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wird es eine groschenromanze
mein tagebuch
liest sich als wenn der autor 17 wär
Leben Ist Trivial / Erdmöbel
Jörn Schmitt schüttelte sich mit einem geübten Schwung die langen, hellblonden Ponyfransen aus der Stirn und betrachtete sich im Spiegel. „Du bist schon echt eine geile Sau, mein Freund“, konnte er nicht umhin, festzustellen. Fast schon 40 Jahre alt, aber immer noch Haare wie ein Teenager, voll und glatt und glänzend, wie es sich manch einer seiner weiblichen Fans gewünscht hätte. Allerdings tat er auch einiges für die blonde Pracht, eine wöchentliche Haarkur war das Mindeste, und für die regelmäßigen Besuche bei seiner Friseurin gab er auch ein Heidengeld aus. Was ihn nicht schmerzte, denn zusätzlich zu ihren göttlichen Händen, die aus einfachen Haaren immer wieder eine Frisur machten, sah die Frau einfach hammerscharf aus. Jörn hatte nie versucht sie anzubaggern, dann hätte er sich ja irgendwann eine neue Göttin für seine Haare suchen müssen, und das war ihm den Aufwand nicht wert. Aber das Hingucken, wenn sie vor ihm stand und er im Spiegel einen großartigen Blick auf ihren Prachtarsch hatte, das allein war schon das Geld für das Frisieren wert. Ach, und Geld, wen scherte das schon, er konnte es sich leisten.
Und zudem gab ihm das Ergebnis Recht: Auf seinen Autogrammkarten von Radio Null jedenfalls sah er aus wie ein jüngerer und attraktiverer Bruder von Sascha Hehn, als der noch in der Schwarzwaldklinik den jungen Lernschwestern den Kopf verdreht hatte. Heute trug der Hehn ja auch Schnauzbart, Birkenstock-Sandalen und verdiente sich sein Geld als deutsche Stimme des grünen Trickfilm-Ogers Shrek. Jörn schüttelte sich innerlich bei dem Gedanken an Gesundheitslatschen. Es lag für ihn auch weit außerhalb des Vorstellbaren, irgendwann als Großvater mit den Enkelkindern in den Zoo zu gehen, seinen Sportwagen nicht mehr fahren zu können oder auf die schönen Abende mit tollen Frauen zu verzichten. Ohne das Radio wollte er schon gleich gar nicht sein. Natürlich übertrieb er es in manchen Bereichen seines Lebens mit dem Luxus und den ausgelebten Eigenarten. Aber er hatte weder Frau noch Kinder, nur auf seine Oma musste er Rücksicht nehmen, und die liebte ihn, mit all seinen Schrullen.
Obwohl es noch sehr früh am Morgen war, sah auch der Rest seines Kopfes bereits sehr ausgeschlafen aus. Die hellblonden Haare bildeten einen sehenswerten Kontrast zu den dunkelbraunen Augen, die von mädchenhaft langen und dichten Wimpern umrahmt wurden. Seine Haut war dank seines kürzlich angeschafften Gesichtsbräuners jetzt auch ohne Sommersonne und ohne Wochenenden auf Sylt immer leicht getönt, was seine etwas zu groß geratene Nase schmaler wirken ließ. Er strich sich über das Kinn mit dem gepflegten Drei-Tage-Bart, für das er sich auf Empfehlung eines Experten in einem Modeblog extra einen sauteuren, elektrischen Spezialrasierer übers Internet in den USA gekauft hatte. Elektrochemischer 3D-Schliff, festes Messer aus Titanium, bewegliches Messer zusätzlich und selbstölend. Das Ergebnis der Rasur begeisterte ihn jeden Tag aufs Neue. Sein Kinn war ohnehin fast das Beste an seinem Gesicht, ein Hollywoodkinn wie bei den Schauspielern, die als Westernhelden berühmt geworden waren, hatte eine seiner Freundinnen einmal gesagt. Markant und männlich, kantig geradezu. Wer wäre er denn, dem widersprechen zu wollen? Die Haut nahezu faltenfrei. Tränensäcke und dunkle Schatten unter den Augen nach zu wenig Schlaf waren dank der neuen, teuren Augencreme ebenfalls Geschichte. Ja, Jörn spendete auch Geld an den Kinderschutzbund, an foodwatch und UNICEF. Das tat er gern, weil er es sich genau so leisten konnte, wie die teuren Kosmetika, von denen er sich einbildete, dass sie ihm dabei halfen, sich wohler zu fühlen.
Trotz der frühen Stunde (Wecker klingeln um 3:45 Uhr, aufstehen, kurze Hanteltraining-Einheit am offenen Fenster, einige Sit-Ups und Liegestütze, frisch gepresster Saft, Espresso, Duschen, Haus verlassen spätestens um 4:30 Uhr, Sendungsbeginn 5:00 Uhr), war sein Outfit perfekt aufeinander abgestimmt: Er hatte eine hellblaue Krawatte um den Kragen des marineblauen Hemdes gebunden und ein passendes blau gemustertes Einstecktuch in die Brusttasche seines braun karierten Sakkos gesteckt. Gewagt aber nicht geschmacklos. Die Jeans dazu war nach seinem Geschmack fast schon zu leger, saß aber sehr knackig an seinem wohlgeformten Hintern und gerade richtig an den langen Beinen (die für seinen Geschmack etwas kräftiger sein könnten, aber wenn er beim Training nicht nachließ, dann wäre da vielleicht noch etwas herauszuholen). Wenn er auch noch die passende Hose zum Sakko angezogen hätte, würden die Kollegen im Sender vermutlich in Tränen ausbrechen. Die Kaschmir-Wolle-Mischung könnte sich im Laufe des Tages auch als zu warm erweisen, daher hatte er die Jeans gewählt. Es war zwar erst April, aber der wohl wärmste seit Jahren.
