Читать книгу Rassismus. Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen! - Natasha A. Kelly - Страница 4
Kapitel 1: Rassismus und Geschichte
ОглавлениеIm Zuge des BLM-Sommers 2020 wurden weltweit Denkmäler von umstrittenen historischen Personen gestürzt. In den USA wurden zahlreiche Kolumbus-Denkmäler vom Sockel gerissen. In Großbritannien wurde das Denkmal des »Versklavers« Edward Colston ins Hafenbecken geworfen. In Belgien wurde das Bildnis von König Leopold II verbrannt. In Frankreich wurde Voltaire entstellt. Ebenso in Australien: Dort wurden gleich mehrere Denkmäler des britischen »Entdeckers« James Cook bemalt. Die Liste der Interventionen in koloniale Erinnerungskultur während des Sommers 2020 ist lang und zeigt, wie zentral das Thema Kolonialismus in der Auseinandersetzung mit Rassismus ist. Heute ist Kolonialismus als Macht- und Herrschaftssystem zwar vorbei, ideologisch wirkt er aber als sogenannte Kolonialität fort.[10] Die rassistischen Ideen des Kolonialismus beeinflussen bis in die Gegenwart hinein Körperbilder, Wissen und Wissensproduktion sowie die Machtstrukturen unserer Gesellschaft. So bestimmt die andauernde Kolonialität etwa noch immer das Verständnis dessen, wer oder was »deutsch« ist.[11] Die Proteste des Sommers 2020 machen auch deutlich, dass die deutsche koloniale Erinnerungskultur große Defizite aufweist. So wird mit der andauernden Kolonialität deutsche Geschichte stets aus weißer Perspektive geschrieben. Doch wir müssen in einer postkolonialen Perspektivumkehr deutsche Geschichte auch von einem Schwarzen Standpunkt aus betrachten.
Im Berliner Tiergarten wurde das Bismarck-Nationaldenkmal, eines von über sechshundert existierenden Bismarck-Denkmälern in Deutschland und seinen ehemaligen Kolonien, großflächig mit pinker und goldener Farbe besprüht und beschriftet: Auf dem Sockel der Statue stand in schwarzen Buchstaben »Decolonize Berlin« – wie es schon seit Jahren von Aktivist:innen gefordert wird. Allerdings distanzierte sich das Bündnis Decolonize Berlin e.V. in einer öffentlichen Stellungnahme von dieser Aktion. Das Bündnis besteht aus zehn zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich bereits seit Längerem für Straßenumbenennungen, die Rückführung menschlicher Gebeine, für politische und kulturelle Bildung und andere postkoloniale Projekte einsetzen. Es wird vom Land Berlin finanziert und fungiert als Koordinierungsstelle »für ein gesamtstädtisches Aufarbeitungskonzept Berlins kolonialer Vergangenheit«, wie es auf der Homepage heißt. Seine Aufgabe ist es, »Vorschläge zu formulieren, um die Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit zu intensivieren, das Thema in Wissenschaft und Bildung zu verankern und würdige Formen des Erinnerns zu entwickeln«, heißt es weiter.[12]
Aber welche »würdigen Formen des Erinnerns« an europäische Kolonialgeschichte gibt es? Einige Kunsthistoriker:innen halten es für den falschen Weg, Denkmäler zu zerstören. Sie sagen, es sei besser, sich durch Gegendenkmäler kritisch mit Geschichte auseinanderzusetzen. Allerdings kommen solche Vorschläge erst, wenn radikale Interventionen erfolgt sind. Weniger radikale Einsprüche und Forderungen werden meist nicht gehört. So demonstriert etwa das Komitee für ein afrikanisches Denkmal in Berlin (KADIB) bereits seit 2007 für eine Gedenkstätte, die an