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3.
Оглавлениеdoch nun zu müde, um noch zu hoffen
sagt sie sich gute nacht
mit einem lachen in moll
Erdmöbel / Lachen in Moll
„Oma, diesen Dreck kannst du doch nicht ernsthaft lesen? Ich meine, du weißt schon, dass nicht mal die Hälfte von dem Zeug stimmt, das die hier aufschreiben?“ Jörn saß bei Oma Annie auf dem Sofa, das im Sommer in kurzen Hosen immer entsetzlich ungemütlich war, da es mit einem lindgrünem Stoff bezogen war, der dann an nackten Beinen zwickte und kribbelte wie ein Sack Stroh. Aber noch war Frühjahr und die Beine waren durch Hosenstoff geschützt. Das Sofa gehörte zu einem Ensemble, das bei Jörn unter dem Titel „Spießer-Dreier“ lief, Dreisitzer-Zweisitzer-Sessel. Seine Oma saß allerdings nie auf einem dieser Sitzgelegenheiten, sondern immer auf ihrem leberwurstfarbenen Schlafsessel mit den Holzlehnen, den sie mit einer selbstgehäkelten Decke vor Abnutzung schützen wollte. Dieses Monstrum von Sitz konnte man in verschiedene Positionen kippen: sitzend, leicht zurückgelehnt oder auch komplett in die Waagerechte. Als Kind hatte er sich darauf gefühlt wie Captain Kirk auf der Kommandobrücke von Raumschiff Enterprise. Oma Annie nahm mittags gern mal einen kleinen Eierlikör oder Baileys und wurde dann sehr schnell sehr müde, doch der Sessel hatte den Vorteil, dass man auf Knopfdruck in bequeme Schnarchstellung abgleiten konnte. Jörn hatte das selber schon einmal ausprobiert als er bei seiner Oma übernachten musste, weil diese eine schlimme Grippe hatte und nicht in der Lage war, sich selbst zu versorgen, also Essen machen, Tee kochen und dergleichen. Damals hatte der liebende Enkelsohn sich bei ihr einquartiert, damit jedenfalls ab Mittag jemand den Krankendienst verrichten konnte. Damals war er die ein oder andere Nacht, erschöpft nach einem Tag des Kümmerns und einigen Gläsern entspannenden Weins, selig beim Fernsehen auf diesem Sitzmöbel eingeschlummert. Natürlich hätte Oma Annie auch genug Geld gehabt, um sich rund um die Uhr eine Pflegerin leisten zu können, aber da war die Alte eisern: Fremde Menschen kamen ihr nicht über Nacht ins Haus und erst Recht nicht in ihre Küche.
„Wir halten sie immer auf dem neuesten Stand über Neuigkeiten aus der Welt der Prominenten und des Adels,“ las Jörn vor und hielt seiner Oma das Titelbild des bunten Blattes vor die Nase. „Ich meine, das siehst doch sogar du ohne Brille, dass das hier vorne eine Fotomontage ist. Der Kopf von diesem Prinzen ist doch zweimal so groß wie der von dem Mädchen, das angeblich ins Königshaus einheiraten will. Womöglich haben die beiden noch nie im Leben nebeneinander gestanden. Aber die Leute hier wissen natürlich schon, welche Blumen die Hochzeitstafel schmücken sollen.“ Er griff nach einem Keks, den seine Oma auf einer Etagere zusammen mit Schokoküssen, zerbrochener Bitterschokolade und Gummibärchen angerichtet hatte, und blätterte die Zeitschrift durch. „Und dann so was hier: Auch aus dem tiefsten Tal der Verzweiflung gibt es einen Ausweg – Schicksale. Wer schreibt denn so etwas? „Sie wollte sich töten, doch das Leben ließ sie nicht los.“ Oma das geht doch nicht, liest du das wirklich alles, was die hier so absondern? Da wird man doch irre in der Birne.“
„Das ist ein ganz neues Heft, damit bin ich noch nicht durch.“ Oma Anni lächelte und steckte sich ein Stückchen Schokolade in den Mund, auf dem sie genießerisch herumlutschte.
