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I.

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Auf dem Wege renn nicht voran und ficht nicht mit den Händen, denn das ist der Thoren Art!

Bias.

Ein entsetzliches Pflaster war es, das reine Alpen-Stillleben voll Höhen und Tiefen, voll Stein und Schlamm und hochaufspritzender Wasserpfützen, welche zwischen den einzelnen hochragenden Quadern gelagert waren, wie die Bergseen zwischen majestätischen Schneehäuptern. — Und dazu krachte und quietschte der klapprige Hotelomnibus in allen Fugen, und schwankte wie betrunken über dieses regenfeuchte Pflaster, just, als sei er schwindlig geworden vor Erstaunen, dass zwei Fremde, zwei hochelegant aussehende fremde Herrschaften in ihm Platz genommen hatten!

Der Hausknecht und Kutscher schienen sich in gleicher seelischer Verfassung zu befinden.

Gottlieb sass mit vorgestrecktem Kopf auf dem Kutscherbock und glotzte wie geistesabwesend vor sich hin, er hatte die Mütze mit dem ehemals blank gewesenen Hotelschild „Zur Stadt Hamburg“ verkehrt auf und umklammerte das Schirmpaket seiner vornehmen Gäste so krampfhaft, als fürchte er, das Traumhafte könne unter seinen blauroten Fäusten wirklich als Schaum und Traum zerrinnen!

Zwei seidene Regenschirme — der eine sogar mit elegantestem Elfenbeingriff, auf welchem ein goldner Namenszug unter vielperliger Krone prunkte — und darumher gewickelt und weich wie Sammet, so nagelneu und seidenglänzend eine Reisedecke — ein wahres Prachtstück! Wie kamen diese Schirme — diese Decke — diese Reisenden hierher nach Angerwies? Diesem kleinen, kümmerlichen Städtchen, welches schon seit Jahren mit seinen Feinden in schwerem Kampfe rang, ob es wohl berechtigt sei, sich Marktflecken zu nennen? — —

Der Besitzer des „Hotels“ zur Stadt Hamburg hatte einmal in tiefem Weltschmerz geseufzt: Wenn nicht ’mal ein Eisenbahnunglück auf unserer elendiglichen Station passiert und mir ein paar Passagiere erster Klasse ins Haus schleudert — mit gebrochenen Beinen, dass sie sechs Wochen lang liegen müssen — — wenn der liebe Herrgott das nicht fügt, dann komme ich in diesem Lumpennest niemals auf einen grünen Zweig! — War der fromme Wunsch jetzt etwa erhört worden? —

Die Reisenden erster Klasse kamen, aber sie stiegen mit heilen Knochen aus dem Zug und sprachen freiwillig und ungezwungen das Unfassliche aus — sie wollten ein paar Tage in Angerwies in der „Stadt Hamburg“ zur Sommerfrische weilen!! —

Und dabei war es erst März, ein Hundewetter voll Sturm, Schnee und Regen — so dass man noch heizen musste!

Gottlieb sass und starrte wie ein Pagode gerade aus, unfähig die Lösung dieses grossen Rätsels zu finden, und der Kutscher an seiner Seite sass ebenso starr und steif, mit einem Gesicht, als erwarte er jeden Augenblick das Ende der Welt.

Sonst pfiff er vergnüglich vor sich hin, nickte und grüsste rechts und links, hieb mit der Peitsche nach den kläffenden Hunden und hielt wohl auch ein paar Minuten an, um mit diesem oder jenem ein kleines Schwätzchen zu halten. Die paar Reisenden, welche er für gewöhnlich fuhr, beanspruchten keine Umstände, und es vergingen oft Wochen, wo er überhaupt keine Fremden heimbrachte, aber heute —!! —

Ein herzbeklemmendes Gefühl bemächtigte sich seiner. Er wagte kaum an den Zügeln zu rucken, damit die Pferde nicht etwa noch schneller liefen. Er fürchtete sich förmlich, mit diesen hohen Gästen so jählings überraschend bei der „Stadt Hamburg“ vorzufahren.

Was würde die Wirtin sagen! Auf solchen Besuch ist sie ja gar nicht vorbereitet. Die Fremdenstuben liegen noch im Winterschlaf. Über zwei „Gute“ und eine „bessere“ verfügt das Hotel überhaupt nur. Und in dieser besseren hingen die Würste und Schinken an einem Seil, welches schrägüber zur Thüre gespannt war, und auf dem Fussboden lagerte die dicke Strohschicht mit dem letzten Rest der Winteräpfel und der Backpflaumen auf ihren geflochtenen Dörrschütten.

