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ОглавлениеEsther mit der Nadel
Esther Prynnes Gefangenschaft war jetzt zu Ende. Die Gefängnistür wurde ihr geöffnet, und sie trat heraus in den Sonnenschein, der, obwohl er auf alle ohne Unterschied fällt, ihrem Herzen in seiner krankhaften Empfindlichkeit zu keinem andern Zwecke da zu sein schien, als um ihren Scharlachbuchstaben auf ihrer Brust zu offenbaren. Vielleicht lag mehr wahre Folter in ihren ersten unbegleiteten Schritten von der Schwelle des Gefängnisses aus, als selbst in der Prozession und dem Schauspiele, welche wir beschrieben haben und worin sie zu der verkörperten Schmach gemacht wurde, zu welcher man alle Menschen herbeirief, um mit Fingern auf sie zu deuten. Damals war sie durch eine unnatürliche Anspannung der Nerven und die ganze kampfbereite Energie ihres Charakters unterstützt worden, die sie fähig machten, die Szene in eine Art schaurigen Triumph zu verwandeln. Überdies war es ein besonders isoliertes Ereignis, das nur einmal im Laufe ihres Lebens vorkommen und zu dessen Bekämpfung sie daher ohne Rücksicht auf Sparsamkeit die ganze Lebenskraft einsetzen konnte, welche für viele ruhige Jahre ausgereicht hätte. Gerade das Gesetz, welches sie verurteilt – ein Riese von strengen Zügen, der aber in seinen eisernen Armen sowohl die Kraft zu unterstützen wie die zu vernichten besaß –, hatte sie bei der furchtbaren Prüfung ihrer Schmach aufrecht erhalten. Jetzt aber, mit diesem unbegleiteten Gange von ihrer Gefängnistür aus, begann die tägliche Gewohnheit, und sie mußte es entweder durch die gewöhnlichen Hilfsquellen ihrer Natur ertragen und weiterführen oder darunter zusammenbrechen. Sie konnte nicht mehr bei der Zukunft Anleihen machen, um ihre gegenwärtige Not damit zu überwinden. Das Morgen mußte wieder seine eigene Prüfung mitbringen, der darauf folgende Tag ebenfalls und der nach diesem kommende wieder, ein jeder seine eigene Prüfung und doch gerade dieselbe, welche jetzt so unaussprechlich schwer zu tragen war. Die Tage der fernen Zukunft würden sich vorwärts mühen und jeder wieder die gleiche Last mitbringen, welche sie aufheben und weiterschleppen mußte, aber niemals niederwerfen durfte, denn die auflaufenden Tage und aufgebürdeten Jahre sollten ihr Elend auf die Wucht der Schande häufen. Immerwährend sollte sie ihre Individualität aufgeben und das allgemeine Symbol werden, auf welches der Prediger und Moralist deuten und an welchem sie ihre Bilder von der Schwäche und den sündigen Leidenschaften des Weibes verkörpern und beleben konnten. So auf sie zu schauen würde man die Jungen und Reinen lehren, mit dem auf ihrer Brust flammenden Scharlachbuchstaben; sie, das Kind ehrbarer Eltern, sie, die Mutter eines Kindes, welches dereinst ebenfalls ein Weib werden sollte, sie, die einst unschuldig gewesen war, – jetzt aber die gestaltgewordene, verkörperte, verwirklichte Sünde, und noch auf ihrem Grabe würde die Schande, die sie dorthin zu schleppen hätte, ihr einziges Denkmal sein.