Jörn war immer der mit Abstand eleganteste Mann bei Radio Null. Immer. Da musste man den in Sachen Geschmack weniger talentierten Mitmenschen ja nicht noch mit Gewalt vor Augen führen, dass Stil eben einfach angeboren war. Die altlinken Kollegen im Sender, die tagein, tagaus ihre ausgeleierten Kapuzenpullover zu uralten Wrangler- oder Jinglers-Jeans trugen, und meinten, damit eine politische oder gesellschaftliche Haltung zu demonstrieren, hatten sich seiner Meinung nach schon lange unglaubwürdig gemacht. Zum einen dadurch, dass sie eine Festanstellung eingegangen waren und somit selbst ein Teil des Establishments geworden waren, gegen das sie so gern wetterten. Weil sie damit Sicherheit eingetauscht hatten, gegen die Möglichkeit, jederzeit flexibel zu sein und nicht fremdbestimmt jeden Tag zu den gleichen Zeiten, an denselben Schreibtischen zu tapern. Zum anderen durch die Tatsache, dass sie sich zu Runden mit dem Programmdirektor aus dem Einheitsoutfit in schlecht sitzende zweireihige Anzüge quälten, die den Perlongehalt im Raum dermaßen aufluden, dass die Luft förmlich knisterte. Auf die Schuhe warf er bei derartigen Treffen lieber gar keinen Blick mehr.
Jörn war der Meinung, dass man das Haus immer so verlassen sollte, wie man sich auch wünschte, eines Tages in den Sarg gebettet zu werden. Oder, wie seine Oma es gerne ausdrückte: Stell dir mal vor, du hast einen Unfall und ausgerechnet an diesem Tag, hast du einen schmutzigen Schlüpfer an, was macht das denn für einen Eindruck? Und weil Jörn seine Oma liebte, und als Kind viel Zeit mit ihr verbracht hatte, war ihm diese Warnung in Fleisch und Blut übergegangen. Allein die Vorstellung, dass sich eine Gruppe gut aussehender Krankenschwestern über seine Unterwäsche lustig machen könnten, ließ ihn innerlich erschaudern. (Seine Oma war sein wunder Punkt. Was die alte Dame sagte, war Gesetz, ohne wenn und aber. Für seine Oma hätte er seinen Porsche verkauft und sofort geheiratet, wenn sie es verlangen würde. Was sie glücklicherweise nicht tat).
Jörn liebte es im Internet durch Modeblogs zu streifen und sich auf amerikanischen Internetseiten einen Eindruck darüber zu verschaffen, was vielleicht demnächst in Deutschland Trend werden würde. Er las regelmäßig Blogs wie Satorialist, Permanent Style und Therake. Manchmal ließ er sich auch von Fotos der Pitti Uomo, der Mailänder Modemesse für Männer, inspirieren, obwohl die Ideen der italienischen Herren für seinen Geschmack meist etwas zu gewagt waren für den Alltag. Und seine Oma fand Mustermixe ohnehin mehr als gewöhnungsbedürftig.
Seine Anzüge ließ sich Jörn seit einigen Jahren schneidern, was nicht wesentlich mehr kostete, als ein guter Designer-Anzug von der Stange, aber den Vorteil bot, sich bei der Stoffauswahl höchstmögliche Individualität zu sichern. Auf hochwertige Schuhe hatte er schon immer wert gelegt, es gab einen Leisten bei einem Schuhmacher in Budapest und bei einem in Wien. Einen Teil seiner Fußgarderobe hatte er in Amerika, einen anderen in London gekauft. Manch eine Exfreundin hatte mit Tränen in den Augen zur Kenntnis nehmen müssen, dass er mehr Schuhe hatte als sie.
Nun griff er zu seiner, zum Leder des Gürtels und der Schuhe passenden, Tasche eines namhaften Designers (unauffällig aber edel) und warf einen letzten wehmütigen Blick in den Spiegel. Jörn seufzte schwer und bedauerte kurz all die Menschen, die nie im Leben seine Bekanntschaft machen würden. Weder persönlich, noch als Hörer seiner wochentäglichen Radioshow Jörn hörn beim Berliner Sender Radio Null. Aber ein Leben würde nicht ausreichen, um alle Frauen glücklich zu machen, obwohl er immer sein Bestes gab, um möglichst viele Damen und Mädchen zum Lächeln zu bringen. Jeder Tag war ein geretteter Tag, wenn es ihm gelang, einen Menschen glücklicher zu machen. Er war großzügig mit Geschenken und mit seinem Charme. Und er war ja noch jung und hatte Zeit, wenn das Schicksal keine anderen Pläne mit ihm hatte. Momentan hatte er keine feste Freundin. Wenn er nachdachte, dann war das ein Zustand, der bereits eine ganze Weile anhielt. Aber er dachte nicht nach. Nicht über Langzeitbeziehungen. Warum auch? Er müsste nur wollen, dann würde sich dieser Zustand innerhalb von Minuten ändern. Womöglich innerhalb von Sekunden. Er wollte aber nicht. Ihm gefiel sein Leben genau so wie es war. Auch wenn man als Single in seinem Alter eher mitleidige als anerkennende Blicke zugeworfen bekam. Auch als Mann galt es nicht mehr als schick, sondern eher als krankhaft, wenn man sich nicht langfristig binden wollte. Eine Ehefrau, ein Haus am Stadtrand und zwei Kinder – das wurde von der Gesellschaft erwartet. Nicht etwa ein fröhlicher, gut aussehender Junggeselle, der sein Leben einfach nur genießen wollte.