die Schwarzen Opfer des Kolonialismus, des Nationalsozialismus und der rassistischen Gewalt der Nachkriegszeit erinnern soll. Jedes Jahr findet im Februar ein vom Komitee organisierter Gedenkmarsch statt, der sich zeitlich auf das Ende der Berliner Kongokonferenz von 1884/85 bezieht. Ins Leben gerufen wurde die Initiative laut Pressemitteilung, »um der Forderung nach Anerkennung der Verbrechen gegen afrikanische/Schwarze Menschen Nachdruck zu verleihen und um ihren Widerstand zu würdigen«. Aus demselben Grund hatten die Vereinten Nationen die internationale Dekade für Menschen afrikanischer Herkunft[13] unter dem Motto »Anerkennung, Gerechtigkeit, Entwicklung« ausgerufen (2015–2024), heißt es weiter. Aber statt diese Forderung anzuerkennen, schließe die Bundesregierung neo-koloniale Freihandelsabkommen, schaffe Abhängigkeiten von europäischer Entwicklungshilfe, exportiere Waffen und externalisiere seine Grenzlinien, während Afrikaner:innen im Mittelmeer durch unterlassene Hilfeleistungen der EU ertrinken.[14]
Das KADIB kritisiert in seinem Schreiben auch das 2019 von der Bundesregierung eröffnete Humboldt Forum im Berliner Schloss. Zwar bezieht sich die Einrichtung des Forums auf Artikel 5, Absatz 3 des Grundgesetzes, in dem die Freiheit von Kunst und Wissenschaft garantiert wird. Auch wird der Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus, Rechtsextremismus und jede Form von gewaltbereitem religiösem Fundamentalismus ins Zentrum ihrer Initiative gerückt.[15] Allerdings wird bei der Umsetzung des Projekts die Tragweite des deutschen Kolonialismus unterschätzt. So versäumen die Verantwortlichen, die Herkunft vieler historischer Objekte zu klären, die mit großer Wahrscheinlichkeit während der zahlreichen Kolonialkriege geraubt wurden. Im Zuge dessen fehle auch die Auseinandersetzung mit den Herkunftsgesellschaften der Objekte, konstatiert der Historiker Christian Kopp vom Aktionsbündnis No Humboldt 21 gegenüber der Deutschen Welle (DW).[16]
Es ist unangenehm, sich mit der eigenen Rolle im Kolonialismus auseinanderzusetzen. Einfacher ist es natürlich, Kolonialismus als Problem der anderen zu werten. Frankreich oder England seien schlimmer gewesen, heißt es, und außerdem sei der deutsche Kolonialismus nur sehr kurz gewesen.[17] In deutschen Schulbüchern wird Kolonialismus nur am Rande thematisiert. Mehr noch: In Unterrichtswerken der 1980er Jahre – und zwar in der DDR wie in der BRD – kam der deutsche Kolonialismus viel ausführlicher zur Sprache als heute.[18] Dabei kann Kolonialismus nicht von der Gründungsgeschichte Deutschlands getrennt werden – ebenso wenig wie die Geschichte des Rassismus. Welche Geschichte und Geschichten werden unseren Kindern heute bloß erzählt?
Genau genommen wäre die Gründung der ersten deutschen Nation ohne Rassismus gar nicht möglich gewesen. Denn im Glauben, es gebe »deutsches Blut«, wurden Rasse und Nation aufs Engste miteinander verstrickt.[19] In der Folge werden Deutsche noch heute als weiß, blond und blauäugig imaginiert. Diese Vorstellung fand ihren tödlichen Tiefpunkt bekanntermaßen im Nationalsozialismus. Doch es wäre falsch, zu glauben, dass der deutsche Rassismus im Nationalsozialismus begonnen habe und ausschließlich in der rechten Ecke zu finden sei. Und daher ist es auch falsch, Rassismus mit Rechtsextremismus gleichzusetzen.