Nebenan aber, in der „Guten“ trocknete die Wäsche, weil es auf dem Boden durchregnete, da blieb nur noch die blaue Eckstube! — Du lieber Himmel, gerade die! —

Der letzte Reisende, welcher sie bewohnte, hatte nicht wenig geschimpft, und behauptet, die ganze Nacht habe er mit der Elle in der Hand — (an die Bezeichnung „Metermass“ gewöhnte sich in Angerwies erst die jüngste schulpflichtige Jugend!) im Bett gesessen und sich der Mäuse erwehrt, welche wahre Quadrillen auf seinem Plümeau getanzt hätten. Da lobe er sich die märkischen Klein-Bauernquartiere, wo wenigstens neben jedem Bette schon der zweckentsprechende „Museknüttel“ angebunden sei! —

Und in diese blaue Eckstube sollten nun die Passagiere erster Klasse mit den seidenen Regenschirmen? Die schauerlich feine Dame mit dem königlichen Pelzmantel, welche bei jedem Schritt in Samt und Seide rauschte und nach einem Haaröl duftete — wie Salomo in aller seiner Herrlichkeit? —

Dem Denker trat der Angstschweiss auf die Stirn. Sollte er den Omnibus vielleicht vor dem Hause erst umwerfen, um der Frau Marthe Zeit zu lassen, die Wäsche, Würste und Äpfel kopfskegel eine Treppe tiefer zu schleudern? —

Der Wagen hielt’s man leider nicht mehr aus, und seine Reparatur würde den Profit verschlingen, welchen die Stadt Hamburg an ihren ersten und einzigsten Passagieren erster Klasse machen würde. —

Zu wem sie nur wollen? — Und warum sie nicht lieber noch eine Stunde weiter nach Schloss Niedeck zum Grafen fahren? Der hat doch die Salons und Säle zur Auswahl! Aber freilich ... er der Graf ... Hm ... zu dem kommt schon längst kein vernünftiger Christenmensch mehr! Und es wäre doch so gut für die ganze Umgegend, wenn es wieder ein Leben auf dem Schlosse gäbe wie früher! —

Hüh — — — brr!! —

Gottlieb und der Kutscher schraken a tempo aus ihren schweren Träumen auf, denn die beiden alten Braunen welche den Weg vom Bahnhof bis zum „Hotel“ schon im Traume machten, standen selbstverständlich vor der Steintreppe der „Stadt Hamburg“ still, ohne erst einen diesbezüglichen Befehl abzuwarten.

Was nun! —

In seiner Herzensangst fasste der Schröder die Peitsche und knallte wie besessen darauf los. Erschreckt fuhren die Köpfe der unvermählten Herren, welche bei Frau Marthe ihren Mittagstisch erhielten, an die Fenster.

Gäste! Eine Dame und ein Herr!!

Der Apotheker und Steuerrevisor sassen wie versteinert vor Überraschung, und der Herr Auditeur liess vor Staunen sogar die Cigarre aus dem Munde fallen, nur der Gerichtsassessor zeigte sich als Mann von Welt, welcher die Contenance nicht so leicht verlor.

Er schnellte in die Höhe und erreichte mit zwei Sätzen die Nebenthür.

„Fräulein Klärchen, rufen Sie Vater und Mutter, es kommen Fremde! — — Weisse Schürze vor!!“ — schrie er voll Feuereifer der Tochter des Hauses, welche gerade die Kartoffeln abgoss, zu.

„Fremde?“ stotterte Klärchen mit weit aufgerissenen Augen. „I, Herr Assessor ... das kann ja gar nicht möglich sein!“ —

„Schnell doch, zum Kuckuck! Eine sehr elegante Dame!“ tobte der Assessor, und dann, als er den schlurrenden Schritt des Wirtes bereits auf dem Flur hörte, schnellte er zurück und hastete abermals nach dem Fenster. Aber er empfand plötzlich etwas wie einen feinen Stich im Herzen. Er schämte sich. — Also so weit war es seit den vier Jahren seiner Angerwieser Existenz schon mit ihm gekommen, dass ein paar anständig gekleidete Reisende ihn wie ein ungeheuerliches Evenement erregten! —

Schrecklich, — er ist bereits völlig verkaffert hier, er, der flotteste aller Studenten, der fescheste aller Grossstadtreferendare!! — tempi passati! Jetzt presst er die Nase an der Fensterscheibe platt, um mit schmerzlich süssem Grauen einmal wieder eine feine Dame anzustarren!