Es wird vielleicht wunderbar erscheinen, daß jenes Weib, welches die Welt vor sich hatte –, welches durch keine bindende Klausel seines Urteils innerhalb der Grenzen der so abgelegenen und wenig bekannten puritanischen Niederlassung festgehalten wurde, dem es freistand, nach seinem Geburtsorte oder irgendeinem anderen europäischen Lande zurückzukehren und dort seinen Charakter und seine Identität o vollständig unter einem neuen Äußeren zu verbergen, als ob es in ein neues Leben träte –, dem überdies die Pfade des dunkeln, unerforschlichen Waldes offen standen, wo sich die Wildheit seiner Natur mit einem Volke assimilieren konnte, dessen Sitten und Lebensweise dem Gesetze, wodurch es verurteilt worden, fremd waren – es mag wunderbar erscheinen, daß dieses Weib noch den Ort, an welchem – und an welchem ausschließlich – es notwendigerweise das Sinnbild der Schande sein müßte, seine Heimat nannte. Aber es gibt ein Schicksal, ein so unwiderstehliches und unvermeidliches Gefühl, daß es die Kraft einer Vorherbestimmung hat, und welches fast stets den Menschen zwingt, in der Nähe des Ortes zu verweilen und gespensterartig denselben heimzusuchen, wo irgendein großes, eingreifendes Ereignis seinem Leben seine Färbung verliehen hat, und welches desto unwiderstehlicher wird, je dunkler die Färbung ist, welche es trübt. Ihre Sünde, ihre Schande waren die Wurzeln, welche sie in den Boden getrieben hatte; es war, als ob eine neue Geburt mit stärkeren Assimilationen als die erste das für jeden anderen Pilger und Wanderer noch immer so unfreundliche Waldland in Esther Prynnes wilde und öde, aber lebenslängliche Heimat verwandelt habe. Alle anderen Plätze der Erde, selbst das Dörfchen im ländlichen England, wo eine glückliche Kindheit und eine fleckenlose Mädchenzeit noch in der Verwahrung ihrer Mutter zu sein schienen, wie schon längst abgelegte Kleider, waren ihr dagegen fremd. Die Kette, die sie hier festhielt, bestand aus eisernen Gliedern und drückte sie bis in die Seele wund, konnte aber nie gebrochen werden.
Überdies konnte es sein – und ohne Zweifel war es auch so, obgleich sie das Geheimnis vor sich selbst verbarg und erbleichte, wenn es sich aus ihrem Herzen hervordrängte wie eine Schlange aus ihrer Höhle –, es konnte sein, daß noch ein anderes Gefühl sie in den Umgebungen und auf dem Pfade festhielt, welche ihr so verderblich gewesen waren. Hier wohnte, hier weilte der Fuß eines Menschen, mit dem sie sich in einer Verbindung für verknüpft hielt, die sie, wenn auch auf Erden nicht anerkannt, doch zusammen vor die Schranken des letzten Gerichts bringen und diese zu ihrem Trauungsaltar für eine gemeinsame Zukunft einer Sühne ohne Ende machen würde. Wieder und immer wieder hatte der Versucher der Seelen diesen Gedanken vor Esthers inneres Auge gedrängt und über die leidenschaftliche, verzweifelte Freude gelacht, womit sie ihn ergriff und sodann von sich zu werfen suchte. Sie blickte dem Gedanken kaum ins Gesicht und beeilte sich, ihn in ihrem Kerker einzuschließen. Was sie sich selbst zu glauben zwang, was sie sich endlich als ihren Beweggrund zum fortdauernden Aufenthalt in Neu-England einredete, war halb eine Wahrheit, halb ein Selbstbetrug. Hier, sagte sie sich, sei der Ort ihrer Schuld gewesen, hier sollte auch der Ort ihrer irdischen Strafe sein, damit vielleicht die Folter ihrer täglichen Schmach endlich ihre Seele reinige und eine andere Reinheit als die von ihr verlorene, eine heiligere Reinheit herbeiführe, weil sie das Resultat eines Märtyrertums war.