Rassistische Ideen gibt es im Laufe der Geschichte immer wieder. Ende des 15. Jahrhunderts entwickelt sich in Spanien eine zu Anfang religiös begründete Idee von »Rassen«, die sich von dort aus in Europa ausbreitete. Im 18. Jahrhundert wird der Rassismus in Europa dann zu einer Wissenschaft verklärt. Daran war neben Disziplinen wie der Anthropologie, der Eugenik und den Sexualwissenschaften auch die europäische Philosophie maßgeblich beteiligt. Der deutsche Anthropologe Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) und der deutsche Philosoph Christoph Meiners (1747–1810) führten die rassistische Hierarchisierung ein. Der Rassebegriff fand in Deutschland insbesondere durch Immanuel Kant (1724–1804) Verbreitung und regt noch heute hitzige politische Diskussionen an, wie später aufgezeigt wird. Kant hatte wesentlichen Anteil daran, dass die Idee von »Rasse« als biologische Kategorie hierzulande Verbreitung fand. Durch sein Rassedenken und seine darauf aufbauende Rassenlehre wurde Rassismus überhaupt erst materialisiert, d.h., die Kategorie »Rasse« wurde in seinen Vorlesungen (1790–1791) zu einem greifbaren Konzept, auf dessen Grundlage Schwarze Menschen herabgewürdigt und diskriminiert werden konnten.[20] Kants rassifizierenden Ideen bildeten auch die Grundlage dafür, dass spätere Philosophen wie Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) die Vorstellung verbreiten konnten, Schwarze Menschen seien keine geschichtlichen Wesen, was er als Beweis für ihre vermeintliche Unterlegenheit anführte.[21] Bis heute wirkt »Rasse« als strukturierendes und ordnendes Merkmal auf die Gesellschaft zurück und hat dadurch eine soziale Funktion, die jenseits von biologischen Kategorien wirkt.
Während Immanuel Kant allen bekannt sein dürfte, muss der Schwarze Aufklärer Anton Wilhelm Amo (ca. 1703–1753) wieder ins kollektive Gedächtnis gerufen werden. Der Philosoph und Jurist promovierte 1729 an der Universität Halle-Wittenberg zu den Rechten der Schwarzen (damals mit dem M-Wort fremdbezeichnet) in Europa.[22] Seine Arbeit verweist bereits auf die Wichtigkeit von Recht und Justiz in allen Epochen Schwarzer deutscher Geschichte, wie auch später noch deutlich wird. Nach dreißig Jahren aktivistischer Forderung wird nun zu Recht als richtige Antwort auf die BLM-Bewegung endlich die M-Straße in Berlin-Mitte nach Amo umbenannt. Schon fünfzig Jahre vor Kant hatte er die Menschenrechte diskutiert und Schwarze Menschen dabei einbezogen. Ob Kant hingegen tatsächlich alle Menschen meinte, als er in seinen Schriften von allen Personen sprach, oder doch nur den (inzwischen sehr alt gewordenen) »weißen Mann«, bleibt fraglich. Dass er wohl eher Letzteren meinte, zeigt folgendes Zitat:
»Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben I* haben schon ein geringeres Talent. Die N* sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften. […] Die N* von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege.«[23]
Wir leben immer noch in der Verfestigung von Kants Rassenlehre, obwohl er selbst in seinem Spätwerk Zweifel an seiner eigenen Theorie hegte. Vom Sockel wurde Kant zwar nicht gestoßen, aber seine kritischen Schriften werden mit Blick auf den antirassistischen Protesten aufs Neue diskutiert – ein kleiner, aber wichtiger Fortschritt. Denn auch wenn Kant sich in seiner Altersschrift für die Gleichberechtigung aller Rassen aussprach und Kolonialismus und Versklavung verurteilte,[24] ist das Rassedenken, was die Grundlage seiner Rassenlehre war und zur Herausbildung der biologischen Kategorie Rasse geführt sowie Kolonialismus und Versklavung gerechtfertigt hat, nicht verschwunden. Noch heute sind die Nachwirkungen des Kolonialismus und somit auch des Rassedenkens der europäischen Aufklärung sowohl auf dem afrikanischen Kontinent als auch hierzulande in Form von Alltagsrassismus spürbar. Dieser reicht von Ablehnungen bei der Wohnungssuche über verweigerte Beförderungen im Beruf bis hin zu einfachen Fragen, die Schwarzen Menschen das Deutschsein absprechen, wie »Woher kommst du?« oder Aussagen wie »Du sprichst aber gut Deutsch«.[25]