Jörn war ein Profi auf dem Gebiet der Verführung. Er hatte sich in den vergangenen Jahren immer weiter professionalisiert und wusste, wie man die Ladys umgarnen musste. Für jeden Typ Frau hatte er eine passende und erfolgversprechende Taktik entwickelt. Er kannte die Einsamen, denen man Zuversicht und breite Schultern bieten musste. Ihm waren die Intellektuellen begegnet, denen man mit wortgewaltigen Vorträgen über Romane aus den Bestellerlisten Interesse vorgaukeln konnte und ihm waren auch die Schönen, Selbstbewussten ins Netz gegangen, in dem er sie zunächst mit gespielter Verlegenheit lockte und dann mit geschmackvollen Geschenken beeindruckte. Er hatte gelernt, dass alle Frauen unterschiedlich waren und man dementsprechend auch unterschiedliche Wege einschlagen musste, um sie für sich zu gewinnen. Manchmal war es sogar nötig, von einem eingeschlagenen Eroberungsweg mitten auf der Strecke noch einmal links oder rechts abzubiegen, aber bisher hatte ihn letztendlich jeder Weg ans Ziel geführt. Über kurz oder lang. In sein Bett oder in das der jeweiligen Frau. Manchmal auch in ein Hotelbett oder auf die Rückbank eines Autos. Und wenn er die Eroberung dann feiern konnte, war sein Interesse an der jeweiligen Frau auch schon beinahe wieder erloschen. Jörn war ein Jäger, ein Fallensteller, ein Charmeur und ein Schmeichler. Ganz nach Bedarf. Aber er war kein Mann für Pärchenurlaube, Bausparvertrag, Eierkocher und Nachwuchs. Seine Familie war seine Oma.
Es war ihm nie schwer gefallen, Freundinnen zu finden. In der Schule war er der Einzige, der dank seiner Körperpflege ohne Pickel war, das allein war schon ein Bonus bei den Mitschülerinnen. Während der Studienzeit war er durch seinen exklusiven Geschmack aufgefallen und sobald die Mädchen herausgefunden hatten, dass er sich nicht für Männer interessierte, (was einige wegen seiner Kleidung und seines überaus gepflegten Eindrucks vermutet hatten), standen ihm Türen zu unzähligen Schlafzimmern offen. Andere Mädchen hatte er auf Partys, in Discotheken oder Straßencafés kennengelernt. Eine sogar im Wartezimmer seines Zahnarztes. Seine Oma hatte ihn mehrfach ins Gebet genommen, als sie aber feststellte, dass er sehr liebevoll mit den Besucherinnen umging und ihm sehr daran gelegen war, niemanden zu verletzen, hatte sie ihn machen lassen. Einige der damaligen Gefährtinnen hatten noch heute Kontakt zu seiner Großmutter, schrieben Briefe und schickten Fotos ihrer Ehemänner und Kinder.
In den vergangenen Jahren waren Jörn die jungen, hübschen Praktikantinnen im Sender nur so vor die Nase geweht worden. Als DER Moderator des angesagten Programms Radio Null hatten ihn die Mädchen umschwärmt.
Der Sender gehörte nicht zu den Marktführern, hatte sich aber insgeheim einen Status als besonderer Sender erarbeitet und es galt als cool, hier zu arbeiten. Noch cooler war es natürlich, die wichtigste Sendung in diesem Programm zu moderieren.
Jörn legte auf Äußerlichkeiten bei seinen „Kandidatinnen“ zwar wert, hatte sich aber nicht auf einen bestimmten Frauentyp festgelegt. Braune kurze, blonde lange Haare, glatt oder gelockt, schlank oder etwas weniger dünn, mittelgroß oder sehr viel kleiner als er – ganz egal. Jörn wollte gepflegte Frauen, die sich rasierten und gut rochen. Mädchen, die von innen strahlten, weil sie mit sich und der Welt im Reinen waren. Er stand nicht auf Weiber, denen man unter den Achseln Zöpfe flechten konnte. Es ekelte ihn bei dem Gedanken, dass sich die Frauen nur einmal in der Woche die Haare wuschen oder unförmige Baumwollschlüpfer trugen, weil sie so bequem und hautfreundlich waren. Jörn wollte echte Klassefrauen, die sich Mühe gaben für ihn, die sich schminkten ohne angetuscht auszusehen, die gerne Geld ausgaben für schöne und verführerische Wäsche, die wussten, wie man einen Burberrys-Minirock am besten kombinierte und die auf hohen Pumps mit Pfennigabsätzen nicht ins Stolpern gerieten. Er fühlte sich wohl bei Frauen, die sportlich waren ohne abgemagert zu wirken und bei denen, die genießen konnten, ganz egal ob es dabei um Wein, Essen oder Sex ging. Und er wünschte sich Begleiterinnen, die sich als genau das verstanden: Begleiterinnen. Daher machte er immer schon beim Kennenlernen klar, dass die gemeinsame Zeit begrenzt sein würde. Bei denen, die den Eindruck machten, nicht damit klar zu kommen, womöglich ganz und gar ihr Herz an ihn verloren hatten, verabschiedete er sich sehr höflich nach dem ersten Date, schrieb manchmal noch einen zärtlichen Abschiedsbrief und ging dann wieder seiner Wege.
