Читать книгу Jedem das Seine - Band II - Nataly von Eschstruth - Страница 5

XV.

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Mortimer kam nach Hause.

Still und dämmerig lag sein kleines Zimmer. Die Sonne, die noch vor wenigen Stunden so strahlend hell hineingeschienen, war untergegangen. Die Sonne seines Glückes.

Mechanisch stellte er den Helm zur Seite und sank müde auf den Ledersessel vor seinem Schreibtisch nieder.

Vorbei, — alles vorbei.

Die goldenen Träume von Glück und Liebe in nichts zerronnen.

Gelogen und getrogen hatten die funkelnden Sterne, die von grossem, unendlichem Glück geweissagt hatten.

Nacht und Wolken hatten sie verschlungen und was zurückblieb, war die trostlose Öde eines Lebens, dem die Liebe genommen war. Die Liebe!

Ach, jetzt erst, nachdem er sie verloren, fühlte Mortimer, wie vollständig sie sein Herz erfüllte.

Er hatte dem Schicksal der Marken, das sich in Konstantinopel erfüllen musste, vertraut. Wie ein harmloser, schwärmerischer Knabe hatte er an Glückszeichen geglaubt, die ihn genarrt hatten. Voll jubelnder Zuversicht hatte er die Arme nach der schönsten aller Frauen ausgestreckt, um sie sieghaft an sich zu reissen.

Hatte er sie doch auf den schimmernden Fluten des Bosporus, verhüllt von dem türkischen Schleier, gefunden, die süsse Geheimnisvolle, die sein Schicksal werden musste.

Kein seliges, wonnevolles Geschick, wie der blinde Träumer gewähnt, hatte er gefunden, sondern ein herbes Weib, wahrlich eine eiserne Jungfrau, deren erbarmungslose Worte sein Herz wie Dolchmesser zerfleischten.

Nun waren die Würfel gefallen. Er hatte verspielt. Was nun? —

Hier bleiben in der Residenz?

Sie sehen, treffen und an ihr vorübergehen, wie ein Fremder?

Welche Qual!

Das Haus, in dem er monatelang so unendlich glücklich gewesen war, meiden, als habe er nie den Fuss über seine Schwelle gesetzt?

Undenkbar!

Sich und seines Herzens herbe Not dem neugierigen Geschwätz einer klatschsüchtigen Menge preisgeben? —

Nie und nimmermehr! —

Was liegt dort in dem Büchertisch zwischen Rangliste, militärischen Werken, russischen und französischen Wörterbüchern? —

Ein altes, abgegriffenes Märchenbuch: „Tausend und eine Nacht“. —

Traumverloren greift Mortimer danach und schlägt es auf.

Prinzessin Kassandane.

Sie! wahrlich sie! —

Noch vor wenig Stunden sass sie ebenso, in schimmernder Pracht, vor ihm, und blickte ihn ebenso kalt und unbarmherzig, so grausam und so spottend an.

Prinzessin Kassandane — Iris! Mortimer beisst in leidenschaftlichem Schmerz die Zähne zusammen und bedeckt stöhnend das Gesicht mit den Händen. — —

Da steigt plötzlich ein Bild vor seiner Seele auf.

Er sieht wieder die stille, kleine Mansardenstube, in der ein einsamer Knabe mit fiebernden Pulsen von den Wundern des Morgenlandes träumt.

Heisse Sehnsucht, unbezwingbares Verlangen nach der goldenen, geheimnisvollen Fremde glüht durch seine Seele.

Hinaus! hinaus!

Leben, sehen, forschen, reisen! —

Ach, wie brennt sein Herz vor Verlangen nach dem zauberischen Wunderland!

Er ist ein Marken, er kann nicht daheim sitzen, es treibt ihn fort — hinaus in die lockende Welt, — gleichviel, was sie ihm geben wird, nur hinaus! hinaus, seinem Schicksal entgegen! —

Und draussen wirbelte der Schnee ... es ist kalt, bitter kalt ... in der kleinen Mansarde aber ragen flüsternde Palmen, rauschen geheimnisvoll die Wasser des Springbrunnens, lächelt Prinzessin Kassandane mit erbarmungslosem Auge aus glitzerndem Schleier hervor!

