Читать книгу Mondblume - Nelia Gapke - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDer Tag war schnell vergangen. Obwohl Aigul bis Mittag geschlafen hatte, war sie am Abend wieder ziemlich müde. Nachdem es dunkel geworden war, ging sie zu Bett. Sie hatte tagsüber im Schlafzimmerschrank eine dicke Decke entdeckt, die als Schlafunterlage für den harten Diwan optimal war. Morgen würde ihr Rücken, ihr für die Decke danken, denn mit der Unterlage war es um einiges weicher und bequemer. Trotz der komfortableren Schlafstätte und der Müdigkeit lag sie wach und hörte auf jedes Geräusch. Obgleich die Eingangstür verschlossen war, hatte sie ein sonderbares Gefühl. Sie hatte bisher noch nie in ihrem Leben allein in einem Haus übernachtet. Bilder von wilden Tieren und Einbrechern tauchten vor ihren Augen auf. Sie war ganz allein und bis zur Siedlung würde sie niemand hören, wenn sie um Hilfe rufen sollte. An Schlaf war nicht mehr zu denken. Sie stand auf und machte das Licht wieder an. Sie prüfte nochmal nach, ob die Eingangstür auch tatsächlich verschlossen war, ging dann in die Küche und holte aus einer der Schubladen ein großes Messer. Dieses packte sie unter ihr Kissen. Das beruhigte sie etwas, doch irgendwie konnte sie immer noch nicht einschlafen. Sie dachte an Muchtar. Nur gut, dass der Hund da war! Ob er als Wachhund etwas taugte? Vielleicht war es besser, ihn ins Haus hereinzulassen, dann wäre sie hier nicht mehr so allein? Gute Idee!
Sie ging zu der Eingangstür und schloss diese nach einiger Überwindung auf. Vorsichtig machte sie die Tür einen Spalt breit auf und spähte hinaus. Es war total dunkel und da sie aus einem hellen Raum kam, konnten ihre Augen nichts erkennen.
„Muchtar!”, rief sie leise, „Muchtar, komm her!”
Sie schrie auf und wäre beinahe in Ohnmacht gefallen, als der Hund mit einem ´Wuff´ so plötzlich vor ihr auftauchte und sie mit großen Augen anstarrte.
„Musst du mich so erschrecken, du dummer Hund!”, fuhr sie ihn, schwer atmend und mit klopfendem Herzen, an. „Los, komm herein!”
Sie machte die Tür etwas weiter auf und trat beiseite. Muchtar ließ sich das nicht zweimal sagen und war mit einem Satz im Wohnzimmer. Aigul schloss die Tür wieder ab und ging zu Muchtar, der mitten im Wohnzimmer stand und sie fragend ansah. Sie tätschelte seinen Kopf und lächelte.
„Guck mich nicht so an. Du schläfst heute Nacht hier.”
Sie löschte das Licht und legte sich wieder hin. Es war schon viel besser, wenn im Haus noch ein lebendiges Wesen war. Muchtar ging zum Diwan und platzierte sich auf dem Teppich, genau davor. Sie seufzte erleichtert auf. Mit einem Hund vor dem Bett und einem Messer unter dem Kissen würde sie bestimmt endlich einschlafen können.
*
Etwas Kaltes und Nasses berührte ihr Gesicht und jaulte. Aigul öffnete die Augen und blickte Muchtar direkt ins Gesicht. Der Hund jaulte wieder und blickte zur Tür. Es schien bereits in vollen Zügen die Sonne. Muchtar lief zur Tür und blickte sich nach ihr um.
„Ach, du willst bestimmt raus!”
Aigul sprang aus dem Bett, eilte zur Tür und ließ Muchtar nach draußen. Im Stehen streckte sie sich genüsslich und gähnte. Sie fühlte sich ausgezeichnet. Wenn man ihre anfänglichen Einschlafschwierigkeiten außer Acht ließ, hatte sie doch gut geschlafen. Sie war voller Energie und hüpfte tanzend und summend durch das Haus.
Sie war es nicht gewohnt tatenlos herum zu sitzen, also beschloss sie nach dem Frühstück das Haus gründlich aufzuräumen. Als erstes musste sie Wasser vom Fluss holen, da sie schon ziemlich viel zum Baden verbraucht hatte. Von fünf Eimern war nur noch ein Eimer voll. Also würde sie zwei Mal zum Fluss gehen müssen.