Das Motto seines Freundes Bernd „kein Sex innerhalb einer Kostenstelle“ hatte er noch nicht so sehr verinnerlicht, dass er auf Beziehungen mit Kolleginnen tatsächlich ganz und gar verzichten wollte, es war so herrlich bequem. Er musste aber zugeben, dass die Bequemlichkeit zulasten der Unbeschwertheit ging. Diese Erkenntnis hatte ihm eine Redakteurin eingebracht, die nicht mehr mit ihm redete, seit sie ihn auf der Sendertoilette knutschend mit einer Praktikantin erwischt hatte – kurz nachdem er ihr Bett am Morgen verlassen hatte. Dämlich auch, auf der Damentoilette eine Nummer schieben zu wollen, während die aktuelle Freundin gerade Dienst hat. Dämlich auch, nicht zu bemerken, wie wichtig er der Frau geworden war. Keine Rede mehr von „wir haben eine offene Beziehung, die uns beiden Spaß macht“. Jörn hätte sich heute noch dafür in den Hintern beißen können. Beide Damen waren inzwischen, zu seiner Erleichterung, zu anderen Sendern gewechselt.
Leider war diese Kollegin aber nicht die Einzige, die ihn wegen seines Benehmens hasste, daher war er im direkten Umfeld mit dem Anbaggern in letzter Zeit etwas zurückhaltender geworden. Deshalb auch der aktuelle Zustand ohne Freundin. Wann war er schon mal unter anderen Menschen, als unter Kollegen? Das sehr frühe Aufstehen bedeutete auch frühes Schlafengehen, wenn man konzentriert eine Sendung moderieren wollte. Tatsächlich nahm Jörn seine Arbeit sehr ernst (auch wenn er finanziell nicht darauf angewiesen war) und versuchte, die 6-Stunden-Minimum-Grenze für Schlaf nicht zu unterbieten. Das war auch schlecht für seinen Teint, hatte er festgestellt, und machte so hässliche Falten unter den Augen.
Er schloss seine Haustür ab, fuhr von seinem Penthouse des Neubaus in Charlottenburg mit dem Fahrstuhl in die Tiefgarage und stieg in seinen alten Porsche 911. Ja, natürlich passte auch dieses Auto ganz herrlich ins Klischee des einsamen, reichen und Frauen verachtenden Berliners. Wenn man sich aber ein klein wenig Mühe gab, dann konnte man unter der schillernden Oberfläche auch den Jörn Schmitt sehen, der ein Faible für besondere Autotechnik hatte und die Geschichte des Porsche von der ersten Modellzeichnung bis heute nacherzählen konnte. Der selbstverständlich in der Lage war, kleine Reparaturen selbst vorzunehmen und den Lack niemals von anderen polieren ließ. Wer sich die Zeit nehmen würde für ein längeres Gespräch, der würde erfahren, dass seine Großmutter die einzig wahre Liebe in seinem Leben war, und dass sein im Grunde goldenes Herz nur für sie schlug.
Manchmal dachte er darüber nach, ob Bernd Recht hatte mit der Behauptung, Jörn würde etwas zu dick auftragen mit seinen ganzen Statussymbolen: fette Karre, fette Bude, fette Klamotten. Aber hey, er war der erfolgreichste Radiomoderator der Stadt, wieso sollte er das nicht auch leben? Er hatte sich die Wohnung und das Auto schließlich nicht gekauft, um andere zu beeindrucken, sondern um sich selbst das Leben ein wenig schöner zu machen. Ganz ehrlich – die Meinung anderer Leute hatte ihn noch nie besonders interessiert.
Schon vor seinem Erfolg bei Radio Null hatte er sich keine großen Gedanken über Geld machen müssen, weil er geerbt hatte. Eine traurige Geschichte: Als er fünf Jahre alt war, starben seine Eltern bei einem Unfall. Er erbte Geld aus Aktienpaketen seines Vaters und aus mehreren Lebensversicherungen. Nach der Wende hatte sein Vater, der Zeit seines Lebens vor allem gespart hatte, im ehemaligen Ost-Berlin mehrere große Häuser gekauft, saniert und vermietet. Das allein brachte Monat für Monat so viel Geld ein, dass notwendige Sanierungen und Reparaturen heute kaum ins Gewicht fielen. Seine Oma hatte das Vermögen zunächst verwaltet, später hatte die Miete der Wohnungen seine zahlreichen Studienversuche und schließlich das Penthouse und den Sportwagen finanziert. Seine Großmutter hatte dafür gesorgt, dass das Geld so gut angelegt wurde, dass er eigentlich nie wieder arbeiten musste. Nicht arbeiten bekam ihm aber nicht, das hatte er bereits getestet. Seine Laune wandelte sich ohne Aufgabe innerhalb weniger Tage ins Übelste und er hatte in solchen Zeiten nicht einmal Freude an seinen schönen Anzügen und Schuhen gehabt.
Das wusste natürlich niemand im Sender. Jörn wagte gar nicht, sich vorzustellen, was das für Reaktionen auslösen würde bei einem Programmchef, der seine zweite Scheidung abzahlen musste, und bei Kollegen, die auch mit einer Festanstellung lediglich einen All-Inklusive-Urlaub nach Mallorca finanzieren konnten. Er hatte keinen Bock auf Sozialneid. Nur seinem besten Freund Bernd, mit dem er schon in die Grundschule gegangen war, hatte er nach einer Session mit sehr viel teurem Malt-Whiskey davon erzählt. Aber der würde ihn ohnehin nie anpumpen. Für Bernd, den Künstler, ging Freundschaft über alles und im Übrigen hatte der selber inzwischen genug Geld mit seinen Bildern verdient.
