Читать книгу Keeva McCullen 4 - Tödliche Fesseln - Nathan R. Corwyn - Страница 4
Prolog
ОглавлениеAnfang März, nachts
Theobald Truax richtete sich auf, lockerte seinen Nacken und gönnte sich ein paar Sekunden Pause, ehe er mit der Arbeit fortfuhr.
Seine menschliche Gestalt war nicht annähernd so belastbar wie seine dämonische, trotzdem bevorzugte er sie gerade. Er tat es aus verschiedenen Gründen: Zum einen waren die menschlichen Hände besser dazu geeignet, den schmalen und eher kurzen Griff des Klappspatens zu halten, und zum anderen musste er sich, wenn er die Form wechseln wollte, noch einmal vollständig seiner Kleidung entledigen - ansonsten war es unvermeidbar, dass sie während des Verwandlungsprozesses zerriss.
Da er jedoch gerade keine Lust hatte, sich schon wieder auszuziehen – und auch keinen zusätzlichen Satz Hemden und Hosen bei sich trug - verzichtete er auf diese Option.
Lieber schaufelte er in der Gestalt eines alten Mannes langsam, aber stetig lockere Erde auf die blutigen Überreste der Ghule, die er nur wenige Stunden zuvor in dem düsteren Gewölbe getötet hatte.
Sein Enkel Shane hatte das Versteck der Monster entdeckt. Da der junge Mann jedoch mit einer derartig großen Anzahl der dämonischen Aasfresser niemals alleine fertig geworden wäre, hatte er sich hilfesuchend an seinen Großvater gewandt. Und Theobald Truax hatte – entgegen seiner sonstigen Maxime, sich tunlichst aus Streitigkeiten zwischen Dämonen und Menschen herauszuhalten – seinem Enkelsohn diese Hilfe gewährt, war hierher auf den alten Friedhof gekommen - und hatte die rund zwei Dutzend Ghule während eines kurzen, aber heftigen Kampfes in kleinste Einzelteile zerlegt.
Als Dämon, versteht sich - als Mensch besäße er hierfür nicht einmal ansatzweise die nötige Kraft.
Jetzt, nach seiner Rückverwandlung, klebte noch immer das Blut der Untiere an seinen Händen. Daher trug er Handschuhe aus weichem Leder – und das war der letzte Grund, warum er gerade keine Lust hatte, die Gestalt zu wechseln: das Leder schützte seine Handflächen vor Blasen, die er durch diese für ihn ungewohnte Tätigkeit sonst ziemlich sicher bekommen hätte.
Während er so gemächlich vor sich hin arbeitete, stellte er fest, dass er sich nach einer Dusche sehnte. Nun musste er endgültig über sich selbst lachen. Er lebte einfach schon zu lange unter den Menschen, war weich geworden und hatte unzählige von deren Eigentümlichkeiten übernommen. Der Wunsch nach Reinlichkeit war so ein Beispiel. Früher, als er noch im Reich der Dämonen gelebt hatte, hätte er dieses Verlangen nicht im mindesten nachvollziehen können. Oder die Tatsache, dass er Angst hatte, Blasen an seinen zarten Händen zu bekommen … wie sehr hatte er sich doch verändert.
Trotzdem bereute er seine Entscheidung, der Dämonenwelt den Rücken gekehrt zu haben, nicht. Im Gegenteil, er war froh, jener harten Welt entkommen zu sein. Einer Welt, in der das Leben geprägt war von Hinterlist, Egoismus und mitleidloser Grausamkeit.
Gleichwohl hatte er es in den fünfzig Jahren, die er jetzt unter den Menschen weilte, in der Regel vermieden, gegen seine eigenen Art zu kämpfen. Schließlich war er trotz alledem noch immer ein Dämon.
Nachdenklich betrachtete er die Überreste der Ghule, auf die gerade eine weitere Schaufel Erde fiel. Das Gemetzel war eine Ausnahme gewesen und bescherte ihm auch keine großen Gewissensbisse. Sein Enkel hatte Hilfe benötigt, weil dessen neue Bekanntschaft, eine junge Dämonenjägerin namens Keeva McCullen, sich in ernstzunehmender Gefahr befunden hatte. Daher war es für Theobald Truax selbstverständlich gewesen einzugreifen.
Nein, damit hatte er kein Problem.
