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VORWORT

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Nachdem Faust sich mit mehreren Disziplinen auseinandergesetzt hatte und feststellen musste, dass er noch immer ein „armer Tor“ war, der „so klug als wie zuvor“ dastand, ließ er seine Gedanken schweifen. Vergeblich war seine Mühe, sich das Wissen der Welt anzueignen, weil er es trotz allem nicht geschafft hatte zu erkennen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Fausts Grübeleien sind verständlich – auch wir setzen uns hin und wieder mit der Frage auseinander, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Man kann nur vermuten, dass der exzellente Schöpfer des Grüblers beim Verfassen seiner Tragödie die Antwort auf diese Frage längst ausgelotet hatte und überzeugt war, dass einzig die Liebe die Welt zusammenhalten kann. Sein Faust war auf der Bühne des Weltgeschehens nur die tragische Figur, die diese Erkenntnis aussprechen sollte, um die Welt und sich selbst nochmals zu überzeugen, dass dem so sei.

Auch die Schriftstellerin Nelli Kossko betont in ihren Werken die existenzielle Rolle der Liebe und stellt sie in den Mittelpunkt des Universums ihrer Helden. Das Leben ihrer Protagonisten besteht aus bunten und nicht unbedingt geraden Linien, die sich bis zum hohen Norden der ehemaligen Sowjetunion, in das vereiste und karge Kolymagebiet, rot verfärben. Rot wie das Blut in den Adern, das vor Kälte und Angst stockt, rot wie der vage Sonnenaufgang, dessen leuchtende Strahlen ein heftiges Unwetter verbergen, aber bevor dies geschieht, die Natur für einen Augenblick mit kosender Wärme überschütten. Rot wie die Wahnvorstellungen, die einen erschöpften, hungrigen und durch starkes Fieber entkräfteten Menschen überwältigen und ihm die Luft zum Atmen nehmen. Aber es gibt auch die grünen Linien, in deren Schicksalskurven die jubelnden Klänge der Hoffnungsmusik einen neuen Anfang evozieren. So empfindet Emma in der Trilogie „In den Fängen der Zeit“ ihr Leben. Als Kind wurde sie aus der gewohnten Umgebung gerissen, um sich in einer unfreundlichen fremden Welt wiederzufinden und den Kelch der Folgen der Vernichtungskampagne bis zur Neige zu leeren. Und dies nur aus einem einzigen Grund: weil sie als Deutsche geboren wurde und weil ihre Eltern Deutsche waren, die für die bösartigen Taten der machthabenden „Führer“ büßen mussten. Hart fiel diese Buße aus, an manchen Tagen war sie gar unerträglich, aber Emma hatte Glück im Unglück, sie blieb seelisch und körperlich heil und durfte in das bunte Gemisch der aufkeimenden Hoffnungen zurückzukehren. Nach langem Umherirren fand sie endlich den Weg in die heißersehnte Heimat, wo ihr alles lieb und vertraut war. Aber das Gefühl, angekommen und aufgehoben zu sein, sowie die Erkenntnis dessen, was sie all die Jahre am Leben gehalten und ihr die gedeihliche Kraft verliehen hatte, eröffnete sich ihr erst am „Endpunkt ihrer Irrungen“: „Da reise ich durch die halbe Welt, jage einer Fata Morgana nach, suche meine Heimat! Dabei habe ich vor lauter Bäumen den Wald nicht gesehen, habe das Wichtigste, was greifbar nahe liegt, übersehen: Da, hier, meine Lieben, ist es, mein Land, meine Heimat, meine Welt!“ Mit diesem Schlusssatz bekräftigt die Autorin den Gedanken des großen Dichters über den Zusammenhalt des „Innersten der Welt“ und legt der Heldin ihres Romans schlichte und so verständliche Worte in den Mund: „Hier, meine Lieben, ist es …“

