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Am Rand der Welt Auf Spitzbergen leben mehr Bären als Menschen
ОглавлениеVon Burkhard Ewert
Nirgendwo lässt es sich so leicht in hochpolare Breiten gelangen wie auf Spitzbergen. Norwegen will, dass sich auf der Inselgruppe erstmals eine reguläre Siedlung entwickelt, fördert den Tourismus und die Forschung.
Spitzbergen führt die Menschen seit je her an ihre Grenzen. Da war Willem Barents, der die entlegene Inselgruppe Ende des 16. Jahrhunderts auf der Suche nach einer schiffbaren Asien-Passage entdeckte. Einen Winter lang überlebte er im Eis; kurz vor der Rettung starb er. Da war Fridtjof Nansen, dessen Weg hier endete, nachdem er sich mit seiner Fram im östlichen Polarmeer vergeblich hatte einfrieren lassen, um per Drift den Nordpol zu erreichen. Da war Eis-Legende Roald Amundsen, die von hier aus zum Pol startete und später auf dem Weg zur Insel spurlos verschwand. Und da war die Deutsche Arktische Expedition von 1912, die über Spitzbergen nicht hinauskam und in seinen Fjorden in einem tödlichen Desaster endete.
Der Lockruf des Nordens wirkt bis heute. Zuletzt machte etwa der britische Prinz Harry auf Spitzbergen Station, als er einen Marsch versehrter Veteranen zum Pol begleitete. In der Zeit dazwischen landeten Walfänger an, zerlegten die Tiere, kochten Tran. Trapper durchstreiften das Land, jagten Robben, erbeuteten Felle. Später bauten Russen, Norweger und Schweden die Kohlevorkommen der Insel ab.
Neben Entdeckern und Glücksrittern kommen und gehen auf Spitzbergen die Eisbären. Sie sind zahlreicher als die Einwohner: 3500 Bären soll es geben und nur 2500 Menschen. Exakt weiß man weder das eine noch das andere, denn wie die Bären zeichnen sich die Bewohner dadurch aus, dass sie Vagabunden sind. Einheimische gibt es nicht, keiner wird hier geboren, kaum jemand verbringt seinen Ruhestand auf dieser Inselgruppe, die sich im Norwegischen Svalbard nennt. Aber kalt, karg und krass: Was die meisten Touristen Reißaus nehmen lässt, zieht auf der anderen Seite eine seltsame Mischung von Menschen an. Nirgends lässt es sich so bequem in hochpolaren Breiten reisen. Der Nordpol ist nur gut 1000 Kilometer entfernt.
Vor allem, wer im Winter kommt, liebt den Norden wirklich. Ein Vierteljahr lang geht die Sonne rund um die Uhr nicht auf – Polarnacht. Wochenlang erhellt nicht mal gegen Mittag ein matter Schimmer den Horizont. Sofern der Flug nicht abgesagt wird, sitzt dann vielleicht ein knappes Dutzend Touristen im einzigen SAS-Jet des Tages. Viele davon sind junge Leute aus Nord- und Mitteleuropa, die länger bleiben wollen als gewöhnliche Urlauber. In einer der zahlreichen Bars des 2000 Einwohner zählenden Hauptortes Longyearbyen arbeiten sie dann oder bei Anbietern wie Spitsbergen Travel und Basecamp, die Touristentouren ins Hinterland oder auch professionelle Expeditionen ins Eis organisieren.
Da ist die Kellnerin Sara zum Beispiel, die aus Åmål im Südwesten Schwedens stammt. Und Timo aus Karlsruhe, Hundeschlittenführer, der weiter nach Grönland will, weil ihm Spitzbergen zu voll ist. Oder Noel, ebenfalls Schwede, der drei Gastro-Jobs zugleich hat und fast rund um die Uhr im Einsatz ist. Alle drei sind Mitte 20, alle werden noch ein paar Monate bleiben, vielleicht auch ein Jahr. Denn Geld und Stellen gibt es reichlich, Flair und Abenteuer auch. Hinzu kommt das Gefühl, wegen der speziellen Örtlichkeit Teil einer exklusiven Schar zu sein, des Backpacker-Jetsets, sozusagen. Anschluss ist jedenfalls schnell gefunden: Bei jedem Schritt vor die Tür treffen sich Gleichgesinnte, und dass auf der Insel so gut wie keine Steuern erhoben werden, macht das Geldverdienen so angenehm, wie es gemeinsam auszugeben.