Mortimer springt empor und schlägt vom Schauer überwältigt die Hände vor das blasse, ernste Gesicht.

Wieder fasst sie ihn mit zwingender Gewalt, die heisse, glühende Sehnsucht, die alle Markens hinaus in die Ferne treibt! Fort! fort! —

Hat ihn nicht ein seltsamer Zufall gerade an diesem Tage zum reichen Mann gemacht?

Aus welchem Grunde, wenn das Weib, das er gewinnen wollte, für das er mit seinem Gold ein lauschig sichres Nestlein bauen wollte, sich für ewige Zeiten von ihm gewandt?

Nun ist es vorbei mit dem Sesshaftwerden auf heimatlichem Boden, nun packte ihn eine fremde, eiserne Faust und stösst ihn von der Schwelle des Glücks in trostlose Fernen hinaus!

Trostlos? — wahrlich trostlos?

O nein!

Wandern, ruhelos wandern will er wie ein echter Sohn seiner unstäten Väter, und die bunte, gleissende Welt wird seine Augen blenden, dass sie nicht mehr sehen, was hinter ihnen liegt, und im Vorwärtsstürmen wird er vergessen, was ihm die Heimat angetan. Vergessen! vergessen! —

Ach wer das könnte!

Aber wohin fliehen vor der Erinnerung, die in seinem Herzen leben wird, so lange es schlägt? —

Wohin? —

Ziel- und planlos umherirren, bis Hab und Gut verbraucht sind und er gleich einem Vagabunden an der Landstrasse stirbt?

Mit dem Bild einer Iris im Herzen?

Heisse Schamesröte steigt brennend in seine Wangen.

Nein, er kann und darf nicht zwecklos leben, er wird nicht jammervoll untergehen!

Dazu ist die Liebe, die sein Inneres erfüllt, zu hoch und heilig.

Schaffen! arbeiten! Bei allem Reisen und Wandern aber sich nützlich machen und sich seines Namens wert zeigen! —

Sein Vater hatte seine Leidenschaft dereinst auch in den Dienst des Vaterlandes gestellt und war Afrikareisender geworden. Aber das waren andere Zeiten.

In die Schutztruppe gehen?

Sich nach China kommandieren lassen?

Sowohl China wie Afrika besitzen nicht viel Reiz für ihn! Es fehlt der geheimnisvolle, märchenhafte Reiz, der ihm den Orient in so verlockendem Licht erscheinen liess.

Wohin? — ach wohin? —

Ein kurzes Klopfen; die Tür wird mit scharfem Ruck geöffnet und der Bursche steht auf der Schwelle.

„Bringst du die Lampe, Krause?“

„Nur einen Brief, Herr Leutnant! Zu Befehl.“

„Einen Brief? — Gib her und bring’ Licht.“

„Befehl, Herr Leutnant.“

Die schweren Stiefel stampfen zurück und Mortimer blickt nachdenklich auf das Schreiben in seiner Hand.

Von Tante Gustel? Oder Gretchen?

Nein! Die bedienen sich für ihre Korrespondenz des sehr schlichten, schmalen, altmodischen Papiers mit dem gepressten Rädchen auf dem Umschlag, — des billigsten, welches zu haben ist, dieses Papier aber fühlt sich fest und sehr elegant an, und da — soviel bei dem Dämmerlicht zu erkennen ist, mehrere Marken aufgeklebt sind, kann es sich nicht um ein Schreiben aus der Stadt handeln.

Die Türe öffnet sich.

Heller Lampenschein flutete blendend durch das kleine Gemach und weckt grelle Funken auf gekreuzten Säbeln und Waffen an der Wand.

Krause stellte die Lampe vor seinen jungen Gebieter auf den Schreibtisch und wartet einen Augenblick, auf etwaige Befehle harrend.

Ein tiefes Aufseufzen.

Marken aber hat sich bereits mit müdem Blick über den Brief geneigt und winkt nur kurz mit der Hand ab.

Und abermals flammt es heiss über sein Antlitz und das Auge belebt sich.