Bei der weiteren Etablierung des Rassebegriffs und der Entwicklung von Rassentheorien spielte, wie eingangs erwähnt, der europäische Kolonialismus eine bedeutende Rolle. Das deutsche Kolonialreich umfasste Teile der heutigen Staaten Burundi, Ruanda, Tansania, Namibia, Kamerun, Gabun, Republik Kongo, Zentralafrikanische Republik, Tschad, Nigeria, Togo, Ghana, Neuguinea und mehrere Inseln im Westpazifik und Mikronesien. Koloniale Kontinuitäten zeigen sich heute in Deutschland im öffentlichen Raum (am Beispiel kolonialer Straßennamen), in Museen (am Beispiel kolonialer Raubkunst) oder in den Namen von medizinischen Kliniken, wie beispielsweise beim Virchow-Klinikum Berlin. Der deutsche Arzt und Pathologe Rudolf Virchow (1821–1902) gilt bis heute als einer der wichtigsten Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts. Im Laufe seines Lebens trug er eine große Sammlung von menschlichen Schädeln zusammen. Schätzungen zufolge wurden dafür rund dreihundert Schädel gestohlen. Sie stammen von Opfern des vierjährigen Aufstands der Ovaherero, Nama, Damara und San gegen ihre deutschen Kolonialherren von 1904 bis 1908. Teile dieser Sammlung sowie mehrere Objekte aus anderen Sammlungen sind im Berliner Medizinhistorischen Museum der Charité (BMM) gelagert. Ursprünglich gemessen, um Menschen von Tieren zu unterscheiden, wurden Schädel bald verwendet, um die Idee »menschlicher Rassen« zu bescheinigen. Später wurden sie eingesetzt, um mehr über den menschlichen Geist herauszufinden. Dies schlug jedoch mangels geeigneter Methoden fehl. Der Schweizer Anatom Franz Joseph Gall (1758–1828) versuchte zu beweisen, dass bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen in den Schädel eingeprägt seien, was zu der fiktiven Vorstellung führte, dass Charaktereigenschaften biologisch bestimmbar und messbar seien.[26]
Diese rassistischen Absurditäten nahmen keinen Abbruch und beeinflussten schon früh die soziale Realität von Schwarzen Deutschen, die auf Grundlage der kolonialen »Mischehegesetze« in den meisten Fällen als »illegitime« Kinder deutscher Eltern geboren wurden und aufgrund ihrer vermeintlichen »Rassenzugehörigkeit« kein Aufenthaltsrecht im deutschen Kaiserreich erhielten: Damals wurde Deutschsein per Gesetz als weiß festgeschrieben, ohne es jedoch explizit so zu benennen. Vielmehr wurde gesetzlich geregelt, dass die Nachkommen von Afrikaner:innen, damals »Eingeborene« genannt, nicht Deutsche sein könnten.[27] Auch die Residenzpflicht wurde als politische Kontrollmaßnahme in Kolonialregierungen eingesetzt und ist auch heute wieder im Asylgesetz zu finden: Nach § 56 des Asylgesetzes dürfen sich Asylbewerber:innen und Geduldete nur in einem ihnen zugewiesenen Aufenthaltsbereich bewegen. Als Reaktion auf die rassistischen Brandanschläge in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen Anfang der 1990er Jahre wurde dieses Gesetz durch den sogenannten Asylkompromiss verschärft.[28] Die damaligen Ausschreitungen sowie der seit Ende der 1990er aktive NSU, in Chemnitz und Zwickau verwurzelt, und sein weitreichendes Netzwerk bereiteten den Nährboden für die heutigen rassistischen Bewegungen wie Pegida, die Identitäre Bewegung, rechte Hooligans, NPD, AfD und nicht zuletzt »besorgte Bürger:innen«. Die in den Medien kreisenden emotional aufgeladenen Berichte über »kriminelle Migrant:innen« und »Wirtschaftsflüchtlinge«, gekoppelt mit Angstposts in den sozialen Medien, fanden breitflächig ihren Weg auf deutsche Straßen.[29]