Jörn startete seinen Wagen, fuhr aus der Tiefgarage in die Dunkelheit der langsam erwachenden Hauptstadt. Die Lichter des asiatischen Restaurants an der Ecke waren noch ausgeschaltet, aber im Drogeriemarkt gegenüber waren bereits die Putzfrauen aktiv.
Er setzte den Blinker nach links und dachte über seine Sendung nach, während er in Richtung Ku’Damm fuhr. Er war durch Zufall zu Radio Null gekommen. Zuvor hatte er versucht, BWL zu studieren, was ihm zu bürokratisch gewesen war. Jura hatte er ganz einfach nicht gepackt. Und Medizin, eine Fachrichtung die ihn vielleicht noch interessiert hätte, scheiterte an der Vorstellung, während der Ausbildung an Leichen herumschnippeln zu müssen. Er hatte auch überlegt, eine Lehre im Handwerk zu beginnen, als Koch oder Tischler. Mehr als Gedanken war daraus aber nicht geworden. Es fehlte am Antrieb. Natürlich hätte er sich vorstellen können, ein Sterne-Restaurant zu betreiben, aber dafür jeden Tag 16 Stunden zu arbeiten, war auch nicht seine Idee von einem schönen Leben. Ehrlicherweise musste er zugeben, dass ihm für Handwerkliches jedes Talent fehlte. Er war schon daran gescheitert, ein Regal von IKEA so zusammen zu bauen, dass man darauf mehr als zwei Bücher ablegen konnte.
Als er also wieder einmal darüber nachdachte, womit er seine Tage sinnvoll füllen konnte, hatte er von einem Casting für den Sender gelesen und sich spaßeshalber beworben. Dem Programmchef hatte seine unkonventionelle Bewerbung gefallen und er war zu einer Probesendung eingeladen worden. Im Studio war Jörn kein bisschen nervös gewesen, weil er sicher war, dass sich am Ende alles als großes Missverständnis herausstellen würde und niemand ernsthaft daran interessiert sein würde, ihn als Moderator einer Frühsendung zu beschäftigen. Für das Casting musste er zwei Interviews führen, die er einfach so hinrotzte, wie er auch mit ehemaligen Klassenkameraden sprach. Er lamentierte über einen alten Popsong und brachte seine Begeisterung für eine neue Band zum Ausdruck, über die er in einer Frauenzeitschrift bei seiner Oma schon etwas gelesen hatte – und dann bekam er den Job.
„Ich mag deine unkonventionelle Art. Mensch, nett und eiteitei, das haben doch alle! Alle haben das!“ Der Programmchef hatte sich vor Begeisterung kaum einkriegen können. „Also, wenn du das beibehalten kannst mit diesem schnoddrigen Desinteresse bei den Gesprächen, dann werden wir so etwas wie der erste deutsche Talkradio-Sender. Geil, das gibt’s noch nicht in der Republik. Und das wird laufen in Berlin, da bin ich mir nicht nur sicher, das weiß ich ganz einfach. Geil Alter, du hast es echt drauf! Damit schaffen wir mindestens zwei Plätze nach vorn in der Reichweitenstärke. Das wird so geil!“
Jörn wusste zunächst nicht so recht, wie ihm geschah, aber da er gerade nichts Besseres zu tun hatte, ließ er sich auf die verrückte Idee ein und wurde Moderator einer neuen Frühsendung mit dem Titel Jörn hörn, wochentags von fünf bis zehn Uhr am Morgen. Interviews, Moderationen über Musik und Wetter und Geschehnisse in der Stadt. Reden konnte er. Das war schon immer sein großes Talent gewesen. Bereits in der Schule hatte er manche Note durch endloses Bequatschen der Lehrer gerettet. Über andere reden und das Schlechteste in einem Menschen erkennen, das war auch etwas, was ihm lag. Für Interviews war das ein Talent, das ihm ungewöhnliche Antworten und einzigartige Reaktionen bescherte. Das begeisterte den Chef. Was Jörn an Moderationsgrundlage fehlte, wurde ihm bei einem einwöchigen Training bei einem echten Schleifer in Holland beigebracht. Zusammen mit fünf anderen Radio-Neulingen aus ganz Deutschland, der Schweiz und Österreich hatte er gefühlte 73 Stunden am Tag in einem Container gesessen, in dem Studios in der Größe einer Gästetoilette eingebaut waren. Immer wieder hatte er mit den Kollegen geübt, eine „Ramp zu treffen“, also mit seiner Moderation fertig zu sein bevor der Sänger eines Stückes loslegte. Ihm war beigebracht worden, wie man Blenden, also Übergänge zwischen zwei Titeln geschmeidig „fuhr“, und er hatte sich jeden Abend angehört, wie der holländische Radioguru seine Moderationsideen in Grund und Boden kritisierte. Das machte der Mann aber bei allen so, außer bei dem Kollegen aus Saas-Fee, der seine Moderationen in Schwiezerdütsch aufnahm und nicht einmal von den deutschen Kollegen verstanden wurde. Nach dieser Zeit hatte er eine Abneigung gegen den Song „Everything I do“ von Bryan Adams, weil er auf die ersten Musiktakte ungefähr zweitausend Mal etwas von einem dunklen Sherwood Forest und einem Mann, der die Reichen beklaute, um die Armen zu unterstützen, erzählt hatte, so dass er nie wieder vergessen würde, dass das Intro dieses Songs genau 17 Sekunden lang war. Ramps treffen konnte er jetzt jedenfalls. Im Übrigen war „Summer of 69“ sowieso das geilere Stück von Adams.