Esther Prynne floh daher nicht. Am äußersten Ende der Stadt, noch innerhalb der Halbinsel, aber nicht in der Nähe irgendeiner andern Wohnung befand sich ein kleines, mit Stroh bedecktes Haus. Es war von einem früheren Ansiedler erbaut und wieder verlassen worden, weil der Boden ringsum zum Anbau zu unfruchtbar war, während seine leidliche Abgeschiedenheit es außerhalb der Sphäre jener zwischenmenschlichen Beziehungen liegen ließ, die schon damals die Gewohnheiten der Auswanderer bestimmte. Es stand am Strande und schaute über eine Bucht des Meeres hinweg auf die westlichen, mit Wald bekleideten Hügel. Eine Gruppe von strauchartigen Bäumen, der einzige Bewuchs der Halbinsel, verbarg nicht so sehr die Hütte vor dem Blicke, als daß sie anzuzeigen schien, daß hier eine Sache sei, die sich gern verborgen hätte oder doch wenigstens besser verborgen geblieben wäre. In dieser kleinen, einsamen Behausung richtete sich Esther mittels eines geringen Vermögens, das sie besaß, und mit Erlaubnis des Magistrats, welcher immer noch eine inquisitorische Aufsicht über sie bewahrte, mit ihrem Kinde ein. Unmittelbar darauf begann sich auch ein geheimnisvoller Schatten von Argwohn an die Stelle zu heften. Kinder, die noch zu jung waren, um zu begreifen, weshalb diese Frau aus der Sphäre menschlicher Wohltaten ausgeschlossen blieb, krochen nahe genug, um zu sehen, wie die Frau am Fenster die Nadel spielen ließ, oder unter der Tür stand, oder in dem kleinen Garten arbeitete, oder auf dem Pfade, welcher stadtwärts führte, herankam; und sie sprangen, sobald sie den Scharlachbuchstaben auf ihrer Brust unterscheiden konnten, mit einer seltsamen, ansteckenden Furcht davon.
So einsam auch Esthers Lage war, und wenn sie auch keinen Freund auf Erden besaß, welcher für sie aufzutreten gewagt hatte, so war sie doch nicht in Gefahr, Mangel zu leiden. Sie kannte eine Kunst, die selbst in einem Lande, welches verhältnismäßig nur geringen Spielraum zu ihrer Ausübung bot, hinreichend war, um ihr aufwachsendes Kind und sich selbst zu ernähren. Es war die Kunst der Nadelarbeit, damals wie noch jetzt fast die einzige, die eine Frau ergreifen konnte. Sie trug auf ihrer Brust an dem schöngestickten Buchstaben eine Probe ihrer zarten, phantasiereichen Geschicklichkeit, welcher sich die Damen eines Hofes mit Freuden bedient hätten, um ihren seidenen und goldenen Stoffen den reicheren und geistigeren Schmuck der menschlichen Erfindungsgabe zuzufügen. Hier bei der dunklen Einfachheit, welche die puritanische Kleidermode zu charakterisieren pflegte, war der Bedarf an feineren Produkten ihrer Hände weniger häufig; aber der Geschmack des Zeitalters, welcher bei Dingen dieser Art das Künstliche und Mühsame verlangte, verfehlte nicht, seinen Einfluß über unsere strengen Vorfahren auszudehnen, die so viele Moden, deren sich zu entäußern schwerer erscheinen mochte, hinter sich geworfen hatten. Die öffentlichen Zeremonien, wie z. B. Ordinationen, die Einführung von Magistratspersonen und alles, was den Formen, worin sich eine neue Regierung dem Volke kundgab, Majestät verleihen konnte, wurden als Sache bewußter Politik durch ein stattliches, gut ausgeführtes Zeremoniell und einen düsteren, aber doch einstudierten Prachtaufwand bezeichnet. Breite Kragen, auf das feinste gearbeitete Manschetten und prächtig gestickte Handschuhe galten als für die offizielle Erscheinung derjenigen, welche die Zügel der Macht in die Hand nahmen, notwendig, und wurden gern durch Rang oder Reichtum ausgezeichneten Individuen erlaubt, selbst während die Aufwandsgesetze dem Plebejerstande diese und ähnliche Verschwendungen verboten. Auch bei der Anordnung der Leichenbegängnisse – sowohl für die Kleidung der Leiche als um die verschiedenartigsten emblematischen Anwendungen von schwarzem Tuch und schneeweißem Musselin den Schmerz der Überlebenden zu versinnbildlichen – gab es ein häufiges charakteristisches Bedürfnis von Arbeiten, wie sie Esther Prynne liefern konnte. Auch das Kinderzeug – denn damals trugen die Säuglinge schon Staatsgewänder – gewährte eine Aussicht auf Arbeit und Verdienst.