Jörn blätterte weiter und schüttelte den Kopf über Geschichten von Prominenten von denen er noch nie zuvor gehört hatte und solchen, über die täglich neue Gerüchte in die Welt gesetzt wurden, weil sie in irgendeiner Fernsehshow einen Sängerwettstreit gewonnen oder Würmer und Maden gegessen hatten. Annie trank einen Schluck, setzte ihre Kaffeetasse ab und lachte ihn an. „Auf Wahrheit oder nicht kommt es doch gar nicht an. Ich lese doch diese Artikel nicht, weil sie stimmen, sondern weil das einfach schöne Geschichten sind. Tolle Fotos haben die auch immer, und ich kann etwas rätseln, und ab und an habe ich da auch schon ein schönes neues Rezept gefunden. Mediterrane Frikadellen zum Beispiel, habe ich mir heute Mittag gemacht, steht auch da drin, wie das geht. War lecker, das mach ich mal wieder. Im Kühlschrank sind noch zwei, soll ich dir die eben aufwärmen?“ Sie machte Anstalten, sich aus ihrem Sessel zu erheben, aber Jörn winkte ab. „Wenn ich die Wahrheit wissen will, dann rufe ich meinen einzigen Enkel an, der ist ja beim Radio und kennt sich aus in der Welt.“ Sie tätschelte seine Hand, die auf dem Tisch lag. „Wie geht es dir denn bei deiner Arbeit? Macht es dir noch Spaß? Hast du wieder eine kleine Freundin?“
Das hatte sie immer schon gemacht, von „kleinen“ Freundinnen gesprochen, dabei war schon Jörns erste große Liebe, in der vierten Klasse damals, einen ganzen Kopf größer gewesen als er. Tatjana Fährmann aus der Parallelklasse. Sie hatte lange braune Haare, trug im Gegensatz zu allen anderen Mädchen tatsächlich nur Kleider und eine hässliche Zahnspange. Aber sie hatte dennoch das schönste Lachen der ganzen Schule gehabt. Er erinnerte sich noch gut daran, dass sie den dicken Tim weggeschubst hatte, als der ihm die Tüte Erdnüsse klauen wollte, die er sich am Schulkiosk gekauft hatte. Nach diesem mutigen Einsatz für ihn und seine Nüsse war es um ihn geschehen gewesen. Augenblicklich hatte er sich in seine Retterin verliebt und fast drei Monate lang hatte er damals nur Augen für Tatjana gehabt. Sie hatten in der Pause zusammen ihre Brote gegessen und sich morgens vor dem Schultor getroffen, um zusammen in den Klassenraum zu gehen. In Kindertagen also eine ewig dauernde Beziehung. Danach war seine Liebe aus Berlin weggezogen, wohin eigentlich noch mal?
„Sag mal Omi, weißt du eigentlich wo Tatjana Fährmann abgeblieben ist?“ Er kaute an seinem Keks.
„Tatjana? Wer ist denn das denn noch gleich gewesen? Bei deinen ganzen Mädchen komme ich nicht mehr so richtig mit, mein Junge. Versteh’ mich da nicht falsch, ich finde es ja gut und richtig, wenn man sich erst einmal austobt als junger Mensch, aber nun bist du ja auch bald vierzig und ich fände es ja schon ganz schön, auf meine alten Tage noch Uroma zu werden.“
Jörn ging auf die Sätze seiner Oma nicht ein, sondern hakte nach. „Na mit Tatjana bin ich doch in die Grundschule gegangen. Die haben hier um die Ecke gewohnt, vorne an der Brandenburgischen Straße, die Eltern waren glaube ich beide beim Finanzamt oder bei der Kfz-Behörde? Irgendwas mit Verwaltung, daran erinnere ich mich aber nicht mehr ganz genau.“
„Ach die meinst du. Nein, deren Eltern waren bei der Bank. Der Vater bei der Sparkasse und die Mutter in Teilzeit bei der Volksbank. Das waren sehr nette Leute, zu den Elternabenden sind die immer zusammengekommen und haben sich ja auch sonst sehr engagiert, wenn in der Schule Freiwillige gesucht wurden für Feste oder Klassenfahrten. Leider sind die dann ja nach Westdeutschland gezogen, nach Frankfurt, glaube ich, der Vater hatte da irgendeinen ganz dollen Job in Aussicht.“
