entscheidung der Sachverständigen über meine vermeintliche Schrift eingetroffen! Ich kann nicht unter dem Schein der Schuld und der furchtbaren Wucht solcher Anklage vor Sie treten, — beim ewigen Himmel — ich kann es nicht! — Ich leide unsäglich. — Darf ich aber nach erwiesener Unschuld erhobenen Hauptes wieder meinem geliebten Herrn ins Auge schauen, — dann rufen Sie mich, — und ich werde mich jauchzend vor Ihre Füsse niederstürzen, in demütiger Liebe hoffend, an das edelste und herrlichste aller Herzen emporgehoben zu werden! — Dazu helfe mir Gott. Unwandelbar in ehrfurchtvollster Ergebenheit stets und immer meines Königlichen Herrn treueigenste Judith Vare.“

Hochatmend schloss sie den Brief, zog nach kurzem Besinnen eine rote Rose aus dem Krystallkelch und fügte sie den Zeilen bei. Dann ein Siegel auf den Umschlag, und die Legationsrätin rührte die Schelle.

„Hier die Antwort. — Jean soll augenblicklich zu dem Herrn Kammerherrn von Sellkow gehen und bestellen, ich liesse unverzüglich um seinen Besuch bitten. — Bis dahin unterbleibt jede weitere Störung. Sagen Sie, dass ich mich in meinen Zimmern eingeschlossen hätte, — gleichviel wer auch nach mir fragen sollte. Ich riegele den Salon hinter Ihnen ab, Frau Lorenz, und nur im Fall Herr von Sellkow kommt, schlagen Sie zum Zeichen an das Tamtam. Jeglich anderen Besuch, falls es verlangtwird, melden Sie durch einfaches Klopfen, — jeglichen — und wäre es der Grossherzog selber!“

„Befehl, gnädigste Gräfin. — Darf nicht das Frühstück aufgetragen werden?“

„Lassen Sie eine Tasse Bouillon im Speisesaal bereit stellen.“

Frau Lorenz knixte mit etwas beruhigterer Miene und verschwand, — hinter ihr schnappte der Riegel vor die Salonthür.

Es kursierten die seltsamsten und alarmierendsten Gerüchte in der Residenz. Irgend ein Eklat bereitete sich am Hofe vor. Der Grossherzog sollte in einer unglaublich gereizten, hochnervösen Stimmung seiner Umgebung geradezu rätselhaft erscheinen. Er war ersichtlich krank, aber er hielt sich voll zäher Energie gewaltsam empor. Fast kein Mensch hatte bei ihm Zutritt, als unerklärlicherweise nur der junge Kammerherr von Sellkow, welchem, wie es schien in wichtigen Missionen, selbst zu den ungewohntesten Stunden in den Gemächern des hohen Herrn Eintritt gewährt wurde.

Gräfin Vare war ebenso urplötzlich wie Heusch von Buchfeld von der grossen Schaubühne abgetreten. Man sagte, sie sei an heftiger Erkältung ganz urplötzlich erkrankt und müsse auf etliche Tage das Bett hüten. Keinerlei Besuch, selbst nicht die befreundetsten Damen wurden angenommen, ja man munkelte, dass sogar der Grossherzog, welcher gegen Abend im grauen Palais vorgesprochen, sehr erregt und unverrichteter Sache zurückgefahren sei. — Die Krankheit der Gräfin war selbstverständlich fingiert, denn da es nicht an unermüdlichen Beobachtern fehlte, hatte man erforscht, dass auch hier der Kammerherr von Sellkow „im nächtlich schwarzen Mantel“ durch die kleine Gartenpforte seine Visiten abstattete. Als dritte Person in diesem so plötzlich bewölkten Dreigestirn musste Heusch von Buchfeld eine gewichtige Rolle spielen.

Der Grossherzog hatte ihn an jenem ominiösen Vormittag mit allen Zeichen höchster Ungnade entlassen, Buchfeld selber war wie ein geisteskranker Mann nach seinem Zimmer geschritten, hatte sich eingeschlossen und war den ganzen Tag über nicht sichtbar gewesen. Gegen Abend musste sein Bursche einen Stoss Briefe zum „Einschreiben“ auf die Post besorgen. Für die Herren der Gesellschast war Buchfeld nicht zu sprechen, aber er empfing geheimnisvolle Besuche, mit welchen er sehr laut und heftig debattierte, zumeist in französischer Sprache. Zur Tafel erschien er nicht und war doch nicht krank. — Stubenarrest? Sein Bursche hatte sich voll Sorge geäussert: der Herr Hauptmann sähe erschrecklich aus, — wie einer, der schon acht Tage im Grabe gelegen. Von Schlaf sei keine Rede mehr, — ruhelos wandere er die ganze, lange Nacht durch sein Zimmer, oft auch sitze er stundenlang und starre finster vor sich nieder, — immer auf einen Fleck. — Was war da geschehen?

Sicherlich ein häuslicher kleiner Zwist zwischen dem Grossherzog und seiner „heimlichen“ Gemahlin, und Buchfeld war die unschuldige oder schuldige Ursache daran. War es doch allgemein aufgefallen, in welch unbegreiflicher Weise die Legationsrätin den widerhaarigen Gesellen verwöhnte und auszeichnete, welch einen schier unfasslich kühnen Ton der junge Offizier in seinem Verkehr mit ihr anschlug.