Die ungewöhnlich große Anzahl der Ghule brachte ihn hingegen schon eher ins Grübeln. So viele dieser niederen Dämonen nisteten sich nicht von selbst inmitten einer Großstadt wie London ein. Da hatte ziemlich sicher jemand seine Finger im Spiel gehabt.
Und falls sich diese Befürchtung bewahrheiten sollte – nun, dann hätte er, Theobald Truax, sich die längste Zeit aus der ewig währenden Fehde zwischen Dämonen und Menschen herausgehalten. In so einem Fall würde ihm ganz bestimmt nichts anderes übrig bleiben, als sich auch weiterhin einzumischen - falls ihm der Frieden in seiner menschlichen Umgebung etwas bedeutete...
Als er mit der Spitze seines Spatens wenige Minuten später auf einen kleinen, harten Gegenstand stieß, stöhnte er auf. Er hatte schon befürchtet, dass er so etwas finden würde, bis jetzt aber noch die Hoffnung gehegt, dass er sich vielleicht doch irren könnte. Offenkundig war dieser Wunsch vergeblich.
Resigniert bückte er sich und hob auf, was er gerade freigelegt hatte. Er schüttelte die blutigen Reste des Ghulfelles ab, die noch an dem Objekt hingen, und betrachtete das Ding genauer. Es handelte sich um ein schmales Lederhalsband, an dessen einer Seite ein kleiner, dunkelroter Stein befestigt war. Theobald schloss die Augen und konzentrierte sich auf den Stein. Dann nickte er düster.
Ja, es war ein magisch veränderter Gegenstand. In der Dämonenwelt bezeichnete man solche Dinge als Lokalisierer - in der Welt der Menschen hätte man sie wohl Peilsender genannt. Die Funktion war jedoch die gleiche: Der Halbedelstein an dem Lederband war so verzaubert, dass sein Schöpfer – ziemlich sicher ein höherer Dämon – ihn mithilfe eines weiteren Zaubers jederzeit ausfindig machen konnte.
„Habe ich mir doch gedacht, dass dieser elende Erzdämon oder einer seiner Schergen seine schmutzigen Finger im Spiel hat“, fluchte Theobald Truax.
Er überlegte, was er tun sollte.
Der zauberkundige Besitzer des Lokalisierers würde bestimmt irgendwann in nächster Zeit nach dem Rechten sehen wollen und nachforschen, wo denn seine wertvollen kleinen Aasfresser geblieben waren. Und es wäre äußerst nützlich für Theobald Truax, wenn er sofort davon erführe.
Entschlossen nickte der alte Mann. Er legte den Spaten beiseite, umschloss das Lederband mit beiden Handflächen und sprach einige Sätze in einer uralten Sprache. Der Stein leuchtete kurz auf, wurde warm in seiner Hand und kühlte sogleich wieder ab - mehr geschah nicht.
Gleich darauf legte Theobald das Band zurück auf den Boden, nahe der Stelle, an der er es gefunden hatte. Er machte sich nicht die Mühe, es sonderlich zu verstecken, das war nicht nötig. Wer auch immer danach suchte, er würde sowieso sofort erkennen, dass die Zerstörungskraft, durch die die Ghule zerstückelt worden waren, nicht von einem Menschen stammen konnte.
Doch das störte Theobald nicht. Sollte derjenige ruhig wissen, dass er mit Gegenwehr zu rechnen hatte.
Seelenruhig hob er den Spaten wieder auf und machte sich erneut an seine unappetitliche Arbeit, diesmal etwas flotter. Je schneller er diese hässlichen Überbleibsel vergraben hatte – umso eher konnte er sich ein schönes, warmes Schaumbad gönnen...
*
Emma Wickham, die Haushälterin der Familie, riss die Haustür auf, noch ehe Keeva klingeln konnte, und winkte das junge Mädchen herein.
Keeva, die sich mit der einen Hand auf eine Krücke stützte und in der anderen eine Plastiktüte trug, brauchte einen Moment, um sich von ihrer Überraschung zu erholen.
„Ich habe schon auf euch gewartet“, erklärte die kleine, grauhaarige Dame, und fügte entrüstet hinzu: „Hat man dir nicht einmal zwei Krücken gegeben?“
Keeva musste lachen und humpelte ins Haus.
Ihr Vater Liam, der hinter ihr die Treppen zu dem gepflegten viktorianischen Reihenhaus der McCullens herauf kam, fiel in das Lachen mit ein. Er hob den Arm, mit dem er das Gegenstück zu der Krücke seiner Tochter hielt.