Sie steigt soeben aus, — von ihrem Begleiter gestützt, denn Vater Simmel, der Herr Wirt, steht in fassungsloser Verlegenheit und reibt sich die Hände.

Alle Wetter, dieses Füsschen, — ein weichlederner hoher Knopfstiefel umschliesst es in tadelloser Form, seidene, spitzenbesetzte Plissees bauschen unter dem langen Pelzmantel auf, dessen mächtiger Kragen das Köpfchen wie eine Löwenmähne umwallt. Jetzt sieht er das Gesicht. — Fein, — etwas bleich, mit einem Zug undefinierbarer Vornehmheit. Kühl — gleichgültig — gelangweilt — sehr hochmütig. Über aschblondes Haar fallen die Goldspitzen eines kleinen, dunkelsamtnen Capothütchens neuester Mode, der grossgetupfte Schleier spannt sich über das zartfarbene Antlitz, dessen halbgeöffnete Augen mit müdem Blick umher blicken, — auf die Regenlachen rechts und links der Treppe, auf die spiessbürgerlich gekleideten Weiber und Kinder, welche aus den umliegenden Hausthüren treten und gaffend näher drängen — auf die graugetünchte Front des alten Fachwerkhauses, über dessen niederer Thür das blaue Schild mit den verblassten Buchstaben der „Stadt Hamburg“ hängt, und schliesslich auf den Inhaber dieses Prachthotels, welcher in seiner grauen Wolljacke und der blauen Dienerschürze seinen eigenen Hausknecht zu repräsentieren scheint. Herr Simmel empfindet auch das Ungehörige seiner Erscheinung solchen Gästen gegenüber, und das lähmt vollends die Sinne dieses schon nicht sehr weltgewandten Wirtes.

Er steht, dreht sein Käppchen zwischen den Händen und macht einen tiefen Bückling um den anderen, dieweil sich sein rundes, gutmütiges Gesicht schier blaurot vor Verlegenheit färbt. Der fremde Herr, nicht minder elegant und vornehm wie seine Gattin aussehend, wendet ihm das scharfgeschnittene, etwas verlebte Gesicht mit huldvollem Augenzwinkern zu.

„Haben Sie Zimmer bereit, Verehrtester? Wir gedenken etliche Tage hier zu bleiben. Ich hätte uns telegraphisch angemeldet, wenn unsere Abreise sicher zu bestimmen gewesen wäre. — Wollen Sie uns zwei Stuben — Salon und Schlafzimmer — anweisen?“

Herrn Simmel blieb die Antwort vor Schreck im Halse stecken.

„Ew. Gnaden ..“ stotterte er und dann rollten seine wasserblauen Äuglein hilfesuchend umher, bis sie voll seligen Aufleuchtens an der Gestalt seiner Gattin haften blieben. Er stürzte der Nahenden atemlos entgegen; „Marthe — sieh du mal zu —!“ und damit verschwand seine korpulente Gestalt in rettender Flucht hinter der Thür, durch welche die Frau Wirtin ruhig und selbstbewusst soeben heraus trat.

Eine weisse Haube auf dem Kopf, eine schneeweisse Schürze über dem grauen Kleid, knixte Frau Simmel so feierlich, dass ihre hohe, grobknochige Gestalt kerzengrad hinabtauchte, wie Frau Erda, wenn sie sich von Wodan für die Unterwelt verabschiedet.

„Willkommen die gnädige Herrschaft!“ sagte sie würdevoll, und der Kutscher Schröder starrte sie an wie eine Vision, — hatte die Frau denn vollkommen ihre Wäsche, Würste, Schinken und Äpfel in der guten Stube vergessen? —

Der fremde Herr richtet seine Frage mit verbindlichstem Lächeln noch einmal an die bessere Hälfte des verschwundenen Wirtes, und während Schröder und Gottlieb mit stockendem Herzschlag atemlos ihrer Antwort harrten, knixte Frau Simmel abermals, ohne auch nur mit einer Wimper zu zucken und sprach:

„Wir sind auf so hohen Besuch nicht ganz vorbereitet, da etliche Zimmer neu tapeziert werden und die anderen heute morgen erst von Herrschaften verlassen wurden. Darf ich darum bitten, dass Ew. Gnaden für kurze Zeit mit einem einfachen, kleinen Zimmerchen fürlieb nehmen, — in zwei Stunden stehen Salon und Schlafzimmer zur Verfügung.“

„Ausgezeichnet“, nickte der Herr. „Es ist dir doch ebenfalls recht, liebe Melanie?“ —

Seine Begleiterin riss den Blick von dem Storchnest auf dem Nachbarhause los: „Es ist mir alles gleichgültig, ich finde mich darein, mon ami!“ — antwortete sie mit einer Stimme, welche wie ein halber Seufzer klang, dann legte sie die elegant behandschuhte Rechte auf den Arm des Gatten und stieg langsam, voll lässiger Grazie die steinernen Stufen empor. Voll andächtiger Scheu folgten ihr alle Blicke. Frau Simmel aber schwenkte stolz linksum und folgte triumphierend ihren Gästen erster Klasse.

„Hüh“, atmete Schröder tief auf, und der Omnibus ratterte in den Hof; Gottlieb aber folgte dem Wink seiner Gebieterin und sah voll Überraschung, dass der Mensch nie auslernen kann und Geistesgegenwart ein schönes Ding ist.

Er glaubte, nun werde eine wilde Jagd anheben, die Wäsche- und Würstestube schleunigst zu räumen, — aber nein, Frau Simmel nahm gelassen den Schlüssel vom grossen Ring und schloss rechter Hand vom Hausflur das Heiligtum ihres Hauses, die Putz- und Prunkstube der Familie auf.

Hier, wo sonst nur die Familienfeste gefeiert und zweimal im Jahre ein Honoratiorenkaffee gegeben ward, wo alle steifbeinigen Polstermöbel in geblümten Kattunhöschen steckten und die Luft geheimnisvoll nach Kampfer und Naphtalin roch — hier riss die Wirtin zur „Stadt Hamburg“ kurz entschlossen die Fenster auf, kommandierte „Ausfegen — Feuer machen — Möbel bürsten!“ und schritt gelassen in das Nebenzimmer, einer grossen, zweifenstrigen Eckstube, in dessen Mitte ein Billard stand und an dessen Wänden die Kupferstiche längst verewigter Landesväter und Mütter hingen, zwischendurch die Glaskästen voll bunter Schmetterlinge, welche der verstorbene Onkel Schullehrer gesammelt, und eine Landschaft aus Kork geschnitzt, hinter Glas und goldpapierenem Rahmen, eine Kunstleistung des Grossvaters, welcher Buchbinder gelernt hatte.

Diese Stube ward nur im Winter geöffnet, wenn der Kriegerverein und die Bürgerressource ihre Bälle in der „Stadt Hamburg“ abhielten und das würdige Alter sich aus dem Saal zurückziehen wollte, welcher sich als Seitenflügel besagtem Billardzimmer anschloss.

Emsige Hände verwandelten es blitzschnell in eine recht behagliche, wenn auch etwas altfränkische Schlafstube, und Frau Simmel nickte schmunzelnd vor sich hin, als ihr Gatte sie in wahrem Wonnerausch umarmte und beinahe schluchzend vor Rührung hervorstiess:

„Ja, Alte, wenn du nicht wärst! — Jung Vieh hat junge Kraft — aber die alten Klepper ziehen die Karre aus dem Dreck —! Wenn das unser Klärchen hätte ausrichten sollen — du lieber Gott!“ — Frau Marthe drückte das Kinn steif an und zog die Schultern hoch. „Schnickschnack — das Mädel braucht’s nicht; die soll höher hinaus. Ist nicht zur Wirtin geboren. — Und nun marsch dich, Vater, und frag droben an, was die Herrschaften speisen wollen.“

An der Thür der blauen Eckstube klopfte es. Die Stimme des fremden Herrn rief ein kurzes „Herein!“ — und nach zögerndem Druck auf die Klinke erschien der Gastwirt der „Stadt Hamburg“ auf der Schwelle.

Die Wolljacke und Schürze waren gefallen, — ein feierlicher schwarzer Gevatterrock, ein weisser Kragen und blau getupfte Krawatte zeigten an, dass Vater Simmel wusste, was man Passagieren erster Klasse an Respekt schuldet. Er machte einen devoten Kratzfuss und räusperte sich.