Das Wasser im Fluss war kristallklar, dass man jeden einzelnen Stein am Flussgrund erkennen konnte. Das Ufer war steinig und recht uneben. Rundherum wuchsen wilde Apfelbäume, Berberitzen und Sanddornsträucher. Am gegenüberliegenden Ufer ließen Trauerweiden ihre Äste bis zum Wasser hängen. Aigul hielt einen Moment inne und betrachtete das wundervolle Bild, das sich ihr bot. Muchtar fing plötzlich an zu bellen und preschte los. Etwas weiter entfernt tranken ein paar Rehe aus dem Fluss. Nun spitzten sie für einen Moment die Ohren und ergriffen dann die Flucht. Muchtar lief ihnen bellend nach und verschwand hinter der Flussbiegung.
„Muchtar! Muchtar, komm sofort zurück!”
Muchtar dachte jedoch gar nicht daran. Denn ein paar Minuten später, war er immer noch nicht zurück. Was war nur in diesen Hund gefahren?! Ärgerlich stellte Aigul die vollen Eimer ab und eilte dem Hund nach, immer wieder seinen Namen rufend. Was sollte sie Nasar sagen, wenn Muchtar nicht zurückkam? Das Laufen auf dem unebenen, steinigen Boden erwies sich als sehr schwierig. Aigul stolperte und fiel der Länge nach hin. Sie stöhnte und stemmte sich langsam hoch. Ihre Handflächen brannten, waren aber nur gerötet. Am Ellbogen leuchteten dicke Kratzer, doch am schlimmsten hatte es ihr Knie erwischt. Die Haut war abgeschürft und kleine Bluttropfen traten hervor und rannten in dünnen Linien langsam an ihrem Bein herunter.
Missmutig humpelte sie zum Wasser, setzte sich auf einen Stein und streifte ihre Sandale ab. Ihren Rock etwas höher ziehend, damit er nicht schmutzig oder nass wurde, tauchte sie ihr Bein bis zum Knie ins Wasser. Das kalte Nass linderte den Schmerz und spülte das Blut weg. Nach einer Weile zog sie ihr Bein aus dem eiskalten Wasser wieder heraus. Das Knie hatte aufgehört zu bluten, aber tat immer noch weh. Sie zog ihren Schuh wieder an und humpelte zu den Eimern zurück.
Von Muchtar war immer noch keine Spur zu sehen, aber der war ihr jetzt egal. Wegen diesem dummen Hund hatte sie sich verletzt. Sie ergriff die Eimer und humpelte in Richtung Haus. Es waren bestimmt dreihundert Meter und die Eimer waren schwer. Sie legte alle ein paar Meter eine Pause ein und da sie humpelte, musste sie noch langsamer gehen, damit das Wasser in den Eimern nicht so plätscherte. Als sie das Wasser im Abstellraum endlich abstellte, war ihre Laune nicht mehr so blendend, wie nach dem Aufwachen. Die anderen Eimer konnte Nasar ruhig selber füllen. Sie würde heute nicht mehr zum Fluss gehen!
Am späten Nachmittag war Aigul mit dem Aufräumen fertig. Der gewebte Bettvorleger aus Nasars Schlafzimmer und der Teppich aus dem Wohnzimmer waren gründlich ausgeklopft. Die hatten es auch schon bitter nötig. Der Staub war überall gewischt, der Boden geschrubbt und die Fenster wieder blitzeblank. Zufrieden sah sich Aigul im Haus um. So fand sie es schon viel angenehmer.
Muchtar war irgendwann im Laufe des Tages wieder aufgetaucht. Als Aigul mit ihm geschimpft hatte, hatte er sie nur verständnislos angeguckt und mit dem Schwanz gewedelt. Jetzt, als Aigul aus dem Haus kam, lief er ihr freudig entgegen.
„Brauchst dich gar nicht so zu freuen”, meinte sie schmollend. „Heute werde ich nicht mit dir spielen. Ich bin verletzt und das nur wegen dir! Aber ich bin gütig, deshalb darfst du trotzdem mit mir mitkommen.”
Sie ging in Richtung Wiese und Muchtar trottete brav hinter ihr her. Sie wollte einen Blumenstrauß für den Wohnzimmertisch pflücken. Im Abstellraum hatte sie eine hübsche Blumenvase aus Ton entdeckt.
Die Wiese war voller bunter Wildblumen und da sie sich nicht entscheiden konnte, von welcher Sorte sie pflücken sollte, pflückte sie von jeder Sorte eine Blume. Am Ende hatte sie einen Riesenstrauß in verschiedenen Farbtönen. Der Strauß sah prächtig aus und passte sehr gut ins Wohnzimmer.