Tödlichen Höhepunkt bildeten die gewalttätigen Ausschreitungen im ostdeutschen Chemnitz im September 2018. Nach einer Auseinandersetzung am Rande eines Stadtfestes war es zu einer Messerstecherei gekommen. Ein Mann wurde tödlich und zwei weitere schwer verletzt. Rechte und rechtsextreme Gruppen riefen aufgrund der Nachricht vom vermeintlichen Migrationshintergrund des Täters zu Demonstrationen auf. Die Polizei sah keinen Anlass, die Einsatzkräfte zu verstärken, obwohl sie rechtzeitig über die Aktivitäten informiert worden war. Die deutsche Presse schaffte es lange nicht, zu benennen, dass der getötete Daniel Hillig ein Schwarzer Deutscher war, der selbst jahrelang rechte Gewalt und Rassismus erleiden musste. Ein Umstand, der den rechten Netzwerken in die Hände spielte. Die rechte Szene zeichnete und instrumentalisierte das Bild eines Täters mit Migrationshintergrund, der einen vermeintlich weißen Deutschen tötete.[30] So versuchte die Szene, die Tat zu rassifizieren und als Beweis für den in der Einleitung bereits angesprochenen Mythos, es gebe Rassismus gegen weiße Menschen, zu missbrauchen.
Die Schwarze deutsche Historikerin Fatima El-Tayeb beschreibt die gegenwärtige Situation folgendermaßen:
»Die Not der Geflüchteten hat etwas erschreckend Stabilisierendes für die deutsche Identität. Die Welle rassistischer Gewalt um die sogenannte ›Asylkrise‹ in den 1990ern, der politische Ruck nach rechts, um den ›Sorgen der Bürger‹ entgegenzukommen, die Verschärfung eines vormals relativ großzügigen Asylrechts, das zum ersten Mal auf die Probe gestellt worden war – all das scheint ebenso vergessen wie die Diskussion um die Notwendigkeit, Rassismus als solchen zu benennen. Stattdessen geht es wie gehabt um ›Fremdenfeindlichkeit‹.«[31]
Rassismus als strukturelles Phänomen darf nicht hinter Worthülsen wie »Fremdenfeindlichkeit« oder »Ausländerfeindlichkeit« verschwinden, denn es geht hier weder um »Fremde« noch um »Ausländer:innen«. Fremdbezeichnungen wie »Migrant:in«, »Mensch mit Migrationshintergrund« oder »Mensch mit Migrationsgeschichte« greifen zu kurz, weil die meisten so bezeichneten Menschen vor vielen Jahrzehnten aufgehört haben zu migrieren. Wie wir am Beispiel von Anton Wilhelm Amo sehen, lebten Schwarze Menschen bereits im 18. Jahrhundert im deutschsprachigen Raum, und viele Schwarze Familien haben seit der deutschen Kolonialisierung noch immer ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland. Daher haben Schwarze Menschen das Recht auf eine eigenständige deutsche Geschichtserzählung, die nicht nur generationsübergreifende Migrationserfahrungen in den Vordergrund stellt, sondern Schwarze Vielfalt und Verwurzelung hierzulande widerspiegelt und Schwarze Menschen als Subjekte anerkennt. Dafür stehen die Selbstbenennungen Schwarze Deutsche oder Afrodeutsche bereit. Diese finden aber aufgrund des Rassismus nur schwer Einzug in Medien und Politik. Dabei kann und darf Schwarze deutsche Geschichte nicht ausschließlich im Kontext von Migration und Integration gelesen werden. Genauso wenig darf sie mit der Geschichte des Rassismus gleichgesetzt werden. Vielmehr müssen die Gesellschaftsstrukturen in den Blick genommen werden, die Ausschlüsse produzieren, eine Schwarze deutsche Geschichtserzählung unmöglich machen und das Gefühl erzeugen, »fremd im eigenen Land«[32] zu sein.