Der vornehme Veilchenduft, welcher dem geöffneten Handkoffer entströmte, und welchen die Dame mittels eines fein geschliffenen Flacons just in alle Ecken sprühte, benahm ihm den Atem, er wagte kaum zu existieren in dem seines Nichts durchbohrenden Gefühl!

Der Herr stand am Fenster, — er wandte den Kopf und blickte den Wirt fragend an, — und die Dame setzte das Parfümglas nieder auf den Tisch und sank seiderauschend in die Ecke des alterschwachen Kattunsofas. — Auch sie richtete die müden Augen in stummer Frage auf den armen Simmel, der gar nicht begriff, dass das Sofa aus Schreck über die Ehre, welche ihm angethan ward, nicht zusammenkrachte. Er sprach noch immer nicht.

Da erbarmte sich der fremde Herr.

„Wünschen Sie etwas, Herr Wirt?“ fragte er so überaus freundlich, dass dem Besitzer der „Stadt Hamburg“ das Blut in die Wangen schoss.

„Ich ... ich wollte mir allerunterthänigst die Frage gestatten ... Ew. Gnaden ... wann die allergnädigste Herrschaft zu speisen ... und vielleicht was es geben soll ... meint meine Frau ...“

„Ah richtig — es dürfte Zeit zum Gabelfrühstück sein!“ nickte die Dame mit leichtem Seufzer.

„Frühstück? ... es ist ein Uhr mittags — gnädige Frau!“ stotterte Simmel entsetzt.

Der Herr lachte leise auf. „Ganz recht, und das ist in Angerwies die Tischstunde. Liebe Melanie, wir werden uns den Sitten des Landes fügen, denn es ist das einzig Wahre und Vernünftige, wenn die Menschen um ein Uhr zu Mittag essen, nicht wahr, mein sehr verehrter Herr Wirt? Ich gebe Ihnen vollkommen recht darin.“

Herr Simmel erglühte vor Entzücken, denn der Fremde sprach voll gewinnendster Liebenswürdigkeit und fuhr näher tretend fort: „Nun dann sagen Sie uns einmal, was Ihre Frau für den Mittagstisch gekocht hat? Ich sah, dass ein paar Herren drunten im Speisezimmer am gedeckten Tische sassen, es gibt also doch table d’hôte bei Ihnen, wie dies in Ihrem vorzüglich renommierten Hotel zu erwarten war?“ Der Herr Wirt schnappte vor Entzücken nach Luft: „Zu viel Gnade — Herr ... Herr ...“

„Herr Graf“ — fiel der Fremde mit gnädigem Kopfnicken ein.

Simmel sank beinahe in die Knie ... „Herr Graf! — Aber unsere table d’hôte dürfte den hohen Herrschaften doch wohl viel zu einfach sein — — —“

„Na kommt darauf an. Also was gibt es?“ —

„Hafersuppe mit Backpflaumen ...“

Ein leiser Laut von dem Sofa herüber, — der Graf aber wandte mit schnellem Blick den Kopf und die Gräfin hustete schwach und leidend in ihr Taschentuch.

„Vorzüglich, ich schätze diese Suppe sehr!“ fuhr der Graf verbindlichst fort, — „was weiter? —“

„Hammelkoteletts mit Schnittbohnen!“ —

„Frische Bohnen bereits?“ — richtete sich die Gräfin interessiert auf. —

Herr Simmel erbleichte vor Schreck: „Um diese Zeit — im März??“ stiess er hervor.

Abermals lachte der Graf leise auf. „Aber teuerste Melanie, — du hast nie eine Bohne wachsen gesehen, darum muss der Herr Wirt deine Frage verzeihen! Es sind selbstverständlich Büchsenbohnen!“ „Fassbohnen, Herr Graf!“ verbesserte Simmel demütig, „aber weich wie Butter! Meine Alte hat sie selber eingelegt und versteht sich darauf!“ Die Gräfin sank wie vernichtet in die Sofaecke zurück, aber ihr Gemahl lächelte sehr jovial: „Davon bin ich überzeugt, — Ihre Frau soll ja eine Meisterin der Kochkunst sein! — Und damit sind wir am Ende?“

Nun wuchs der Gefragte wieder selbstbewusst empor. „Noch Hühnerbraten mit Kartoffelsalat!“ setzte er stolz hinzu: „Der Herr Assessor hat es so eingeführt, dass wir drei Gänge haben, — Sonntags sogar noch eine süsse Speise.“

„Ei, das ist ja fabelhaft! Nun, Sie haben mir bereits den Mund wässerig gemacht, bester Herr, und bitte ich, sogleich für uns servieren zu lassen.“

„Die Herrschaften wünschen hier oben zu speisen?“ Die Gräfin wollte lebhaft zustimmen, — aber wieder traf sie der seltsame Blick des Grafen.

