Читать книгу Keeva McCullen 5 - Kuss der Pandora - Nathan R. Corwyn - Страница 4
Prolog
ОглавлениеNorwegen
Nebelschwaden durchzogen das Moor. Die Konturen der niedrigen Bäume und Sträucher zerflossen, wurden zu undeutlichen Schatten, die an zusammengekauerte, lauernde Gestalten erinnerten. Das rötliche Licht der untergehenden Sonne verstärkte diesen Eindruck noch und es war still - wie immer um diese Zeit, an diesem Ort. Der Nebel dämpfte jegliches Geräusch.
Das feuchte Klatschen der eigenen Schritte drang dem alten Mann nur leise an das Ohr und bereits wenige Meter entfernt war es so gut wie gar nicht mehr zu hören – doch das spielte keine große Rolle. Aleksaner Hakonsen rechnete sowieso nicht damit, hier einem anderen Wanderer zu begegnen.
Die Gegend war verrufen, jedermann wusste, dass hier ein Ort der Geister war. Ein Ort, an dem es keinen Unterschied gab zwischen der Welt der Lebenden und der Welt der Toten, von dem man sich besser fernhielt, wenn einem der eigene Seelenfrieden etwas bedeutete – und genau aus diesem Grund hatte Aleksander diesen Platz einst gewählt. Ein perfektes Versteck für einen Gegenstand, der vor den Menschen verborgen gehalten werden musste.
Über vierzig Jahre lang hatte dieser Gegenstand hier sicher geruht und lediglich er, Aleksander Hakonsen, hatte von seinem Aufenthaltsort gewusst. Doch inzwischen war Aleksander alt – und er spürte, dass seine Kräfte nachließen, dass er schwach war … und müde.
Daher war die Nachricht, die ihm heute morgen zugestellt worden war, gerade recht gekommen: Sie enthielt die Aufforderung, die Schatullen nach London zu bringen. Der Brief war vollkommen unerwartet eingetroffen, aber Aleksander hatte sogleich eine starke Erleichterung verspürt. Es war gut, wenn er sein Geheimnis endlich an jemand anderen weitergeben konnte und von der Verantwortung dafür erlöst war.
Der alte Mann blieb stehen und sah sich um, dann nickte er. Er war am Ziel. Seit mehr als vier Jahrzehnten hatte er diesen Ort nicht mehr aufgesucht, erkannte ihn jedoch sofort wieder: Der eigenartig geformte Felsen, der verkrüppelte Baum, nichts davon hatte sich groß verändert. Nur er selbst war grau geworden in all dieser Zeit …
Er seufzte und warf den Beutel, den er auf dem Rücken getragen hatte, auf den federnden Boden und gönnte sich eine kurze Verschnaufpause. Unbehaglich sah er sich um. Dieser Ort hatte seinen schlechten Ruf nicht ohne Grund. Auch wenn der alte Mann keine Angst vor den Toten hatte – gegen Geister wusste er sich zur Wehr zu setzen -, so spürte er doch die beklemmende Magie, die hier jeden Zweig, jeden Stein, ja sogar die Luft, die er einatmete, zu durchdringen schien.
Er schüttelte dieses unangenehme Gefühl ab, beugte sich nach unten zu dem Sack, öffnete ihn und holte einen kleinen Spaten heraus. Ächzend richtete er sich wieder auf, ging zu einem Fleck neben dem eigenartig geformten Felsen und begann zu graben. Das schwindende Licht des Tages reichte momentan noch aus - für den Rückweg würde er jedoch die Laterne benötigen.
Aleksander ignorierte seinen protestierenden Rücken und schaufelte ein wenig schneller. Er wollte nicht zu spät zum Abendessen kommen. Heute war sein letzter Abend hier, er wollte ihn genießen. Außerdem würde Malin, seine Enkeltochter, sich sonst Sorgen um ihn machen - und womöglich ihren Mann mit den Hunden losschicken, um nach ihrem hilflosen alten Großvater zu suchen.
Sven würde ihn finden - Sven fand immer alles, und wenn nicht er, dann die Hunde - und Aleksander müsste erklären, warum in drei Teufels Namen er bei Einbruch der Dunkelheit im unheimlichsten Teil des Moores herumstiefelte, noch dazu in seinem Alter …
Aleksander lächelte bei dem Gedanken an das ernste Gesicht von Malins Mann. Für Sven bestand die Welt aus einer Aneinanderreihung von Problemen: hatte man eines gelöst, so konnte man sich sofort wieder mit dem nächsten herumplagen. Malin wiederum war das genaue Gegenteil, immer fröhlich und fast schon leichtsinnig optimistisch. Die beiden ergänzten sich hervorragend.
Die Spitze des Spatens stieß auf etwas Hartes, ein dumpfer Ton erklang. Vorsichtig schob Aleksander die Erde zur Seite und nach wenigen Minuten konnte er ein schmutzverschmiertes Bündel aus dem Boden ziehen. Er legte den Spaten beiseite, zog das fleckige Öltuch auseinander und betrachtete dessen Inhalt. Die zwei darinliegenden Schatullen, gefertigt aus edlem Holz, waren unversehrt, wie er erleichtert feststellte. Jede von ihnen hatte die Größe eines dicken Buches und war an allen Seiten mit aufwändigen Schnitzereien versehen. Die Oberflächen schimmerten matt und ihr elegantes Äußeres ließ nicht im mindesten erahnen, was für einen gefährlichen Inhalt sie verbargen.
Aleksander überprüfte die unsichtbaren, magischen Siegel, doch auch sie waren intakt. Zufrieden zog er ein frisches Tuch heraus, wickelte die beiden Kästchen sorgfältig darin ein und verstaute sie behutsam in seinem Tragebeutel.
Das alte, dreckverschmierte Stück Stoff warf er zurück in das Loch im Boden. Er schob schnell einige Schaufeln voll Erde hinterher - solange bis das Loch wieder halbwegs aufgefüllt war -, dann klopfte er den Boden sanft fest, richtete sich auf und betrachtete sein Werk. Jetzt konnten hier wenigstens keine Tiere mehr ins Straucheln geraten und sich womöglich verletzen.
Mithilfe einiger Grasbüscheln wischte er grob die Erde vom Spaten, räumte ihn zurück in den Sack und zog dafür die kleine Gaslaterne heraus, die er vorsorglich für den Rückweg eingepackt hatte. Er zündete sie an. Die Flamme brannte bläulich und fauchte leise.
Ein letztes Mal sah er sich um. Fast schon wehmütig dachte er darüber nach, wie an diesem einsamen, abweisend wirkenden Ort fast fünf Jahrzehnte lang vor der Welt verborgen gehalten worden war, was sich nun im Beutel über seiner Schulter befand.
Jetzt wurde dieses … Ding mehr oder weniger ungeschützt nach London transportiert - doch glücklicherweise war das ja nicht weit, wenige Flugstunden nur. Der alte Mann tröstete sich mit diesem Gedanken und unterdrückte das aufkeimende Unbehagen. Von dort aus würden die Schatullen bestimmt schnellstmöglich in ein neues Versteck gebracht werden, eines, das mindestens genauso sicher sein würde wie dieser Ort hier. Das Institut machte keine halben Sachen - und die Leute kannten die Gefahr.
Schließlich drehte Aleksander Hakonsen sich um und machte sich auf den Rückweg – ohne auch nur im Geringsten zu ahnen, was ihn in London erwartete …