Aus Konstantinopel!

Das Papier knistert unter seinen Fingern und sein Blick sucht die Unterschrift.

„Dein alter Hans!“

Schlüchtern! —

Sonst schrieb er nur kurze Karten scherzhaften Inhalts, mit „bescheidenen Anfragen“ nach dem Ergehen der geheimnisvollen Sängerin und wie weit das Schifflein noch von dem Hafen der Ehe abtreibe, — und heute plötzlich diesen langen, ausführlichen Brief von acht Seiten! —

Was hat das zu bedeuten?“

Und er liest.

Seltsam! —

Schlüchtern teilt ihm mit, dass sein Chef unter aussergewöhnlich günstigen Bedingungen eine vortrefflich angelegte, aber durch langjährige Krankheit und Abwesenheit des vormaligen Besitzers stark vernachlässigte Plantage in Indien angekauft habe.

Dieselbe soll gewissermassen — um sich etwas militärisch auszudrücken! — eine Art Vorposten des Geschäftsbetriebes von Skutari werden. Haulsen sei überzeugt, schon in kurzer Zeit ausserordentliche Erfolge durch dieses Hand in Hand-Arbeiten zu erzielen, — die Ernten in Indien seien hervorragend gut, Verbindung zum Hafen ebenfalls, alles tadellos nach Wunsch — nur einen Haken habe die Sache, die stark vernachlässigten Arbeiterverhältnisse! Man merke in allem, dass die energische Hand des Besitzers seit Jahren gefehlt habe. Alles verbummelt!

Arbeiter und Aufseher gleich verloddert!

Einmal mit eisernem Besen hindurch fegen und Ordnung schaffen, dann ist alles gewonnen.

Und nun der Zweck dieser Zeilen!

Es gibt leider in der lieben Heimat so manchen jungen Offizier, der Schiffbruch gelitten und sich eine neue Existenz in der Ferne gründen muss!

Junge Männer, die vielleicht leichtsinnig, aber nicht schlecht sind oder unverschuldet Pech hatten und ausessen müssen, was anderer Unzuverlässigkeit ihnen eingebrockt hat.

Marken sei nun vielleicht in der Lage, einen jungen (oder auch älteren) Offizier zu kennen, der entweder durch die Verhältnisse gezwungen, vielleicht auch freiwillig geneigt sein würde, sich eine neue Existenz in Indien zu gründen. Bedingung sei grosse Energie und Tatkraft, die ohne jedwede Roheit imstande ist, strenge Zucht einzuführen und Gehorsam zu erzwingen. Falls ehrlose Handlungen den Abschied des Betreffenden bedingt hätten, so sei dieser Umstand als nicht zu beseitigendes Hindernis anzusehen.

Haulsen erhoffe gerade von einem deutschen Offizier die Fähigkeiten, jene augenblicklich recht schwierige Aufgabe mit Vorsicht, Herzensgüte und dennoch eiserner Willenskraft zu lösen.

Die Stellung sei sonst die denkbar angenehmste, völlig unabhängig, sehr gut bezahlt, ein Vertrauensposten ersten Ranges.

Kaufmännische Kenntnisse seien zunächst nicht nötig, eine gut geschulte, zuverlässige Kraft wird mitgegeben, um den betreffenden Herrn schnell und sicher in den Geschäftsgang einzuführen. Klima gesund, — Gegend himmlisch schön, die Bevölkerung hochinteressant und gutmütig, nur wie alle Hindus und deren Mischrassen faul und steten Antriebs bedürftig. Die grösste Hälfte der Arbeiter Kulis.

Wohnhaus und Garten ein wahres Eden, nach wiederhergestellter Ordnung würde einer Verheiratung des betreffenden Herrn nichts im Wege stehen! —

„Und nun die inständige Bitte Ihres Freundes Haulsen: ‚Kennen, wissen Sie eine Persönlichkeit, lieber Marken, die für die genannte Stellung empfohlen werden könnte? Finden Sie einen geeigneten Herrn, so bitte ich, uns ihn baldmöglichst namhaft zu machen, damit wir mit ihm direkt in Verbindung treten können.