„Hier ist die andere“, meinte er. „Aber Keeva hat darauf bestanden, dass sie nur eine braucht.“
Keeva zuckte verlegen mit den Schultern.
„Es ist überhaupt nicht so schlimm wie ihr meint“, erklärte sie, immer noch grinsend. „Der Fuß ist ja nicht einmal gebrochen.“
Emma blickte das Mädchen skeptisch an, sagte aber nichts mehr dazu. Sie entdeckte die Tüte in Keevas Hand.
„Ist das deine Schmutzwäsche?“, fragte sie - und als Keeva nickte, nahm sie ihr den Beutel ab, öffnete ihn – und schloss ihn sogleich entsetzt wieder.
„Das stinkt ja grauenhaft!“, rief sie aus.
Liam, der seiner Tochter gerade die zweite Krücke aufdrängen wollte, sah erstaunt zu ihr hin.
„Woher kommt das denn? Du bist doch nur von einem Baum gefallen?“
Keeva biss sich auf die Lippe.
Was Emma gerochen hatte, war der Gestank eines halb verfaulten Leichnams – und eines toten Ghuls, der direkt über ihrer Jeans zusammengebrochen war. Nur konnte sie das nicht zugeben. Ihr Vater durfte nicht erfahren, welchem Hobby sie nachging und wobei – und an was für einem Ort - sie sich letzte Nacht tatsächlich den Fuß verletzt hatte.
Ihrer Familie – und dem Personal des Krankenhauses, in welchem sie die letzte Nacht verbracht hatte – hatte Keeva erzählt, sie wäre von einem Baum gestürzt. Weil sie eine Katze hatte retten wollen. Und jetzt musste sie schnell eine Erklärung dafür finden, warum ihre Hose so erbärmlich stank ...
„Tja“, sagte sie mit verlegenem Gesichtsausdruck. „Leider war unter dem Baum ... nun, ein Hundehaufen.“
Es gelang ihr tatsächlich, so peinlich berührt auszusehen, dass weder Emma noch ihr Vater weiter nachfragten.
Emma bemühte sich stattdessen, die Tüte in ihrer Hand fest verschlossen zu halten, nickte ihr noch einmal aufmunternd lächelnd zu - und verschwand sofort in der Küche, wohl um den Übeltäter gleich in die Waschmaschine zu werfen.
Ihr Vater wiederum gab den Versuch auf, sie zu einer zweiten Krücke zu überreden. Er beschränkte sich darauf, seine sture Tochter, die auch während des Treppensteigens jegliche Hilfe freundlich, aber bestimmt ablehnte, bis zum ersten Stock zu begleiten.
„Brauchst du noch etwas?“, fragte er schließlich, gab ihr – als sie nur lächelnd den Kopf schüttelte – mit einem aufmunternden Gesichtsausdruck einen Kuss auf die Wange und verschwand in seinem Arbeitszimmer.
Erleichtert humpelte Keeva die restlichen Treppen hoch ins Dachgeschoss, zu ihrem eigenen Zimmer. Oben angekommen schloss sie die Tür hinter sich und ließ sich mit einem befreiten Seufzer auf ihr Bett fallen. Halb im Liegen streifte sie den einzelnen Schuh von ihrem unverletzten Fuß – an ihrem anderen trug sie keinen, denn der befand sich unter einer dicken Schiene - und schob sich noch weiter aufs Bett.
Dann wartete sie.
Es dauerte nicht lange, und ein Klopfen erklang von ihrer Tür.
„Komm rein, ich habe schon mit dir gerechnet“, rief sie fröhlich.
Die Tür ging auf und ihr Großvater, Robert Paddock, trat ins Zimmer.
„Also hab ich richtig geraten und es gibt etwas zu erzählen“, meinte er grinsend.
Er setzte sich auf den alten Lehnstuhl, der an der einen Wand von Keevas Zimmer stand, und sah sie neugierig an.
„Du bist wohl doch nicht einfach nur von einem Baum gefallen.“
„Nein!“, sagte sie nur, sein Grinsen erwidernd.
„Jetzt lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen“, schalt er sie liebevoll. „Rücke schon raus mit deiner Geschichte.“
„Na gut“, sagte Keeva.
Sie begann zu erzählen ...
„Das gefällt mir gar nicht“, murmelte Robert Paddock, nachdem seine Enkelin ein paar Minuten später ihren Bericht beendet hatte.