Tatsächlich aber hatten die Tage und Nächte in Holland ihm einen gewaltigen Schub für sein Selbstvertrauen am Mikrofon gegeben und damit die Sicherheit, sich im Studio täglich genau so unverschämt oder nach Bedarf auch so charmant zu benehmen, wie er es auch im Freundeskreis tat.
Im Grunde, das musste er nach einigen Monaten feststellen, hatte sein Traumberuf IHN gefunden. Wenn das Aufstehen mitten in der Nacht nicht gewesen wäre, dann könnte man von einem perfekten Leben sprechen.
Dieses unsoziale früh ins und sehr früh aus dem Bett nutzte er gegenüber Bernd auch als eine Art Rechtfertigung für die Kontakte zu den Praktikantinnen im Sender. Welche Frau, mit einem ganz gewöhnlichen Beruf und ganz gewöhnlichen Arbeitszeiten, würde denn schon um 21 Uhr schlafen gehen, um halb vier wieder aufstehen und das halbe Wochenende im Bett verbringen, um das Schlafdefizit wieder auszugleichen? Keine Krankenschwester, keine Rechtsanwaltsgehilfin und auch keine Lehrerin. Hatte Jörn in den vergangenen Jahren alles schon versucht, hoffnungslos. Nicht dass ihn das unglücklich gemacht hatte. Eine Sehnsucht nach einem Häuschen im Grünen, mit Bausparvertrag, mit einem eigens angepflanzten Apfelbaum und spielenden Kindern hatte er bisher nicht verspüren können.
Daher war es ihm immer ganz gelegen gekommen, wenn die Ladies nach einigen Tagen, Wochen oder Monaten von seinem Biorhythmus die Nase voll hatten und sich einen anderen Schlafplatz suchten.
Es gab Menschen, die sich einst als Freunde bezeichnet hatten und die ihn gar nicht mehr anriefen, nachdem er das dritte Mal am Abend über der Pizza im Restaurant eingeschlafen war. Auch auf solche Mitmenschen konnte Jörn ohne Schwierigkeiten und schlaflose Nächte verzichten. Sein schönes wildes Leben war nun einmal nicht kompatibel mit dem eines Beamten oder Verwaltungsfachangestellten mit Überstundenzettel und Urlaubsantrag.
Nur Bernd war ihm wirklich über die Jahre treu geblieben. Der war aber auch Künstler und arbeitete, wann er Lust hatte. Mal nachts und mal ganz früh am Morgen, manchmal auch gar nicht. Früher hatte ihn das Leben im Takt der Inspiration manchmal belastet und finanziell an den Rand der Existenz gebracht. Dann hatte er sich monatelang von Ravioli aus der Dose ernährt, die Wohnung nicht geheizt und nicht geduscht, um Geld zu sparen. Aber seit ein paar junge Russinnen ihn und seine Kunst „entdeckt“ hatten, war alles anders. Für einige seiner Bilder hatte er mehr Geld geboten bekommen, als er zuvor in seinem ganzen Leben verdient hatte (dank des Galeristen, der klug genug war, die unerklärliche Verliebtheit der jungen Ostblockschönen auszunutzen). Deshalb strengte sich Bernd jetzt weit weniger an und war meistens froh, wenn er Jörn nachmittags ins Kino begleiten oder am Wochenende mit ihm abhängen und die aufgezeichneten Fernsehfilme der Woche am Stück angucken konnte.
Bernd hatte auch keine feste Freundin. Bernd hatte allerdings auch keine nicht-feste Freundin. Nicht nur seit einigen Wochen, sondern beinahe schon so lange wie Jörn ihn kannte. Bernd war mehr der Bär, als der Liebhaber. Gebaut wie eine nordische Schrankwand, blond und breitschultrig, ein Gesicht wie Dirk Nowitzki, sympathisch aber nichts, was man unbedingt gleich morgens nach dem Aufwachen als Erstes sehen musste. Bisher hatten die Beziehungen nie so lange gehalten, dass die Damen sich von der Herzensgüte und wahrhaften Treue dieses Mannes überzeugen konnten. Was Jörn leidtat. Andererseits war er auch froh, wenn er nicht jedes Wochenende alleine fernsehen musste.
Ein weiterer Fixpunkt in Jörns Leben war seine Oma. Annie war nach dem Tod seiner Eltern bereits Witwe gewesen und hatte ihre Doppelhaushälfte bei Hamburg sofort aufgegeben. Dann hatte sie einen Makler damit beauftragt, das Elternhaus zu verkaufen und eine Wohnung für sich und ihren Enkel zu suchen, damit Jörn in seinem gewohnten Umfeld bleiben konnte. Bei Oma Annie hatte er gelebt bis er vor einigen Jahren in das Penthouse gezogen war. Und sie hatte in ihrer Wohnung in Wilmersdorf ein Zimmer für ihn, in dem das Bett immer frisch bezogen war. In ihrer Speisekammer standen immer ein Glas von Jörns Lieblingsmarmelade und eine Flasche Waldmeisterbrause (die Jörn als Junge gern getrunken hatte). Oma Annie war die Beste. Wenn es tatsächlich mal trübsinnig wurde in Jörns Leben, dann besuchte er seine Omi. Las Frauenzeitschriften und bunte Blätter über Königshäuser, zappte sich mit Omi im Fernsehen durch Kochshows und Vorabendserien, spielte mit ihr Mensch-ärgere-Dich-Nicht und Canasta und ließ sich mit selbstgebackenem Kuchen und Hühnerfrikassee verwöhnen. Denn seine Omi war trotz ihrer 80 Jahre noch fit wie der bekannte Turnschuh, machte jeden Tag einen langen Spaziergang zum KaDeWe, um die Knochen geschmeidig zu halten, ging zum Kartenspielen in den Seniorenclub und verreiste mindestens einmal im Jahr mit ihrem Kegelverein. Für Computer hatte er sie noch nicht begeistern können, aber ein Handy hatte sie sich angeschafft, um auch aus den Ferien bei ihrem Enkeln anrufen zu können und selber erreichbar zu sein.