Die Inselgruppe wird von Norwegen aus verwaltet, hat aber einen völkerrechtlichen Sonderstatus, den der knapp hundert Jahre alte Spitzbergen-Vertrag regelt. Anders als auf dem Festland ist es spielend einfach, dort zu leben und zu arbeiten, denn der Vertrag gewährt Oslo gewisse Rechte – nicht aber jenes, hier zu regieren. In Longyearbyen wohnen daher Menschen aus gegenwärtig 42 Ländern. Die Norweger stellen nur gut die Hälfte von ihnen. Schweden, Thailänder und Deutsche folgen; in einer weiteren Siedlung auf der Insel (Barentsburg) leben einige Hundert Russen, hinzu kommen einige internationale Forschungsstationen sowie eine Handvoll noch bewohnter Trapperhütten.
Während die Russen ihre Präsenz drastisch zurückfahren, baut Norwegen sie tendenziell aus. Oslo fördert die Inseln beträchtlich, schon um klarzumachen, dass das Land die Bodenschätze unter dem umliegenden Meeresgrund für sich beansprucht. Die staatliche Kohlemine in Svea wird betrieben, obgleich die Förderung sich nicht lohnt. Familien sollen sich ansiedeln, die Schule wird landesweit wegen ihrer Qualität gerühmt, drei Kindergärten sind in Longyearbyen in den vergangenen Jahren entstanden, drei neue Hotels sollen im Jahr 2015 gebaut und zwei bestehende umfassend renoviert werden. Denn wenn die Kohle geht, sollen die Menschen bleiben: Polar- und Klimaforschung ist das eine Standbein, auf das die norwegische Regierung setzt. In der Ortschaft Ny-Ålesund entstand ein Wetterzentrum, in Longyaerbyen finden sich ein renommierter Arktis-Studiengang, ein liebevolles Spitsbergen-Museum und im dauerhaft gefrorenen Boden ein unterirdisches Sammellager für Pflanzensamen aus aller Welt.
Der Tourismus ist der andere Pfeiler, auf dem die Hoffnungen ruhen. Der Abenteuerfaktor der Entdeckerzeit ist dabei in Teilen erhalten geblieben. Ein wenig Überwindung braucht jedenfalls, wer sich auf kulinarische Erkundungen in Longyearbyen einlässt: Im Nansen-Restaurant des Radisson-Blue-Polar-Hotels kommen schon einmal Wal und Robbe auf den Teller. Wohlschmeckender sind die Alternativen: Im „Funktionærmessen“, ehemals Club und Unterkunft des Kohlengruben-Managements, ist für das siebengängige Menü mit Ente gedeckt, das einer Champagner-Probe im nördlichsten Weinkeller der Welt folgt.
Und das Team des hippen „Huset“ als dem vornehmsten Restaurant des Ortes punktet mit gebackener Makrele an grünem Kaviar oder kurz gebratenem Rentierfilet, jeweils mit erlesenen Weinen dazu, die nördlich des 78. Breitengrades keineswegs zu erwarten wären. Einfacheres Essen – zum Beispiel das Svalbard-Rentier im Eintopf – gibt es im Bistro des „Huset“ oder im Camp Barentz, einem originalgetreuen Nachbau der Hütte aus Schiffsplanken, in der der niederländische Seefahrer mit seiner Mannschaft den Winter überstand.