Allmählich, und zwar nicht eben langsam, kamen ihre Arbeiten, wie man es jetzt nennen würde, in die Mode. Sei es nun aus Mitleid für ein Weib von so unglücklichem Schicksal oder aus der krankhaften Neugier, welche selbst gewöhnlichen oder wertlosen Dingen einen eingebildeten Wert verleiht, oder aus irgendeinem andern ungreifbaren Umstände, der damals wie jetzt hinreichend war, um manchen Personen das zu gewähren, was andere vergebens suchen mochten, oder weil Esther wirklich eine Lücke ausfüllte, welche sonst hätte leer bleiben müssen, kurz, sie hatte hinreichende und billig vergütete Beschäftigung für so viele Stunden, als sie mit Nadelarbeit auszufüllen gedachte. Vielleicht wollte sich die Eitelkeit eine Buße bereiten, indem sie bei Prunk und Staatszeremonien die Gewänder anlegte, welche ihre sündigen Hände gearbeitet hatten. Ihre Nadelarbeit war an der Krause des Gouverneurs zu sehen, Bürgerwehr trug sie an ihren Schärpen und der Prediger an seinem Beffchen, sie zierte das Mützchen des Säuglings, sie wurde in die Särge der Toten verschlossen, um dort zu verwesen und zu vermodern. Es wird aber kein einziger Fall berichtet, wo ihre Geschicklichkeit benutzt worden wäre, um den weißen Schleier zu sticken, welcher das reine Erröten einer Braut verhüllen sollte. Diese Ausnahme zeigte die unermüdliche Wachsamkeit, mit welcher die Gesellschaft ihre Sünde verdammte.
Esther bemühte sich nicht, mehr zu erwerben als einen Lebensunterhalt der einfachsten und asketischsten Art für sich und eine einfache Fülle für ihr Kind. Ihre eigene Kleidung war von dem gröbsten Stoff und der dunkelsten Färbung mit nur dem einen Zierat: dem Scharlachbuchstaben, welchen zu tragen ihr Urteil gebot. Die Kleidung des Kindes zeichnete sich dagegen durch eine phantasiereiche, oder wir möchten lieber sagen eine phantastische Erfindung aus, die zwar den luftigen Zauber erhöhte, welcher sich frühzeitig an dem kleinen Mädchen zu entwickeln begann, aber auch eine tiefere Bedeutung zu haben schien. Wir werden später wohl noch darüber sprechen. Außer diesem kleinen Aufwand für das Herausputzen ihres Kindes verwendete Esther alle ihre überflüssigen Mittel zu Almosen für Unglückliche, die weniger elend waren als sie und nicht selten die sie nährende Hand schmähten. Einen großen Teil der Zeit, welche sie leicht auf die bessere Ausübung ihrer Kunst hätte verwenden können, benutzte sie zur Anfertigung von groben Kleidungsstücken für die Armen. Es ist wahrscheinlich, daß sie bei dieser Art der Beschäftigung eine Idee von Buße hatte und daß sie ein wirkliches Opfer des Genusses darbrachte, indem sie so viele Stunden auf eine so rauhe Arbeit verwendete. Sie hatte in ihrer Natur eine reiche, üppige, orientalische Eigenart – einen Geschmack an dem prachtvoll Schönen, welcher außer in den köstlichen Hervorbringungen ihrer Nadel in dem ganzen Umfange ihres Lebens keinen Raum zur Entwicklung fand. Die Frauen finden ein dem andern Geschlechte unbegreifliches Vergnügen in der zarten Arbeit der Nadel. Für Esther war sie vielleicht eine Art des Ausdrucks und daher vielleicht die Beschwichtigung der Leidenschaft ihres Lebens. Gleich allen andern Freuden verwarf sie auch diese als Sünde. Diese krankhafte Einmischung des Gewissens in unwesentliche Dinge bewies, wie wir fürchten müssen, keine echte, wankellose Bußfertigkeit, sondern etwas Zweifelhaftes, etwas, das darunter zutiefst unrecht sein konnte.