„Was? Das mit den vielen Ghulen?“, entgegnete Keeva. „Ja, das haben sie auch gesagt.“
Ihr Großvater sah erstaunt auf.
„Sie? Wen meinst du damit?“
Keeva hätte sich ohrfeigen können. Sie hatte ihre Geschichte über die gestrigen Ereignisse absichtlich so verändert, dass Theobald Truax, der abtrünnige Dämon, darin keine Erwähnung fand.
Sie hatte die ganze Nacht im Krankenhaus darüber nachgedacht, was sie tun sollte – und war zu dem Ergebnis gekommen, dass sie ihr Wissen über seine Existenz lieber noch für eine gewisse Zeit für sich behalten wollte. Zumindest so lange, bis sie sichergehen konnte, dass der alte Dämon nicht von ihrer Familie gejagt werden würde. Sie glaubte zwar, dass das sowieso nicht der Fall sein würde – aber so ganz überzeugt war sie davon noch nicht.
Und jetzt hatte sie sich verplappert, denn Shane und sein Großvater Theobald hatten gestern die gleichen Bedenken hinsichtlich der Ghule geäußert. Auch sie fanden es verdächtig, dass sich eine solch große Anzahl dieser niederen Dämonen an einem Platz eingenistet hatte, an dem es überhaupt nicht genügend Futter für sie gab.
„Sie?“, fragte sie daher - und schaute so verdutzt, wie ihr nur möglich war. „Ich habe ‚wir‘ gesagt. Shane und ich, wir haben uns darüber unterhalten. Nachdem er mich gerettet hat.“
Ihr Großvater wirkte noch nicht so recht überzeugt, daher wechselte sie das Thema.
„Wir“ - sie betonte das Wort so übertrieben, dass ihr Großvater gespielt genervt mit den Augen rollte - „haben übrigens auch eine verdammt gute Idee gehabt!“
Die Ablenkung funktionierte, der alte Mann horchte auf.
„Ach ja? Welche denn?“
„Nun“, begann sie. „Da Shane ja zu einem Viertel ein höherer Dämon ist, könnte er mir dabei behilflich sein, nach wirkungsvollen Schutzmöglichkeiten für weibliche Dämonenjäger zu forschen.“
Robert Paddock sah zuerst etwas verwirrt aus, doch dann klärte sich seine Miene.
„Ach, du meinst, als Schutz gegen die Gefahr, von einem höheren Dämon kontrolliert zu werden?“
Keeva nickte eifrig.
Seit Jahrhunderten schon war es Frauen verboten, zum Dämonenjäger ausgebildet zu werden. Und zwar einzig und allein deswegen, weil höhere Dämonen in ihren Geist eindringen und ihn kontrollieren konnten. Bis heute waren keine absolut sicheren Schutzmaßnahmen dagegen entwickelt worden. Wohl auch, weil es immer genügend männlichen Nachwuchs gegeben hatte – und Männer dieses Problem nicht kannten.
„Und wenn ich ein Amulett, einen Zauber oder was auch immer gefunden habe, der mich schützt“, sprach sie weiter. „Dann kann ich endlich Vater einweihen und ihm erzählen, dass ich eine ausgebildete Dämonenjägerin bin. Und vielleicht kann ich später sogar das Ritual durchführen.“
Sie sah ihn hoffnungsvoll an.
Das Ritual der Dämonenjäger – bei dem das Blut eines Dämons getrunken wurde, dem mit einem speziellen Trank die Giftigkeit genommen worden war – schloss üblicherweise die Ausbildung eines Jägers ab. Ihr Großvater hatte Keeva zwar vollständig ausgebildet, aber dieses Ritual hatte er ihr nicht erlaubt. Es gab einem Jäger die Fähigkeit, einen Dämon ohne zusätzliche Hilfsmittel über eine gewisse Entfernung aufzuspüren - hatte aber gleichzeitig die Nebenwirkung, dass der Jäger selbst für einen höheren Dämon ebenfalls leichter erkennbar wurde. Und in Anbetracht der weiblichen Schwachstelle hatte Robert Paddock entschieden, dass dieses Ritual seine Enkeltochter zu stark gefährden würde.
Sogar jetzt blickte er sie mit einer Mischung aus Zuneigung und Skepsis an.
„Gegen solche Forschungen ist sicherlich nichts einzuwenden“, meinte er vorsichtig. „Aber freue dich nicht zu früh. Vielleicht gibt es ja überhaupt kein Mittel, dass dich hundertprozentig schützen kann.“