Sollte da doch noch ein kompromittierendes Geheimnis stecken, welches auf den Tod des jungen Dahlen Bezug hatte? Sollte die Gräfin zu weit gegangen sein? Sollte der junge, blondlockige Page eine zu grosse Rolle neben dem „armen, alten König“ gespielt haben?! — Vielleicht waren jetzt dem Grossherzog Enthüllungen gemacht, und sein zorniger Hass der Eifersucht überträgt sich auf den Bruder! Wieviel gab es da zu mutmassen, zu kombinieren und zu zischeln!! Die ganze Gesellschaft befand sich in fieberhafter Aufregung, und jedes, selbst das kleinste Gerücht vom Hofe wurde mit brennendem Interesse aufgegriffen. Die Neugierde flammte lichterloh, und das Publikum konnte es kaum noch erwarten, bis sich der Vorhang heben würde, um was zur Kritik zu bringen? Ein Lustspiel oder eine Tragödie?!

Es war schon zu vorgerückter Abendstunde, als Max Christoph regungslos, wie aus Stein gemeisselt, in seinem Schreibsessel sass und auf die Thüre starrte, als könne er kraft seines Blickes diejenigen citieren, deren Erscheinen er erwartete. Er sah leichenhaft blass aus; die Augen lagen tief im Kopf, rotumrändert und etwas angeschwollen, wie bei einem Menschen, der matt und übernächtigt dem neuen Tag entgegen schaut.

Kammerherr von Sellkow stand seitwärts an dem Fenster. Auch seine Züge zeigten eine ersichtliche Spannung, und bei jedem Geräusch hob er jählings das Haupt, als könne er seine Ungeduld kaum noch meistern.

Kein Wort wird gewechselt.

Endlich schlug die erlösende Stunde; die beiden sachverständigen Herren, welche ihr Gutachten über die Schriftprobe abgeben sollten, standen vor ihrem Fürsten.

Max Christoph hatte sich erhoben; er stützte sich schwer auf den Diplomatentisch, die Füsse versagten ihm beinahe den Dienst. Sein Blick lag gross und brennend, wie in angstvollem Forschen auf den Mienen der Herren. Dieselben kündeten Gutes; er atmete tief auf.

Und ebenso hob sich die Brust des Kammerherrn von Sellkow, als auch diese beiden Sachverständigen aus vollster Überzeugung und nach bestem Wissen bestätigten, dass die Schrift der Gräfin Vare — gefälscht sei, falls hier überhaupt angenommen werden solle, dass dieselbe aus der Feder der Legationsrätin stammen solle. Eine Ähnlichkeit der Schriftzüge sei vorhanden, aber die Abweichungen so plump und ins Auge fallend, dass man es ohne jeden Zweifel mit dem gröbsten Falsifikat zu thun habe.

Diese beiden Herren waren durch Herrn Hauptmann Heusch von Buchseld veranlasst, ihr Gutachten abzugeben, und da dieselben Studiengenossen und zuverlässige Freunde des jungen Offiziers waren, so fiel ihr Urteil doppelt schwer in die Wagschale.

Max Christoph dankte voll warmer und herzlichster Freude, und als die Überbringer dieser erlösenden Botschaft sich verabschiedet, stand er noch einen Augenblick wie in regungslosem! Nachschauen. Er atmete ein paarmal tief und stossweisse auf. „Sellkow!“ und dann tastete er schwindelnd nach einer Stütze. Der Kammerherr sprang zu und fing den Sinkenden in den Armen auf. — — —

Der Grossherzog war an nervösem Fieber erkrankt. Als man ihn zu Bett gebracht, fühlte er sich etwas wohler und verlangte voll beinahe eigensinniger Energie noch eine dienstliche Angelegenheit zu erledigen. Man musste ihm nachgeben. Er befahl die augenblickliche Versetzung seines Adjutanten Heusch von Buchfeld nach einer der entferntesten kleinen Garnisonen. — In Ungnade! für immer und ewig rettungslos in Ungnade.

Tags darauf war der Zustand des hohen Herrn Besorgnis erregend, die Krankheit schien sich schon längere Zeit vorbereitet zu haben und kam mit voller Heftigkeit zum Ausbruch. Es war eine Zeit voll hoher Aufregung für die Residenz.

Als Aurel das Gutachten der beiden ihm völlig zuverlässigen Herren erhielt, rang es sich wie ein halberstickter, heiserer Schrei aus seiner Kehle. „Ihr lügt!“ schrie er auf, „Ihr müsst lügen, wenn es noch einen gerechten Gott im Himmel gibt! Wohlan denn — mögt ihr mich alle verlassen, mag die ganze Welt gegen mich sein, — ich glaube noch an eine Vergeltung, und ich werde mit Gottes Hilfe der Wahrheit dennoch zum Sieg verhelfen!“

Die Nachricht von seiner Versetzung nahm er völlig gelassen, hocherhobenen Hauptes entgegen, die Wucht der Ungnade traf sein Haupt, — wird sie ihn zerschmettern?!

In Ungnade - Band II

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