Noch möchte ich bemerken, dass selbstredend die Reise usw. in freigiebigster Weise vergütet und ein vorhergehender Aufenthalt in Villa Haulsen, behufs persönlichen Kennenlernens erwünscht ist. Sollte der betreffende Herr über Kapital verfügen, so steht es ihm frei, dasselbe im Geschäft anzulegen!‘“

Atemlos, wie in tiefen Gedanken starrte Mortimer auf das Ungeheuerliche, Unfassliche, was er da las, nieder.

Kam denn alles, was er noch für den Rest seines Lebensglückes erhoffen konnte, wie ein Geschenk des Himmels plötzlich und unvermutet über ihn? —

Erst das Geld, nun ein Ausweg! ein Blick in traumhafte Fernen, so schön, so passend und geeignet, wie er es sich mit lebhaftester Phantasie nicht hätte ausmalen können!

Indien!

Dieses Land der Poesie, des Geheimnisvollen, Wunderbaren, — dieses Land voll Duft, Sonne und Glanz — Indien tat ihm seine goldenen Tore auf und winkte ihm mit weissen Lotosblumen zu: Komme und schaue! Dringe ein in die Tiefen der Wunder und Erkenntnisse, bade deine kranke Seele gesund in dem Urquell aller Schönheit und Herrlichkeit!

Und er sollte zögern?

Nie und nimmer!

Die Arme möchte er weit ausbreiten und mit einem tiefen Aufatmen der Erlösung rufen: Ja, ich komme! —

Ob er sich für eine derartige Stellung eignet? Er ist noch jung, vielleicht allzu jung für einen solchen Posten.

Mit lachenden Augen, sorglos wie ein Kind, voll schwärmerischen Entzückens hat er bisher in die Welt geschaut, und dennoch hat er ihren vollen Ernst schon so früh kennen gelernt, hat von Kindesbeinen an seinen eignen Weg gehen müssen, ach und wie schwer und mühselig ist dieser Weg oft gewesen!

Hätte er selber nicht so viel Pflichtgefühl und Energie besessen, die schwachen Hände von Tante Gustel hätten ihn wohl nimmermehr ans Ziel geschoben! —

Als Offizier hat er seine Vorgesetzten stets befriedigt und man hat ihm voll Anerkennung nachgesagt, dass er eine ganz besonders nette und richtige Art habe, seine Untergebenen zu behandeln.

Stets freundlich, energisch, voll wohlwollender Strenge.

Seine Leute gingen durchs Feuer für ihn und der Oberst hatte ihn selber gelobt, dass er einen so vortrefflichen Einfluss habe, — die Instruktionsstunde, die er erteilte, hätte geradezu etwas „Volkstümliches“, wie der Major lachend dem Hauptmann versicherte.

Deutsche Grenadiere sind nun freilich ganz andere Wesen wie Kulis und Hindus, aber Menschen sind sie alle, einer wie der andere, und wenn man die echt menschlichen Saiten anschlägt, so klingt in jedem Herzen eine Antwort wieder.

Mit freudiger Zuversicht will Marken den schweren Posten übernehmen.

Die Verantwortlichkeit, die tüchtige Arbeit schreckt ihn nicht, sondern reizt ihn an.

Gerade eine solche Lebensaufgabe hatte er sich schon seit langem gewünscht, bei der er seine eigene Kraft betätigen und selbständig etwas leisten und schaffen kann!

Seine Jugend wird dabei kein Hindernis sein, sondern ihm Frische und Spannkraft verleihen, den Anforderungen, die Haulsen an ihn stellt, gerecht zu werden.

Sein kleines Kapital wird er voll Eifer und Freudigkeit in das Unternehmen stecken und dadurch ein doppeltes Interesse an demselben gewinnen!

Dass Haulsen ihn nicht abweisen wird, glaubt er bestimmt.

Nach Indien! —

Wie ein Traum umfängt es all seine Sinne! Neues Leben, neue Arbeit! — Ach, und welch ein Segen wird diese Arbeit für sein wundes Herz sein!

Vergessen wird er Iris nie.