Auf diese Weise kam es, daß Esther Prynne in der Welt eine Rolle zu spielen hatte. Bei der angeborenen Charakterenergie und seltenen Fähigkeit, welche sie besaß, konnte sie jene nicht völlig abwerfen, obgleich sie ihr ein Zeichen aufgedrückt hatte, welches für das Herz eines Weibes unerträglicher war als das Mal auf Kains Stirn. Bei ihrem ganzen Verkehr mit der Gesellschaft kam jedoch nichts vor, was ihr das Gefühl verliehen hätte, als ob sie zu derselben gehörte. Jede Gebärde, jedes Wort und selbst das Schweigen jener, mit welchen sie in Berührung kam, ließen ahnen und drückten sogar oft aus, daß sie verbannt und ebenso allein sei, als ob sie einen andern Planeten bewohne oder mit der gemeinen Natur durch andere Organe und Sinne als die übrigen Menschen verbunden sei. Sie war von den Interessen der Sterblichen abgesondert und doch dicht neben ihnen wie ein Geist, welcher den heimischen Herd wieder besucht und sich nicht mehr sichtbar oder fühlbar machen, nicht mehr mit der Freude der Haushaltung lächeln, nicht mehr mit dem verwandten Kummer trauern kann, oder wenn es ihm gelingen sollte, seine verbotene Teilnahme kundzugeben, nur Schrecken und furchtbaren Widerwillen erweckt. Diese Empfindungen und überdies die bitterste Verachtung schienen das einzige zu sein, was sie noch im Herzen der Menge bewahrte. Es war kein Zeitalter feiner Empfindungen, und ihre Stellung wurde, wiewohl sie sie vollkommen begriff und nur geringe Gefahr lief, sie zu vergessen, oft durch die rauheste Berührung der zartesten Stellen wie eine neue Qual vor das lebhafte Bewußtsein ihrer selbst gebracht. Die Armen, wie schon gesagt, welche sie aufsuchte, um ihnen wohlzutun, schmähten oft die Hand, welche ausgestreckt wurde, um sie zu unterstützen. Damen von hohem Range, in deren Tür sie trat, wenn es ihre Beschäftigung so mit sich brachte, waren ebenfalls gewohnt, Tropfen der Bitterkeit in ihr Herz fließen zu lassen, zuweilen durch die Alchemie ruhiger Malice, womit die Frauen aus gewöhnlichen Kleinigkeiten ein feines Gift zusammenkochen können, zuweilen auch durch einen gröbern Ausdruck, der auf die ungeschützte Brust der Leidenden fiel, wie ein schwerer Schlag auf eine eiternde Wunde. Esther hatte sich lange und gut geschult: sie antwortete auf diese Angriffe nie durch anderes als eine purpurne Röte, welche unwiderstehlich auf ihre bleiche Wange stieg und wieder in die Tiefen ihrer Brust versank. Sie war geduldig, eine wahre Märtyrerin, aber sie enthielt sich des Gebets für ihre Feinde, damit sich nicht, trotz ihres Wunsches zu verzeihen, die Worte der Segnung hartnäckig in einen Fluch verkehrten.