Da sie mittlerweile einen Riesenhunger hatte und keine Lust mehr auf Brot hatte, beschloss sie zum Abendessen Lagman (Nudeln mit einer dicken leicht scharfen Sauce mit geraspeltem Gemüse und dünnen Fleischstreifen) zu kochen. Sie fand die notwendigen Zutaten und legte los. Falls Nasar Hunger haben sollte, wenn er nach Hause kam, würde sie ihm ein leckeres Abendessen servieren können. Sie fand zwar nicht, dass er das irgendwie verdient hätte, aber auf der anderen Seite kochte sie für ihr Leben gern und nur für sich selbst zu kochen, machte einfach nicht so viel Spaß.
*
Es war fast Mitternacht, als Aigul das Buch weglegte und das Licht ausmachte. Muchtar schlief bereits seelenruhig auf dem Teppich. Nasar war nicht zurückgekehrt. Wo mochte er wohl sein und warum blieb er solange weg? Hätte er ihr nicht wenigstens sagen können, wo er hingefahren war? War etwas passiert, dass er so plötzlich wegfahren musste? Ihren Gedanken nachhängend, merkte sie nicht, wie sie einschlief.
Es war dunkel und kalt. Sie lief durch einen dichten, finsteren Wald. Die Äste schlugen ihr ins Gesicht und die schreckliche Müdigkeit drohte ihre Glieder zu lähmen, doch sie lief weiter und weiter. Sie stolperte, fiel hin, erhob sich und setzte ihren Weg fort. Eine unergründliche Angst schnürte ihr die Kehle zu und nahm ihr die Luft. Heiser rief sie Nasars Namen, denn sie hatte das Gefühl, dass nur er sie aus diesem schrecklichen Wald erretten konnte. Sie war verzweifelt und am Ende ihrer Kräfte. Mit letzter Kraft rief sie so laut, wie sie nur konnte seinen Namen.
Schweißgebadet wachte sie von ihrer eigenen Stimme auf und richtete sich auf. Draußen dämmerte es bereits. Muchtar war aufgesprungen und sah sie fragend an. Erleichtert fiel sie zurück in die Kissen. Es war nur ein Alptraum gewesen! Sie schloss ihre Augen und versuchte wieder einzuschlafen, doch das gelang ihr nicht mehr. Seufzend stand sie auf.
„Guten Morgen, Muchtar! Hast du wenigstens gut geschlafen?”
Sie kraulte ihn hinterm Ohr und streichelte dann über sein Fell.
„Schade, dass du nicht reden kannst. Noch ein Tag ohne Menschen und ich drehe hier noch durch.”
Sie war hier regelrecht gefangen, denn sie hatte nicht einmal Geld für den Bus, um zu ihren Großeltern zu fahren.
Der Tag schien endlos lang zu sein. Um sich irgendwie zu beschäftigen, pflückte sie die reifen Aprikosen vom Baum ab, entsteinte sie und breitete diese auf einem Tuch zum Trocknen aus. Es wäre viel zu schade gewesen, die schönen Früchte verderben zu lassen. Sie mochte gedörrtes Obst gern zum Tee.
Am Abend machte sie sich jede Menge Wasser für ein Bad warm. Morgen würde sie wieder zum Fluss gehen müssen, um Wasser zu holen, aber sie wollte deswegen nicht auf ein schönes Bad verzichten.
Sie war gerade mit dem Ausspülen der Haare fertig, als sie die Eingangstür ins Schloss fallen hörte und im Wohnzimmer Schritte vernahm. Sie blickte auf den Riegel der Küchentür. Zu ihrem Entsetzten war er nicht vorgeschoben.
„Komm bitte nicht rein!”, schrie sie. „Ich ...”
Die Küchentür flog auf und Nasar stand im Zimmer. Sein Gesicht sah abgespannt und müde aus. Doch als er Aigul erblickte, hellte sich seine Miene zusehends auf und ein breites Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Aigul schnappte nach Luft und bedeckte eilig mit den Händen ihre Brüste.
„Oh, du badest?”, fragte er mit einer Unschuldsmiene.
„Scher dich sofort hier raus und mach die Tür hinter dir zu!”
„Ich habe aber Hunger!”
Sein Blick verharrte auf den Wölbungen unter ihren Händen.
Aigul packte aufgebracht den Wasserkrug und warf diesen nach ihm. Er fing diesen mit Leichtigkeit auf, ohne dabei seinen Blick von ihrer Brust abzuwenden, die jetzt unbedeckt war.
„Du schamloser Kerl!”, schrie sie entrüstet, packte die Schale mit der Seife und schleuderte diese ebenfalls nach ihm.
Nasar duckte sich und die Schale verfehlte nur knapp seinen Kopf, knallte hinter ihm auf den Boden und zerbrach in mehrere Stücke.