Was manch einer als „faustbezogene“ Rhetorik bezeichnen würde, basiert bei Nelli Kossko auf der grundlegenden Realität ihrer eigenen zweifelsohne nicht immer rosafarbenen Schicksalslinien. Die Themen ihrer Romane entstammen nicht Grenzen überschreitender Fantasie, sie sind „der Familienchronik entnommen und stellenweise stark autobiografisch geprägt“, betont die Schriftstellerin. Geboren in einer russlanddeutschen Familie im Schwarzmeergebiet, „genoss“ sie selbst von klein auf das schreckliche Desaster, das diese ethnische Gruppe jahrzehntelang mit sich herumtragen musste: die Aussiedlung, Verschleppung, ein Leben in Gewahrsam und unter Kommandanturaufsicht, die Rückkehr in die alte Heimat Deutschland und die Integration. Weil sie ihre Vergangenheit, die sie immer wieder einholt, nicht verdrängen kann, teilt die Autorin sie mit ihrem Leser und erzählt ihm, wie ihre Verwandten diese grausamen Zeiten überlebten, wie es ihnen in der eisigen nördlichen Wüste erging und wie sie es schafften, einen neuen Weg einzuschlagen, der sie in die Freiheit führen sollte. Sie spricht von denen, für die die Verbannung zur „ewigen Ruhe“ bestimmt war und von denen, die sich aus diesem höllischen Kessel befreien konnten.

Der vorliegende Roman „Du, mein geliebter Russe!“ ist auch ein Abschnitt ihrer Familienchronik, in dem Nelli Kossko das herzbewegende Schicksal eines Liebespaares schildert. Die Ereignisse dieser deutsch-deutschen Liebesgeschichte spielen sich in Deutschland und im hohen Norden der ehemaligen Sowjetunion ab. Der russlanddeutsche Junge Arthur Gerber und das reichsdeutsche Mädchen Liesel Möller begegnen einander kurz vor dem Kriegsende in der Erwartung, sich niemals zu trennen und ein schönes Leben aufzubauen. Ein Leben in großer Zuversicht und unendlicher Gewissheit, dass die Liebe ihre kleine Welt für ewig zusammenhalten wird. In 17 kurzen Kapiteln beschreibt die Schriftstellerin die Geschehnisse des Jahres 1945 und verfolgt abwechselnd den Lebensweg ihrer Helden: den von Arthur, der zunächst in Magadan, der „Hauptstadt des Planeten der Gefangenen“ landete, und den von Liesel in Deutschland. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie sich wiedersehen, und ihr Treffen ist alles andere als das Happy End, von dem sie beide schwärmten. Das Glück, zusammen in Liebe zu altern, war ihnen nicht beschieden: Arthur, der als Russlanddeutscher zum Volksdeutschen wurde und doch „nicht arisch genug war“, wurde einer „Umerziehung“ unterzogen und ist zum Opfer zweier Diktaturen geworden. Die Gestapo und ihr sowjetisches Ebenbild, der NKWD, ließen ihn lange nicht aus den Augen. Auch Liesel traf es schlimm, aber sie gab nicht auf, weil sie nicht aufhören konnte, auf ihren „geliebten Russen, den Gutsten“ zu warten. Um ihre Sehnsucht nach dem Unerfüllten zu stillen, schreibt sie ihrem „geliebten Russen“ Briefe, in denen sie ihre Liebe ausschüttet, doch sie sollten den Empfänger erst ein halbes Jahrhundert später erreichen … Auch in diesem Werk bleibt die Autorin ihrem Thema treu, sie kann die Vergangenheit nicht der Vergangenheit überlassen und einen dicken Strich darunter ziehen, denn das „verpfuschte Leben“ von Millionen Opfern, die diese grausame Zeit in alle Winde verweht hat, kann sie nicht einfach abschütteln. Ihr Leben wurde auch von Ängsten und dem „reichhaltigen Instrumentarium der Inquisitoren“ geprägt. Verbote, Kündigungen und Missachtung sind keine leeren Begriffe – sie zeichneten sich als rote und grüne Linien auch in ihren Adern ab und hinterließen eine lange Schleife von Trauer und Schmerz. Davon hat sie eine raue Menge gesammelt. Aber auch Freude und Glück haben sich in ihrem Leben wie Sand am Meer angehäuft, und dessen sonnenüberströmten Körnchen ist sie gern bereit, ihren Mitmenschen zu schenken, denn sie glaubt fest daran, dass es nichts Wertvolleres auf der Erde gibt als die Liebe, die Menschen aufs „Innerste zusammenhält“.

Rose Steinmark

Münster

Du, mein geliebter

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