Immerfort und auf tausenderlei Weise fühlte sie das Herzklopfen der Pein ohne Unterlaß, das ihr von dem unvergänglichen, allzeit tätigen Urteilsspruch des puritanischen Tribunals so ausgeklügelt zugedacht worden war. Geistliche blieben auf der Straße stehen, um Worte der Ermahnung an sie zu richten, die einen Auflauf von Menschen mit seinem Gemisch von Spottlächeln und Stirnrunzeln um das arme sündige Weib versammelten. Wenn sie in eine Kirche trat und das Sonntagslächeln des Vaters aller zu teilen hoffte, so war es oft ihr Mißgeschick, zu finden, daß sie selbst den Text der Rede abgab. Allmählich begann sie vor Kindern Furcht zu hegen, da sie von ihren Eltern eine unbestimmte Vorstellung von etwas Entsetzlichem an diesem einsamen Weibe einsogen, welches so stumm und nie mit andern Gefährten als einem einzigen Kinde durch die Stadt glitt. Sie ließen sie daher zuerst vorüber, und verfolgten sie dann aus der Ferne mit schrillem Geschrei und dem Nachrufen eines Wortes, welches für ihr eigenes Bewußtsein keine klare Bedeutung besaß, aber für Esther um so furchtbarer war, weil es von Lippen kam, die es nachschwatzten. Das alles schien eine so weite Verbreitung ihrer Schmach zu beweisen, daß die ganze Natur davon wußte. Es hätte ihr keinen tiefern Schmerz bereiten können, wenn das Laub an den Bäumen sich die düstere Geschichte zugeflüstert, wenn das Sommerlüftchen davon gemurmelt, wenn der Wintersturm sie laut ausgeschrien hätte. Eine andere eigentümliche Folter lag in dem Blicke eines neuen Auges. Schauten Fremde mit Neugier auf den Scharlachbuchstaben – und niemals verfehlte einer dies zu tun –, so brannten sie ihn frisch in Esthers Seele ein; so daß sie sich zuweilen kaum enthalten konnte, sich aber doch stets enthielt, das Symbol mit ihrer Hand zu bedecken. Dann aber hatte auch wieder ein kühles, vertrautes Auge seine eigene Pein aufzuerlegen. Sein kaltes bekanntes Gaffen war unerträglich. Ja, von Anfang bis zu Ende hatte Esther Prynne stets die entsetzliche Qual zu erleiden, daß sie ein menschliches Auge auf dem Zeichen fühlte. Die Stelle wurde nie unempfindlich, es schien sogar, als ob sie durch die tägliche Folter reizbarer werde.
Aber zuweilen in vielen Tagen oder vielleicht in vielen Monaten einmal fühlte sie ein Auge, ein menschliches Auge, auf dem schmählichen Brandmale, und es schien ihr eine vorübergehende Erleichterung zu gewähren, als ob die Hälfte ihrer Pein geteilt werde. Im nächsten Augenblicke strömte sie völlig wieder zurück und fügte ihr eine noch tiefere Qual zu, denn in diesem kurzen Zwischenraum hatte sie von neuem gesündigt. Hatte Esther allein gesündigt?