Seine Liebe hat zu tiefe Wurzeln geschlagen; wie der Efeu ein Gemäuer umspinnt, so hat sie ihm Herz und Seele umwunden, und wie erst das morsche Gestein zusammenbrechen muss, ehe des Efeus treue Arme von ihm lassen, so muss auch sein Herz brechen, ehe es seiner Liebe vergisst! —

Mortimer greift mit sicherer Hand zur Feder und schreibt umgehend an Haulsen.

Seine vortrefflichen Zeugnisse stellt er zur Verfügung, einer Empfehlung vom Regimentskommandeur glaubt er sicher zu sein.

Er schliesst den Brief und sieht nach der Uhr.

Noch kann er ihn auf der Post einschreiben lassen.

Hastig greift er nach Mantel und Mütze und schreitet in die frühe Nacht hinaus.

Der Schnee wirbelt, ein scharfer Nordost peitscht ihn dem jungen Offizier in das Gesicht.

Er fühlt es nicht.

Ihm ist es zumute wie dazumal in dem kalten Mansardenstübchen, als die Myrten- und Granatbüsche, die Palmen und Lorbeerbäume spukhaft aus den morschen Dielen emporwuchsen. —

Noch einmal treibt ihn das Schicksal in die bunte, fremde Welt hinaus!

Was wird sie ihm bringen?

Abermals eine so bittere, wehe Enttäuschung, ein so schmerzliches Geschick wie Konstantinopel? Gott im Himmel weiss es! —

Seiner Führung vertraut er sich an.

Er ist ein Marken und die heisse Wanderlust glüht auch ihm als Erbe seiner Väter im Herzen.

Acht Tage später sprach man in der Residenz sehr lebhaft von einer Neuigkeit.

Leutnant Freiherr von der Marken hatte seinen Abschied eingereicht, um nach Indien zu gehen und sich dort an einem kaufmännischen Unternehmen zu beteiligen.

Man hatte den heitern, stets so herzgewinnend liebenswürdigen jungen Mann allseits gern gehabt und erwog mit aufrichtigem Interesse das „Für“ und „Wider“ dieser so überraschenden Handlungsweise.

Viele schüttelten bedenklich die Köpfe.

„Es ist ein Unsinn, dass er seine schöne, sichere Laufbahn für eine derartige Ungewissheit aufgibt! Kaufmann werden! — Unsinn! Der Adel, der seit Jahrhunderten den Degen führt, wird nun und nimmer auf dem Kontorstuhl heimisch! Es liegt nicht im Blut, und was gegen die Natur ist, lässt sich nicht erlernen!“

Andere waren durchaus entgegengesetzter Meinung.

„Der Adel hat lange genug für das Vaterland geblutet und Hab und Gut im Militärdienst zugesetzt! Es ist die höchste Zeit, dass unsere Söhne einmal wieder lernen, zu erwerben und zu verdienen! — Der Kaufmann allein hat dazu die Möglichkeit in Händen! Von einem Hauptmannsgehalt legt man keine Millionen zurück und von einer Majorspension erst recht nicht! Wo soll es enden, wenn das noch eine Reihe von Jahren so weiter geht? — Sehr richtig und vernünftig von Marken, wenn er eine vielversprechende kaufmännische Laufbahn einer aussichtslosen militärischen vorzieht! Was aber mag ihn dazu bewogen haben, diesen schnellen Entschluss zu fassen? —

Où est la femme?! —

Steckt auch diesmal ein Weib dahinter, das einen armen, verblendeten Jüngling aus Stellung und Gesellschaft herausreisst, um ihn der Ungewissheit in die Arme zu treiben?

Niemand vermochte darüber eine Auskunft zu geben.

Selbst die Kameraden, die sonst über alle Schwächen und Leidenschaften ihrer Waffenbrüder genau unterrichtet sind, konnten nur die Tatsache feststellen, dass Marken stets äusserst solide und „unheimlich“ vernünftig gelebt hatte.

An Gräfin Iris dachte niemand.

Sie hatte zu viele Verehrer, als dass einer besonders aufgefallen wäre! Auch schienen die beiden jungen Leute so grundverschieden, dass niemand an eine ernste Werbung gedacht hatte.