Als Jörn seinen Wagen heute auf dem kleinen Mitarbeiterparkplatz abstellte, ganz vorn gleich neben der Treppe zum Funkhaus, der Platz war um diese Zeit immer frei, erinnerte er sich an seine ersten Tage bei Radio Null. Das war inzwischen schon beinahe sechs Jahre her und nie im Leben hatte er vermutet, dass man eine Frühsendung bei einem Berliner Radioprogramm über so viele Jahre so erfolgreich machen können würde. Im Grunde hatte er damals aber auch überhaupt keine Ahnung gehabt, von dem, was beim Radio so abging. Er hatte gewusst, dass es private und öffentlich-rechtliche Sender gab und dass Radio Null für einen staatlichen Sender sehr unkonventionell arbeitete. Er hatte diesen Sender auch damals schon gehört, ihn in seinem Autoradio einprogrammiert, und er mochte die ungewöhnliche Musikauswahl abseits der Charts und die manchmal leicht sperrigen Moderatoren. Aber selber einmal dazuzugehören, das hatte er sich in seinen kühnsten Träumen nicht ausgemalt.
Als er dann das erste Mal in dem Studio stand, aus dem er bald mit seiner Sendung beginnen würde, war ihm doch so etwas wie Angstschweiß auf die Stirn getreten. Ein großes Mischpult mit unzähligen Reglern, CD-Spielern, drei Computerbildschirme für den Sendungsablauf, Jingles und Spielelemente und ein digitales Telefon ließen eine gewisse Unruhe in ihm aufkommen.
In den Wochen vor Beginn seiner ersten Show hatte er tagelang im sogenannten Havarie-Studio gesessen und immer wieder die Abläufe probiert, um ja nicht zu scheitern, sich bloß nicht zu blamieren. Trotz der Schulungen in Holland hatte er in dieser Zeit Alpträume gehabt, von Tonträgern, die durch den CD-Spieler durchfielen und keine Musik abspielten, von digitalen Sendeplänen, die vor seinen Augen schwarz wurden, und von Sendungen, in denen er nicht genug Musik dabei hatte und gezwungen war, minutenlang zu reden, um die Zeit bis zu den Nachrichten zu füllen. Er war schweißgebadet aufgewacht, in Gedanken noch bei dem Nachrichtensprecher, den er ankündigte, der dann aber nur lachend vor ihm saß, statt seine Meldungen zu verlesen.
Aber dann war irgendwann der Tag seiner ersten Sendung gekommen und Jörn war morgens ins Studio gegangen mit einer innerlichen Ruhe und Gelassenheit, die er sonst nur nach einer halben Flasche Malt-Whiskey kannte. Alles hatte einwandfrei funktioniert: Die Technik hatte mitgespielt und nach wenigen Minuten hatte er sich im Studio genau so zu Hause gefühlt, wie bei Oma Annie auf dem Sofa. Als hätte er nie etwas anderes gemacht, als sei er geboren für diese Arbeit.
Nach der ersten Sendung war der Programmchef zu ihm gekommen, mit roten Wangen vor Aufregung hatte er dagestanden und sich kaum eingekriegt vor Begeisterung. „Alter, das war echt geil! So hab’ ich mir das vorgestellt. Eiskalt und frech, das kannste. Wie du diesen Wissenschaftler abgefertigt hast, ich krieg’ mich immer noch kaum ein. So einen Mann zu fragen, wer denn etwas davon hat, wenn man den ganzen Tag junge Sterne im Weltall anglotzt und ob das Geld nicht besser angelegt wäre, wenn man es den armen Kindern in der dritten Welt schickt, also genau so! Das wird so geil, da können die anderen Sender mal einpacken, das sage ich dir. Das kriegt keiner so gebacken, das trauen die sich ja gar nicht.“ Jörn erinnerte sich, als wäre es gestern gewesen. Und bis heute hatte sich am Erfolg seiner Sendung nichts geändert. Berlin wollte ihn, Berlin wollte Jörn hörn. Jede Marktanalyse der vergangenen Jahre hatte den Sender durch seine Show am frühen Morgen ein Stückchen weiter an die Spitze der Marktführerschaft gebracht. Mit ein wenig Glück würde Radio Null es in diesem Jahr ganz an die Spitze in Berlin und Brandenburg schaffen.
Er grüßte den Pförtner am Empfang, von dem er bis heute den Namen nicht wusste. Bedauerlich, denn der ältere Herr hatte tatsächlich alle Namen der Kollegen drauf und das war allerhand, denn in dem Sendehaus war nicht nur Radio Null untergebracht, sondern auch die Seniorenwelle „PlusPop“ und das Jugendprogramm „Radio Franz“. Alle auf unterschiedlichen Etagen, mit eigenen Redaktionen und eigenen Archiven, aber eben in einem Haus. Zu dem „Guten Morgen, Herr Schmitt“ gesellten sich also im Laufe des Tages unzählige Herr X und Frau Y und der Mann im blauen Anzug hinter dem Eingangstresen kam nie ins Schleudern. Bewundernswert.