Die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts weist viele Beispiele andauernder Kolonialität auf, z.B. wie Schwarzen Deutschen ihr Deutschsein abgesprochen wurde und sie zu Fremden gemacht wurden, – und sie reichen sogar bis in das 21. Jahrhundert hinein. Als Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg im Rahmen des Versailler Vertrags seine Kolonien an die Alliierten abgeben musste, verloren die Deutschen nicht nur ihre Kolonialterritorien: Zahlreiche im Kaiserreich lebende Kolonialmigrant:innen verloren im Zuge dessen ihren Aufenthaltsstatus. Sie erhielten »Fremdenpässe«, wie Theodor Wonja Michael in seiner Biografie berichtet, oder sie wurden des Landes verwiesen.[33] Sie waren gezwungen, ihre deutsche Heimat und ihre Familien zu verlassen. Weiterhin wurden seit Ende des Ersten Weltkrieges die Nachkommen von Schwarzen, meist französischen Soldaten und weißen deutschen Frauen*, als »Rheinlandbastarde« herabgewürdigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wiederum nach einer offen rassistischen Bundestagsdebatte entschieden, die Kinder von Schwarzen US-amerikanischen Soldaten und weißen deutschen Frauen* in den USA zur Zwangsadoption freizugeben. Die rassistische Struktur war hierbei mächtiger als die Staatsangehörigkeit der weißen deutschen Mütter, deren Kinder nicht mehr als Deutsche in Deutschland leben durften – eine ziemlich perfide Verstrickung von Patriarchat und Rassismus. Die Bundestagsdebatte um diese Zwangsadoptionen verweist zudem auf die institutionelle Dimension rechtlicher Entscheidungen und macht die Billigung und Unterstützung des Anti-Schwarzen Rassismus durch die Alliierten sichtbar.[34]
Auch in der Geschichte der DDR finden sich Beispiele fortdauernder rassistischer Ausschlussprozesse. Der Kommunismus hatte nach dem Zweiten Weltkrieg den Faschismus zwar unterdrückt, ihn aber nicht zerstört. Rassismus und Antisemitismus wurden fortan strengstens gesetzlich geregelt, aber nie als nationale Realität anerkannt oder aufgearbeitet. So kam es in der DDR durchaus zu rassistischen, antisemitischen und auch neonazistischen Taten, von Schmierereien bis hin zu körperlicher Gewalt. Der Historiker Harry Waibel weist in einer 2014 erschienenen Studie zu unveröffentlichtem DDR-Archivmaterial ca. 9000 neonazistische, rassistische und antisemitische Propaganda- und Gewalttaten nach.[35]
Ein konkretes Beispiel des gesetzlich geregelten Rassismus ist etwa das der Schwarzen Vertragsarbeiter:innen aus Mosambik, Angola und Kuba, die nicht integriert wurden, sondern gezwungen waren, in Segregation zu leben. Nach der Wende wurden sie allerdings nicht in die gefeierte Gesamtgesellschaft eingebürgert, sondern zum Teil des Landes verwiesen, nachdem ihre Verträge beendet wurden. Ähnlich erging es in der DDR lebenden Namibier:innen. Mit dem Verlust der deutschen Kolonien nach dem Ersten Weltkrieg wurde Namibia mit den Vereinbarungen des Versailler Vertrags von 1915 bis 1990 einem anderen afrikanischen Land unterstellt: dem weißen Südafrika. Im Zuge ihrer Befreiungskämpfe gegen das Apartheidregime flohen viele Namibier:innen in das nördlich angrenzende Angola, wo sie von Kuba und der ehemaligen DDR gerettet werden konnten. Insgesamt vierhundert namibische Vorschulkinder kamen auf diesem Weg nach Ostdeutschland, wo sie bis zum Mauerfall gelebt haben. Mit der Wiedervereinigung und dem Erlangen der Unabhängigkeit Namibias wurden sie jedoch nicht eingebürgert, sondern nach Namibia zurückgeschickt, obwohl sie zum Teil seit 1979 in der DDR gelebt hatten. Mit der Wende ging ein wichtiger Teil (Schwarzer) deutscher Geschichte verloren, über den kaum in der Öffentlichkeit gesprochen wird.