Da gab es nur eine Tatsache, die den seltsamen Schritt des jungen Offiziers erklärte: Er war ein Marken! und die hielt es alle nicht daheim! Mit seiner Reise nach Konstantinopel hatte es angefangen, — wird es in Indien enden? — Wer weiss es?! —

Mortimer war abgereist und in der Residenz hatte man ihn vergessen.

Selbst in dem Hause des Grafen Waldstetten, in dem anfänglich grosse Erregung über den so völlig unerwarteten Entschluss des jungen Offiziers geherrscht hatte, war es ruhiger geworden. Der Graf hatte sich achselzuckend der „Schrulle“ des jungen Schwärmers gefügt, Tante Bergk grollte und klagte nicht mehr so nervös wie in der ersten Zeit, und Gräfin Iris schien völlig teilnahmlos zu sein. Sie war die einzige, die Markens Entschluss, „nach Indien zu gehn“ nicht nur begreiflich, sondern sogar sehr nachahmungswert fand.

Sie hatte sich in letzter Zeit mehr denn je in ihre philosophischen Studien vertieft, der Buddhismus dünkte ihr eines der interessantesten Wunderwerke tiefsinniger Offenbarung, und Sanskrit zu studieren die höchste und vollkommenste Lebensaufgabe.

Schopenhauer, Nietzsche und Feuerbach gingen dabei Hand in Hand; der Graf schüttelte mit der Zeit doch ärgerlich den Kopf, und sagte: „Wäre meine Tochter nicht von Natur so äusserst vernünftig und starkgeistig beanlagt, so wäre sie über all dies Teufelszeug längst verrückt geworden! — Ein Segen ist es, dass ihr religiöses Gefühl immer noch stärker ist, wie das Gift dieser Antichristen, dass sie viel zu rein und edel denkt, um sich nach den Irrlehren dieser Verführer zu richten! Ich hoffe, dass ihre ganze Fortschrittlerei nur Eitelkeit ist, wie bei den meisten philosophierenden Frauen, die sich aus Eitelkeit um jeden Preis interessant machen wollen und gar nicht ahnen, wie widerwärtig sie dies bisschen mühsam aufgepfropfte Männerwissen macht.“

Dennoch hatte er sich endlich bereit erklärt, dem Wunsch der jungen Gräfin, ihr Examen machen zu dürfen, nicht mehr im Wege zu stehen.

„Wenn sie glaubt, dadurch völlig unabhängig zu werden und eines männlichen Schutzes nicht mehr zu bedürfen — gut, so mag sie ihren Willen haben! Wer weiss! Das Leben bringt oft allerlei Überraschungen mit sich, die vielleicht einmal recht viel Selbständigkeit von ihr verlangen.“

So vergingen Wochen, Monate, Jahre. — — — —

Der Name Marken wäre wohl längst im Hause des Grafen Waldstetten vergessen worden, wenn nicht zwei rosige Lippen ihn immer und immer wieder voll seltener Treue geflüstert hätten.

In Bärbels Kinderzimmer auf dem eleganten kleinen Schreibtisch, an dem das heranwachsende Backfischchen seine französischen und englischen Übersetzungen schrieb, stand die Photographie des Freiherrn von der Marken, die er ihr einst auf dringendes Bitten geschenkt hatte.

Da lachte er das immer lieblicher erblühende Mädchen mit seinen strahlenden Augen an, und so oft Bärbels Blick das Bildchen traf, ward er trüb und sehnsuchtsvoll, die kleine Hand strich kosend darüber hin und sie seufzte: „Ach Onkel Mortimer, warum schreibst du mir niemals einen Brief! Warum lässt du mich nicht wissen, ob du noch lebst? Ich habe dich so gern gehabt, so gern! und ganz gewiss, ich werde dich nie vergessen, wie ich es dir einstmals versprochen habe! — Onkel Mortimer, wann kommst du wieder?“

Einmal war Iris zufällig Zeugin eines solchen trübseligen Herzensergusses geworden.

Wie ein tiefer Schatten flog es über ihr schönes, regungsloses Gesicht.