Mit dem Fahrstuhl fuhr Jörn in den zweiten Stock, zu den Räumen von „Radio Null“. Um diese Zeit war es noch sehr ruhig im Sender. Bis zum Beginn seiner Sendung lief ein aufgezeichnetes Programm, das nur für die Nachrichten unterbrochen wurde. Außer dem Nachtredakteur für die News war zu dieser Stunde noch niemand in der Redaktion. Die Tür des Fahrstuhls öffnete sich und Jörn sah den noch verwaisten Platz des Empfangs von Radio Null und die Schreibtische, im von den freien Mitarbeitern sogenannten „Wellness-Bereich“, rechter Hand vom Fahrstuhl. Hier hatten die fest angestellten Mitarbeiter ihre Schreibtische, die, mit den klar geregelten Arbeits- und Urlaubstagen, mit den Feiertagszuschlägen und dem Rentenanspruch. Die, die zur Arbeit kamen und ihren Job bei Radio Null nicht als besonderes Geschenk oder gar Traumberuf empfanden. Im Gegensatz zu den sogenannten „Freien“, die keinen Arbeitsvertrag hatten, die nach erledigten Sendungen oder Redaktionsschichten bezahlt wurden, die also alle Pflichten eines Arbeitnehmers hatten, aber keines seiner Rechte. Und die „Freien“ nahmen für sich in Anspruch, mehr und besser zu arbeiten, als die „Festen“ und wunderten sich gern darüber, wenn die Angestellten tatsächlich nach acht Stunden Arbeitszeit den Computer wieder herunterfuhren, auch wenn in Japan gerade ein Atomkraftwerk explodierte. Deshalb die Koseworte „Entspannungszone“ oder „Wundgelegenen-Abteilung“ für diesen Bereich der Redaktion.
Jörn beteiligte sich nicht an Diskussionen über die Arbeitsqualität der „Festen“ oder „Freien“. Ihm war wichtig, dass seine Sendung sorgfältig vorbereitet war, dass heiße Themen darin vorkamen und die erste Riege der möglichen Gesprächpartner am Telefon bereitstand. Welchen Status die Kollegen hatten, die diese Vorstellungen erfüllten, war für ihn zweitrangig.
Er wandte sich nach links, zum „heißen“ Bereich, in dem tagesaktuell gearbeitet wurde. An einigen Schreibtischen waren noch Lampen eingeschaltet, auf manch einem Computerbildschirm leuchtete das Senderlogo von Radio Null als Bildschirmschoner, auf anderen ein buntes Feuerwerk, obwohl es nahezu wöchentlich eine eMail der Administratoren gab, in der darum gebeten wurde, die PCs am Abend immer herunterzufahren, um Energie zu sparen.
Jörn ging am Ende des Raumes zum Regal mit den Fächern für die Sendeunterlagen und nahm die Papiere für Jörn hörn heraus. Ein ausgedruckter Sendeablauf, Kopien von Zeitungsartikeln aufgrund derer ein Gespräch vereinbart worden war, Veranstaltungsprogramme als Hintergrundinformation für ein Interview in seiner Sendung, sowie ein Ablaufplan, auf dem alle Musiktitel der Sendung mit Informationen zu Interpreten, Länge und Entstehungsjahr des Songs zu lesen waren. Anschließend ging er an den Produktionsstudios vorbei zu den Schreibtischen der Nachrichten- und Serviceredaktion und wünschte einen „Guten Morgen.“ Heute war Ingvar der Nachtmensch, wie die Kollegen die Schichtler nannten, die um fünf Uhr zum letzten Mal ihre Meldungen verlasen. Ingvar war ein echter Berliner, schon von Anfang an bei Radio Null, er kannte alle und jeden und auch alle Geschichten, die im Sender die Runde machten. Außerdem war er auch nach einer anstrengenden Nachtschicht immer die Freundlichkeit in Person.
„Morgen Ingvar, irgendwas besonderes heute?“
„Moin. Ne, ist ne ruije Nacht jewesen, Et jibt ne Meldung von der S-Bahn, da wird’s an einjen Stellen wieder eng nachher, det jibt bestimmt Ärja wenn der Berufsverkehr erstmal losjeht. Vielleicht is det denn ja ooch noch wat fürn Jespräch in deine Sendung. Aber sonst war nüscht.“
„Alles klar, dann bis gleich.“ Jörn zog im Gehen seine Jacke aus, nahm im Vorbeigehen die BILD-Zeitung, den Tagesspiegel und eine Süddeutsche von einem Stapel am Platz des Ablaufredakteurs und ging ins Studio. Hier drückte er auf die verschiedenen Lichtschalter, bis aus dem hell erleuchteten Raum eine gemütliche Höhle geworden war, er wollte hier ja schließlich keine Operationen am offenen Herzen durchführen.
Ein kurzer Blick auf den Computer mit dem digitalen Sendeablauf verriet ihm, dass es noch knappe zwanzig Minuten waren bis zum Beginn seiner Sendung. Er fuhr also den Computer mittig des Pultes hoch, auf dem er seine Moderationen schrieb, den digitalen Sendeablauf mit Informationen zu Gewinnspielen und Preisen nachlesen konnte, und ging dann in die kleine Küche, die gegenüber des Studios untergebracht war, um sich zunächst einen Kaffee zu kochen.