„Vielleicht bin ich doch nicht so hungrig, dass ich dafür mein Leben riskiere”, meinte er belustigt. Er sah auf den Krug in seiner Hand und blickte sie dann fragend an: „Brauchst du den noch?”
„Nein!”
Er zuckte mit den Achseln, ging aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu.
*
Als Aigul fertig aus der Küche kam, saß Nasar lässig auf dem Diwan. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und die oberen Knöpfe seines Hemdes standen offen, so dass ein Teil seines Oberkörpers zu sehen war.
Er registrierte ihren Blick und sie schaute hastig weg. Ihre Wangen hauchten sich rosa an und sie ärgerte sich darüber. Dieser unverschämte Kerl wurde nicht mal rot, wenn er auf ihren nackten Körper starrte und sie errötete, wenn sie nur ein paar Zentimeter von seiner Haut sah.
Nasar stand auf und räusperte sich.
„Ich ... ehm ... entschuldige bitte mein Benehmen. Ich habe mich etwas taktlos verhalten.”
In seinem Gesicht war jedoch keine Reue zu sehen. Im Gegenteil. Seine Augen musterten sie so, als hätte sie keinen Morgenmantel an, sondern stünde immer noch splitternackt vor ihm, was ihr noch mehr Röte ins Gesicht trieb.
„Hör sofort damit auf!”
Sie funkelte ihn böse an.
„Womit denn?”, fragte er unschuldig.
„Hör auf mich anzustarren, als hätte ich nichts an!”
Er trat einen Schritt zurück und begutachtete sie demonstrativ von Kopf bis Fuß. Sein Blick blieb auf ihrem Gesicht stehen und seine Augen verengten sich.
„Warum sollte ich? Ich bin dein Mann und habe schließlich ein Recht dazu.”
Seine Stimme klang gefährlich. Er machte einen Schritt auf sie zu und sie wich aus.
„Wage es ja nicht mich anzufassen!”, schrie sie fast hysterisch.
Er hob die Augen zur Decke und seufzte.
„Allmächtiger, begrüßt denn eine Frau so ihren Mann?!”
Er drehte sich um und ging in die Küche.
„Gibt es den wenigstens was zu essen?”, rief er aus der Küche. „Ich habe einen Bärenhunger!”
Aigul beruhigte sich etwas, aber ihre Knie zitterten immer noch leicht. Sie wusste nicht warum sie sich so aufgeregt hatte, aber da war etwas in seinem Blick und seiner Stimme gewesen, dass ihr Angst eingejagt hatte.
„Im Kühlschrank steht noch Lagman von gestern. Musst du dir allerdings selber warm machen!”
Ihre Stimme hatte unfreundlicher als beabsichtigt geklungen und sie biss sich auf die Lippen. Energisch schritt sie zum Schalter und knipste das Licht im Wohnzimmer aus. Warum konnte sie nicht sie selbst sein, wenn dieser Mann in ihrer Nähe war? Sie seufzte schwer und legte sich auf den unbequemen Diwan hin.
Nasar brauchte noch eine Weile in der Küche. Sie hörte Geschirrgeklapper, er erledigte anscheinend den Abwasch. Dann wusch er sich am Waschtisch und putzte sich die Zähne. Das Licht ging in der Küche endlich aus. Aigul schloss hastig die Augen und tat, als würde sie schlafen. Als dann das Licht im Schlafzimmer ebenfalls ausging, atmete sie erleichtert auf.
*
Die Sonne erhellte das Wohnzimmer, als Aigul am nächsten Tag aufwachte. Im Haus war es ganz still. Sie schlüpfte aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zum Schlafzimmer, blieb an der Tür stehen und spähte vorsichtig in das Zimmer. Nasars Bett war leer und bereits ordentlich gemacht. Sie ging zum Wohnzimmerfenster und blickte in den Hof. Der Wagen stand da, also war er irgendwo draußen.
Sie machte ihren Koffer auf und überlegte was sie anziehen sollte. Sie wählte den blauen Baumwollrock, der ihr nicht ganz bis zum Knie reichte. Zwar würde der Rock ihr abgeschürftes Knie freigeben, aber sie hatte Lust diesen Rock heute zu tragen. Dazu nahm sie eine kurzärmelige, weiße Satinbluse mit einer Vergissmeinnicht-Stickerei heraus.
Eilig ging sie in die Küche, machte die Tür hinter sich zu, schlüpfte rasch aus ihrem Nachthemd und zog sich an. Zufrieden betrachtete sie sich im Spiegel. Die eng anliegende Bluse brachte ihre schmale Taille und ihren runden Busen perfekt zur Geltung. Ihre langen Haare kämmte sie kräftig durch und flocht diese zu einem dicken, festen Zopf.