„O nein, warum das? Wir lieben die Gesellschaft“, lächelte er abermals sehr huldvoll, „und werden an der table d’hôte speisen.“ — „Herr Graf!!“ wie ein Schrei des Entzückens klang es.

„Wer sind die Herren, die das Mahl mit uns teilen werden?“ —

„O gnädigste Gräfin — sehr feine, sehr anständige Herren, nur Honoratioren der Stadt —! Da ist der Herr Assessor Bärning — früher in den grössten Städten gewesen, der Vater sogar Geheimrat — dann der Herr Apotheker — ein sehr vermöglicher Herr, dem das grosse Eckhaus drüben am Markt gehört — dann der Herr Kreissyndikus, dessen Mutter sogar vom Adel gewesen, — der Auditeur ...“

„Schon gut! schon gut! Das sind ja höchst respektable, ehrenwerte Herren, mit denen zu speisen ein Vergnügen und ein Vorzug ist; — wollen Sie das den Herren bitte sagen und uns an ihren Tisch placieren, — wir kommen sofort.“ —

Herr Simmel stolperte über die Schwelle zurück, wie betrunken vor Entzücken. Atemlos kam er in die Gaststube und richtete seinen Auftrag aus: „Der Herr Graf und die Frau Gräfin werden hier unten bei Ihnen speisen!“ —

Wie eine Bombe wirkten diese Worte. Der Assessor bekam zwei rote Flecken auf den Wangen, und sprang empor. „Noch zehn Minuten warten! Ich muss Toilette machen, wenn wir Damenbesuch erhalten —“ schrie er und stürzte wie ein Blutvergiesser aus dem Zimmer. Ihm nach in wilder Eile die anderen Herren, welche nicht hinter dem tonangebenden Genossen zurückstehen wollten.

Fräulein Klärchen deckte währenddessen den Tisch neu um, — lauter frische Wäsche, obwohl es unter Frau Marthes Szepter überall sauber aussah. — Sogar ein Strauss von frischem Tannengrün und Epheu schmückte die Tafel. —

Endlich erschienen die Herren wieder auf der Bildfläche, pomadisiert, rasiert und sonntäglich gekleidet. Der Assessor trug die goldene Uhrkette mit den vielen Berloques und den Diamantring am kleinen Finger, — der Apotheker hatte über die linke Hand einen Handschuh gezogen, weil er einen schlimmen Finger hatte und der Lappen darum ihm nicht fein genug deuchte. Man stand voll feierlicher Spannung und erwartete die hohen Gäste. Endlich rauschten die seidenen Nöcke auf der steilen Holztreppe. Am Arm ihres Gatten betrat die Gräfin das Speisezimmer. Ohne Pelz und Hut sah sie noch schöner aus und dem Assessor wallte das Blut zum Herzen, wie von süsser Erinnerung an bessere Zeiten — an elektrisches Licht, — Professorenbälle und den ganzen Zauber des grossstädtischen high life! —

Die stahlblaue, schwere Seide umspannte tadellos die schlanke und doch üppige Figur, die blonden Haare schimmerten matt über der weissen Stirn, und wenn auch das Gesicht bei näherer Betrachtung nicht sehr frisch und nicht regelmässig oder anziehend in seinem Ausdruck war, so wirkte es doch geradezu verblüffend vornehm.

Diese letzte Art war auch dem Grafen in hohem Masse eigen. Er sah aus wie ein Diplomat. Im Grunde genommen schienen seine Züge und Augen kalt, berechnend, — seelenlos wie ein Stein, — aber wenn er mit seiner leisen, einschmeichelnden Stimme sprach, legte sich das farblose Gesicht in die liebenswürdigsten Falten, und es hatte geradezu etwas Berauschendes, wenn dieser sichtlich sehr verwöhnte, kluge Mann voll gewinnendster Höflichkeit die Meinungen seiner Tischgenossen anerkannte und jedem der Herren etwas Angenehmes zu sagen wusste. Sein Haar war leicht ergraut und schon etwas gelichtet, aber der Schnurrbart noch tiefschwarz und auf das eleganteste gekräuselt, das machte ihn interessant. — Schmale, bleiche Hände mit langgebogenen Nägeln verrieten den Aristokraten. Die Gräfin war steifer und einsilbiger wie ihr Mann, aber sie ward lebhafter, als ihr Nachbar, der Assessor alle alten Künste des Courmachens heraufbeschwor und die schöne Frau in allen Tonarten anschmachtete.