Sie hob das betrübte Gesichtchen des Backfischchens empor und blickte forschend in die grossen Veilchenaugen.

„Du denkst noch immer an Herrn von der Marken, Bärbel?“

Tränen glänzten an den Wimpern des Kindes.

„Ich möchte nur wissen, ob er noch lebt, Iris!“

Die Gräfin nickte, es war, als ob die Hand, die erst so ruhig über die goldenen Locken der Schwester strich, ein klein wenig bebte.

„O ja! Das möchte ich wohl auch wissen,“ sagte sie leise. „Er nannte sich immer deinen guten Freund, es wäre wohl richtig gewesen, wenn er dir einmal geschrieben hätte! Aber siehst du, Bärbel, so schnell vergessen die Männer! Wenn man sich auf sie verlässt, ist man verlassen!“

Ein herbes Lächeln zuckte um die Lippen der Sprechenden, Barbara aber blickte mit süssem Vertrauen empor und schüttelte eifrig das Köpfchen.

„Nein, Iris! es ist gewiss nicht Gleichgültigkeit oder Vergesslichkeit von ihm, das weiss ich gewiss! Er wagt es wohl nicht, oder glaubt, dass ich gar keinen Wert darauf lege, und gewiss schriebe er, wenn er nur ahnte, wie gut ich ihm noch bin!“

Iris neigte sich tiefer, wie in stummer Frage schaute sie die Kleine an, Komtesse Bärbel aber schlang jählings die Arme um die Schwester und fuhr erregt fort: „Briefe hat er ja nie versprochen, Iris, aber dass er einmal wiederkommen und nach mir fragen würde, das hat er zugesagt und das hält er auch ganz gewiss!“

„Möchtest du diesen frommen Glauben nie verlieren, Kleine! Dein weiches, zärtliches Herzchen würde eine Enttäuschung schwer verwinden. Ach und wie gern möchte ich dir begreiflich machen, dass nur die Menschen glücklich und zufrieden sind, die von den Menschen und der Welt kein Glück erwarten.“

Iris warf noch einen schnellen, flüchtigen Blick über das Bildchen auf dem Schreibtisch, den lachenden Männerkopf mit dem Kindergesicht, und wandte sich kurz ab.

Nichts verlangen und nichts fordern!

Nein, sie hatte weder Liebe noch Treue von Mortimer verlangt, im Gegenteil, beides weit von sich gewiesen, und doch brannte etwas in ihrem Herzen: eine winzig kleine Wunde, ein Nadelstich, der nicht heilen will. Er ging so schnell, — er reiste so eilig ab, er vergass so bald. —

Er war kein Asra, der starb, weil er liebte.

Ist das nicht gut so? — ein Glück für ihn und sie?

Iris hatte sich schon so manche Frage beantwortet, — diese noch nicht.

Sie ging hinab in die Stallungen, sie sattelte sich selber ihren Goldfuchs und ritt hinaus in den Park, allein, ohne Diener. — Sie brauchte und wollte keine Männerhilfe.

Was sollte ihr auch geschehen?

In der ganzen Stadt kannte man die stolze, eigenwillige junge Gräfin und berücksichtigte ihre Absonderlichkeit, wie man einer schönen Frau gern alles verzeiht, was eigenartig ist und ihr gut zu Gesicht steht.

Es ritten so viele Herren zu jeder Stunde im Park, die voll Entzücken den Spuren der reizenden Amazone folgten; sie waren entzückt, eines flüchtigen Grusses gewürdigt zu werden, und bereit, als Helfer und Retter zu erscheinen, wenn der wagemutigen Reiterin wirklich einmal ein Unfall zustossen sollte. Das wusste der Graf; er war um seine Tochter nicht besorgt. Iris wusste es auch, und das steigerte mehr und mehr ihr Gefühl der Sicherheit. —

Die Jahre vergingen, in stolzer, voll entfalteter Schönheit blühte Gräfin Iris, die Geistvolle, Selbstbewusste und Selbständige und an ihrer Seite erschloss sich eine unsagbar liebliche Knospe, die sechzehnjährige Barbara, die in allem und jedem das Gegenteil der Schwester war. —

Jedem das Seine - Band II

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