Anders als andere Communitys schauen Schwarze Menschen in Deutschland nicht auf ein gemeinsames Herkunftsland zurück und sprechen auch nicht dieselbe Herkunftssprache. Aufgrund dieser Vielfalt ist es fast unmöglich, die Schwarze Community statistisch zu erfassen. Dies soll nun mit dem #Afrozensus erreicht werden. Von Juli bis September 2020 wurde die Onlinebefragung vom Schwarzen Empowerment-Projekt Each One Teach One (EOTO e.V.) durchgeführt, um belastbare Zahlen über die Lebensrealitäten, Diskriminierungserfahrungen und Zukunftsperspektiven von Schwarzen Menschen in Deutschland zu bekommen. Ziel der Hashtag-Initiative ist es, für mehr Sichtbarkeit der Schwarzen Bevölkerung zu sorgen. Die Ergebnisse werden im Frühjahr 2021 erwartet. Sie werden den Communitys und der Politik zur Verfügung gestellt. Auf dieser Basis sollen konkrete politische Maßnahmen vorgeschlagen werden, um Rassismus abzubauen und Schwarze Menschen in Deutschland besser schützen und fördern zu können.[36]
Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass wir über Rassismus nicht aus nur einer Perspektive heraus sprechen dürfen. Wir können verwobene Geschichten nicht erzählen, als handele es sich um eine einzige Geschichte. Wir können nicht viele Realitäten auf eine Realität minimieren und dann behaupten, das sei die ganze »objektive« Wahrheit. Und ebenso wenig können wir unseren Blick auf nationale Gegebenheiten begrenzen, sondern müssen auch immer den globalen Kontext mitdenken. Hinzu kommt, dass auch andere Debatten nicht in ihrer Gänze geführt werden können, ohne über strukturellen Rassismus zu sprechen, wie beispielsweise die Klimadebatte: Industrialisierung als Ursache des Klimawandels wurde nur durch Kolonialisierung und Versklavung möglich, die hier in Europa und nicht in den USA oder auf dem afrikanischen Kontinent mit den »Entdeckungsreisen« der Europäer:innen im 15. Jahrhundert begannen.[37] Auch treffen die Folgen des Klimawandels unterschiedliche geografische Regionen auf unterschiedliche Art und Weise, wie die Schwarze Klimaforscherin Rebecca Abena Kennedy-Asante erklärt:
»Weltkarten über die Verwundbarkeit zeigen, dass Länder im Globalen Süden am stärksten von Klimawandelfolgen betroffen sind. Beispielsweise gibt es in Trockengebieten spezialisierte Ökosysteme, die an hohe Temperaturen und geringe Niederschlagsmengen angepasst sind. Aber wenn sich das verstärkt, kollabieren die Systeme, und Individuen und Arten sterben. Veränderte Lufttemperaturen können Zyklone verstärken, wie dieses Jahr in Mosambik und Zimbabwe. Außerdem schmelzen Pole, Meeresspiegel steigen, Trinkwässer auf pazifischen Inseln versalzen, und Küstenregionen werden überflutet. So werden aus ökologischen Krisen soziale Krisen.«[38]
In Europa schauen wir allerdings vom Sofa aus zu, wie Schwarze Körper seit Jahren im Mittelmeer ertrinken, wenn sie versuchen, diesen Krisen zu entfliehen. Und sollten sie Europa doch erreichen, dann sind sie dazu verdammt, ihr Leben im Lager oder in der Illegalität mit stetiger Bedrohung von (staatlicher) Gewalt zu fristen. Erst dann, wenn wir also verstanden haben, dass Rassismus strukturell ist, das Rassedenken ungebrochen fortwirkt, Kolonialismus noch andauert und die Erderwärmung und das Sterben im Mittelmeer unmittelbar damit zu tun haben, können wir diese Debatten zusammenführen und nicht nur soziale Gerechtigkeit, sondern intersektionale Gerechtigkeit einfordern. Wenn wir aber die politischen Themen und gesellschaftlichen Teilbereiche voneinander isolieren, kommen wir nicht an die verwobenen Strukturen des Rassismus heran und können auch keine nachhaltigen Lösungen finden.