Ein paarmal stand ihm schier das Herz still, in süsser Wonne, als Frau Melanie in ihrer nachlässigen Weise ein ganz klein wenig mit ihm kokettierte und als sie schliesslich einen Apfel schälte, ihn mit den diamantglitzernden Händchen graziös zerteilte und den Teller bei den Herren in die Runde schickte, wäre wohl ein jeder für sie durch das Feuer gegangen.

Namen und Wohnort hatte man noch nicht erfahren und wagte auch selbstverständlich nicht, dies zu erforschen. Man erfuhr nur, dass der Graf nach einer Friseuse für die Gattin und einem Kammerjungferdienste leistenden Stubenmädchen gefragt hatte. — Umstände halber war es nicht möglich gewesen, die eigene Dienerschaft mitzunehmen.

Dass die Herrschaften in der Residenz lebten und intim bei Hofe verkehrten, ging aus jedem Wort hervor.

Auch grosse Reisen im In- und Auslande hatten sie gemacht, — und trotz all dieser gewiss namenlosen Verwöhnung waren sie die gewinnendste Güte und Nachsicht!

Der Graf richtete die huldvollsten Worte an Frau Marthe und lobte ihr Essen ganz ausserordentlich, „es sei ein Genuss, solch meisterlich bereitete Speisen zu essen.“ —

Da hatte er die Stelle getroffen, wo die biedere Wirtin sterblich war. — Ganz geschwollen vor Stolz und Glück schritt sie einher, und all die Basen und Gevatterinnen welche die Neugierde zu ihr in die Küche trieb, hörten eitel Begeisterung über die feinsten aller Gäste.

Als sich die Tafel bereits ihrem Ende näherte, sah die Gräfin plötzlich angestrengt aus dem Fenster, vor welchem sich, bequem zu übersehen, der holprige, ziemlich grosse Marktplatz mit dem überdachten Brunnen in der Mitte, ausdehnte.

Ihr Blick schärfte sich, — unbemerkt stiess sie ihren Gatten mit dem Fusse an und dieser folgte der Richtung ihres Auges.

Da sah er etwas Überraschendes!

Quer über das Pflaster stolperte eine ganz seltsam aussehende Männergestalt.

Eine kleine gedrungene Figur stak in einem Schafpelz — die Haare nach innen — welcher den Eindruck eines Sackes machte und um die Taille nur einen scharfen Einschnitt aufwies, welchen ein — als Gürtel benutzter Gerick gezogen.

Klobige hohe Stiefel von Rindsleder machten die Füsse zu wahren Monstrums und der sehr dicke Kopf mit breitem, bartlosem, starkgerötetem Gesicht trug eine Pelzmütze, wie sie in der Kinderstube der Knecht Ruprecht vor Weihnachten als schreckenerregendes Requisit zur Schau trägt.

Der seltsame Mann rannte mit vorgestrecktem Halse in stierem Eifer daher, — fuchtelte mit den Händen in die Luft und schien laute Selbstgespräche zu halten.

Seltsamerweise sahen ihm ein paar Strassenjungen nur grinsend nach, ohne johlend neben der auffallenden Erscheinung herzutraben. Dieselbe musste also wohl in Angerwies schon bekannt sein. — Graf und Gräfin wechselten blitzschnell einen Blick des Einverständnisses, ja der Gatte machte eine jählings zustimmende Kopfbewegung. Da nahm Frau Melanie ganz wie von ungefähr ihre langstielige Lorgnette von ciseliertem Gold zur Hand und blickte noch einmal hinaus, diesmal offiziell.

Und dann stiess sie einen leisen, entsetzten Laut der Überraschung aus, welcher jedes Gespräch verstummen machte, wies nach der seltsamen Gestalt auf dem Marktplatz und rief mit sehr harter, lauter Stimme und ganz besonderem Ausdruck: „Mon Dieu, wie schrecklich, da läust ja ein Verrückter!!“ —

Der Majoratsherr Bd. 1

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