Wer handfestere Erlebnisse mag, kommt freilich auch auf seine Kosten. Hundeschlittentouren unterscheiden sich auf Spitzbergen von vergleichbaren Angeboten in Mitteleuropa schon allein dadurch, dass die Gespanne nicht auf Schwerlast, sondern Sportlichkeit ausgelegt und nicht fix und fertig sind, wenn der Gast kommt. Das An- und Abschirren und Versorgen der Hunde gehört dazu – durchaus mit Herzklopfen, sind die muskelbepackten Tiere doch nicht gerade sanfte Schoßhündchen. Auch die anschließende Fahrt durch Schnee, Eis und Fels hat mit glöckchenklingender Schlittenromantik à la Aschenbrödel nur wenig zu tun. Während in Harz oder Alpen jeder Loipenmeter beleuchtet ist, scheinen in den Tälern Spitzbergens nur Mond und Sterne und werden dabei zuweilen vom Nordlicht flankiert – und durch das Scheinwerferlicht, wenn der Guide Ausschau nach Eisbären hält.
Auch motorisierte Schneescooter-Touren führen durch die polare Einöde. Die Ziele können Täler mit Tiefschnee, schillernde Eishöhlen oder turmhohe Gletscherwände sein. Und wer die Stadt für ein kleines Abenteuer nicht verlassen will, kann ein Diplom als „Arctic Hero“ erwerben, indem er in Badehose bei null Grad ins Wasser springt, das hier passenderweise den Namen Isfjord trägt.
Ob der Plan aufgeht, das arktische Archipel nach den Stippvisiten von Seeleuten und Jägern, Fallenstellern und Abenteurern dauerhaft mit einer normalen Sozialstruktur auf Basis von Forschung und Tourismus zu besiedeln? Wer sich in Longyearbyen umhört, stößt auf Zweifel. Früher wohnten ausschließlich Männer hier, aber noch immer dominieren sie den Geschlechtermix deutlich. Auch hat sich bislang nichts daran geändert, dass die Bewohner im Schnitt nur für fünf Jahre bleiben und viele davon die dunklen Winter in ihrer Heimat verbringen, bevor sie zu den Hochsaisonphasen wiederkommen.
Erst diesen Herbst wurden zudem 100 Kohle-Arbeiter entlassen – viele wohnen mit ihren Familien vor Ort. Ziehen sie fort, ist es ein harter Schlag für alle, die auf den fortschreitenden Wandel zu einem gewöhnlichen Städtchen gehofft hatten, auch wenn die Kindergärtnerin beim Ausflug mit den Kleinen wegen der Eisbären das Gewehr zu schultern pflegt.
Das Tourismusgeschäft ist ebenfalls unsicher. An einigen wenigen Tagen im Sommer strömen zwar scharenweise Kreuzfahrtgäste durch den Ort. Aber im langen und dunklen Winter beherrscht die Einsamkeit nicht nur die vereisten Plateaus der umliegenden Berge, sondern auch die Straßen in Longyearbyen mit ihren Hotels und Geschäften, Restaurants und Bars. Bedauerlich finden die Bewohner dies freilich nicht alle. Echte Entdecker wollen schließlich genau dahin, wo kaum jemand ist. Eine touristische Erfolgsgeschichte würde da nur stören.
In der Polarnacht erhellen nur Mond, Sterne und Nordlicht die arktische Szenerie – wenn der Besucher Glück hat. Ansonsten ist es zappenduster. (Hilde Fålun Strøm)
Robbe, Rentier, Wal: Ein arktisches Dinner, das nicht jedem schmeckt. Aber unter dem Strich sind die Gerichte auf Spitzbergen von unerwarteter Qualität. (Burkhard Ewert)
Wie eine Raumstation: Geschlossene Kohlemine über Longyearbyen. (Burkhard Ewert)
Der Eingang zum globalen Pflanzensamenlager. (Burkhard Ewert)
Eisbär-Warnung für das ganze Archipel. Dort leben mehr Bären als Menschen. (Burkhard Ewert)