Ihre Einbildungskraft war einigermaßen von der eigentümlichen einsamen Folter ihres Lebens angegriffen und würde es noch mehr gewesen sein, hätte sie weichere moralische und intellektuelle Fasern besessen. Wenn sie mit ihren einsamen Schritten in der kleinen Welt, mit welcher sie äußerlich verbunden war, her und hin ging, kam es ihr zuweilen vor – war es auch ganz Phantasie, so besaß es doch zu viele Kraft, um Widerstand dagegen leisten zu können –, sie fühlte oder glaubte also zuweilen, daß der Scharlachbuchstabe ihr einen neuen Sinn verliehen habe. Es schauderte ihr bei dem Glauben, und doch konnte sie sich desselben nicht enthalten, daß er ihr eine sympathetische Kenntnis der verborgenen Sünde in dem Herzen anderer verleihe. Sie wurde von Entsetzen über die ihr so zuteil werdenden Enthüllungen ergriffen. Was waren sie? Konnten sie etwas anderes sein als das hinterlistige Flüstern des bösen Engels, der das widerstrebende Weib, bis jetzt nur halb sein Opfer, zu gern überredet hätte, daß die äußere Hülle der Reinheit nur eine Lüge sei, und daß, müßte überall die Wahrheit gezeigt werden, mancher andere als Esther Prynne den Scharlachbuchstaben auf seiner Brust flammen sehen würde? Oder mußte sie diese ihr dunkeln und doch so lebhaften Andeutungen als Wahrheit nehmen? In ihrer ganzen unglückseligen Erfahrung gab es nichts Furchtbareres und Abscheu Erregenderes als dieses Gefühl. Es verwirrte und entsetzte sie durch das unehrerbietige Unpassende der Anlässe, das es zu lebhafter Tätigkeit brachte. Zuweilen ließ die rote Schmach auf ihrer Brust ein sympathetisches Pochen fühlen, wenn sie an einem ehrwürdigen Geistlichen oder einer Magistratsperson vorüberkam, zu der jene altertümliche Zeit voller Ehrerbietung als Muster der Frömmigkeit und Gerechtigkeit wie zu einem mit Engeln in Gemeinschaft stehenden Sterblichen emporblickte. ›Welches schlimme Ding ist in der Nähe?‹ pflegte Esther zu sich zu sagen, und wenn sie ihre widerstrebenden Augen erhob, so war nichts Menschliches sichtbar als die Gestalt dieses irdischen Heiligen. Dann wieder machte sich eine mystische Schwesterschaft schmählich bemerkbar, wenn sie dem scheinheiligen Stirnrunzeln einer Matrone begegnete, die, wie alle Zungen behaupteten, ihr Leben lang kalten Schnee in ihrer Brust bewahrt hatte. Jener Schnee in der Matrone Busen, auf den nie ein Sonnenschein gefallen war, und die brennende Schmach auf der Brust Esther Prynnes – was hatten die beiden miteinander gemein? Oder ein anderes Mal verkündete ihr das elektrisierende Zucken: siehe da, Esther, hier ist eine Genossin! Und wenn sie aufblickte, entdeckte sie die Augen eines jungen Mädchens, welches scheu und verstohlen auf den Scharlachbuchstaben blickte und sich schnell wieder mit einem schwachen, kühlen Purpur auf den Wangen abwendete, als ob ihre Reinheit durch die rasche Betrachtung etwas besudelt worden sei. O Teufel, dessen Talisman dieses Symbol des Schreckens war, wolltest du dieser armen Sünderin weder an der Jugend nach am Alter etwas zu verehren übrig lassen? Ein solcher Verlust des Glaubens ist stets eine von den traurigsten Auswirkungen der Sünde. Man nehme als Beweis, daß an diesem armen Opfer seiner eigenen Schwäche und der harten Gesetze der Menschen doch nicht alles verderbt war, den Umstand an, daß Esther Prynne sich immer noch Mühe gab zu glauben, kein sterblicher Mitmensch sei so schuldig wie sie.
Das gemeine Volk, welches in jenen trüben, alten Zeiten dem, was seine Einbildungskraft interessierte, stets einen grotesken Schrecken beimaß, erzählte sich über den Scharlachbuchstaben eine Geschichte, welche wir leicht zu einer schaurigen Legende verarbeiten könnten. Es behauptete, daß das Symbol nicht bloßes, in einem irdischen Farbtopf gefärbtes Scharlachtuch sei, sondern von höllischem Feuer glühe und leuchtend zu sehen wäre, wenn Esther Prynne bei Nacht ihr Haus verlasse; und wir müssen schon sagen: es brannte in Esthers Busen so tief hinein, daß in dem Gerüchte vielleicht mehr Wahrheit lag, als unser moderner Unglaube zuzugeben geneigt ist.