Im Hof und im Garten konnte sie Nasar auch nicht entdecken. Von Muchtar war ebenfalls keine Spur zu sehen. Sie wollte schon wieder ins Haus gehen, als sie Hundegebell vernahm. Es schien aus der Richtung des Flusses zu kommen. Jetzt hörte sie es wieder und es kam eindeutig vom Fluss. Also drehte sie sich um und schlug den Weg zum Fluss ein. Doch kaum dass sie die Straße passierte und das Wasser des Flusses sichtbar wurde, stockte ihr der Atem und sie versteckte sich rasch hinter den Büschen. Nasar stand splitternackt am Uferrand, mit dem Rücken zu ihr. Er hob gerade den Arm und warf einen Stock ins Wasser. Muchtar bellte, warf sich in den Fluss und schwamm hinter dem Stock her.
Aigul hielt die Hand vor dem Mund und hörte ihr Herz laut pochen. Eigentlich sollte sie sich sofort umdrehen und von hier verschwinden, doch sie stand wie elektrisiert da und starrte. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen nackten Mann gesehen. Und der Anblick von Nasars Körper war nicht zu verachten. Seine breiten Schultern und der kräftige Rücken bildeten einen Kontrast zu seinen schmalen Hüften. Seine nasse, dunkle Haut schimmerte bronzefarben in der Sonne. Das fesselnde Spiel seiner Muskeln, wenn er sich bewegte, ließ Aigul länger an ihrem Platz verweilen, als sie es wirklich sollte. Doch als Nasar im Begriff war sich umzudrehen, da seine Sachen hinter ihm lagen, drehte Aigul sich hastig um und floh zum Haus. Wenn sie ihn auch noch von vorne gesehen hätte, wäre sie bestimmt ohnmächtig geworden.
Atemlos lief sie ins Haus, eilte in die Küche und stellte den Teekessel auf den Herd. Holte die restlichen Vorräte an Essen, die sie noch hatten, aus dem Schrank und stellte alles eilig auf den Tisch. An die Wand gelehnt versuchte sie wieder zu Atem zu kommen. Im Geiste betete sie, Nasar möge sie am Fluss nicht gesehen haben.
Einige Minuten später hörte sie ihn hereinkommen. Er ging direkt in die Küche. Aigul brühte gerade den Tee auf.
„Ach, du bist schon wach?”
Seine Stimme klang überrascht, also hatte er sie nicht gesehen. Dem Vater im Himmel sei Dank!
„Ich schlafe nicht immer bis Mittag, falls du darauf anspielen willst.”
Nasar zuckte mit den Achseln und schritt zum Kühlschrank, griff nach einer halbvollen Wasserflasche und trank daraus. Seine Haare waren nass und das Wasser tropfte auf sein sowieso schon nasses Hemd, das ihm auf der Haut klebte. Das Hemd stand vorne offen und Aigul sah eine dicke Narbe, die von seinen Rippen bis zum Bauchnabel verlief und in der feinen Haarspur endete, die in seinem Hosenbund verschwand. Hastig drehte sich Aigul weg und schaute zum Fenster.
Nasar setzte die Flasche ab, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und musterte Aigul von Kopf bis Fuß.
„Sehr hübsch. Die Bluse steht dir.”
Er wanderte mit den Augen von ihrer Taille zu ihrem Busen und verweilte dort. Aigul hätte sich für sein Kompliment bedankt, doch sein Blick, der sie auszuziehen schien, ließ sie wieder erröten und das ärgerte sie über alle Maßen.
„Warst du schwimmen?”, fragte sie, um von ihrer Verlegenheit abzulenken.
„Mhm”, gab er nur zur Antwort.
„Ist es nicht ein bisschen kalt dafür, so früh am Morgen?”
Endlich wandte er den Blick von ihrem Busen ab und blickte ihr ins Gesicht.
„Bin es gewohnt”, entgegnete er schulterzuckend, stellte die Wasserflasche wieder auf den Kühlschrank, nahm sich ein Handtuch aus dem Regal über dem Waschtisch und rieb sich damit die Haare trocken.
„Ist das alles, was wir noch zu essen haben?”, fragte er und deutete mit einem Kopfnicken auf den Tisch.
„Ja, so ziemlich.”
„Heute ist Basar in der Stadt, da können wir nach dem Frühstück einkaufen.“
Er warf das Handtuch ins Waschbecken und schritt aus der Küche.
„Zieh mich nur rasch um und bin gleich wieder da”, warf er über die Schulter.