Jörn wurde ein wenig wehmütig ums Herz, als er an die Verliebtheit von damals dachte. Wie unbelastet und sorglos man als Kind sein Herz verschenken konnte. Niemand verlangte Beständigkeit oder Dinge wie gemeinsame Reisen und Wohnungen und Schlafzimmer. Man liebte mit all seiner Kraft und bekam dafür Lutscher und Salamibrote und ganz selbstverständlich ging man davon aus, dass diese Liebe ewig währen würde. Innerlich seufzte er. Äußerlich wohl auch, denn seine Oma schaute ihn fragend an. „Ist dein Leben so schwer mein Kind?“
„Neee, gar nicht. Läuft alles prima. Im Job ist es manchmal anstrengend mit dem frühen Aufstehen, aber davon abgesehen macht mir das alles immer noch viel Spaß. Und ich bin nach wie vor wirklich sehr froh, dass ich diesen Job gefunden habe.“
„Und was ist mit den Mädchen? Diese eine war so eine Nette, die du mal mitgebracht hast. Ich weiß noch, dass ich damals zum ersten Mal diesen Schmand-Kuchen ausprobiert hatte. Anke, Anna, Andrea oder wie hieß die noch gleich?“
Jörn ärgerte sich immer noch darüber, dass er Anette zum Kaffeetrinken zu seiner Oma eingeladen hatte. Das war eigentlich komplett gegen seine Regel, denn seine Oma vermutete immer gleich mindestens eine Verlobung, wenn er die Damen seines Herzens vorstellte. An jenem speziellen Tag hatte sie ihn überraschend bei Radio Null abgeholt und er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie einfach wieder nach Hause zu schicken. Andererseits wollte er auch nicht den täglichen Besuch bei seiner Oma verschieben.
Anette war die bisher letzte in der Reihe der vielen Freundinnen gewesen und ausnahmsweise keine Mitarbeiterin von Radio Null. Er hatte sie bei einer Vernissage von Bernd kennengelernt, bei der sie für eine Veranstaltungsagentur als Kellnerin beschäftigt worden war. Sie waren ins Gespräch gekommen und es hatte sich herausgestellt, dass Anette nicht nur wegen ihrer langen, fast weißblonden Haare eine tolle Frau war. Sie studierte Psychologie und interessierte sich für alles, was mit Menschen zu tun hatte. Nach Dienstschluss hatten sie sich eine Bar in der Nähe der Galerie gesucht und bis zum Morgen einfach nur geredet. Gleich am nächsten Abend hatten sie sich wieder getroffen und das Gespräch fortgesetzt. Daraus war nach einigen Tagen eine leidenschaftliche Beziehung geworden, die so lange wunderbar lief bis Anette versuchte, sich in Jörns Leben einzumischen. Er sollte mehr Obst essen, dann würde ihm das frühe Aufstehen auch leichter fallen, er müsste mehr aus sich herausgehen, dann würde er auch den Zynismus ablegen können, er sollte sich mehr sozial engagieren, dann würde er sich wohler fühlen und dergleichen mehr, hatte sie ihm vorgeschlagen. Das war Anette. WAR.
„Ne, also die hat dann auch echt genervt, Oma. Weißt du, ich möchte schon selber entscheiden, wie ich mein Leben lebe und das ist nicht so einfach jemanden zu finden, der mich lässt.“ Er reichte seiner Oma den Teller mit den Keksen, aber sie schüttelte ablehnend den Kopf. „Lieber nicht, ich muss morgen früh zum Zuckertest.“ Das liebte Jörn an seiner Großmutter. Sie aß leidenschaftlich gern Süßes, litt aber unter dem sogenannten Alterszucker. Wenn sie also einen Arzttermin vor sich hatte, strich sie Kuchen, Bonbons und Schokolade von ihrem Speiseplan, um dann umgehend nach dem Test in eine Konditorei einzukehren. Da sie aber bei allem immer sehr Maß hielt, machte sich Jörn um ihre Gesundheit keine großen Sorgen.
„Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass es so schwierig für dich ist, eine Frau zu finden, die zu dir passt,“ überlegte sie nun laut. „Du musst dir über Geld keine Gedanken machen, hast eine sehr schöne Wohnung und ein tolles Auto. Du bist ja fast schon so etwas wie eine Berühmtheit mit deiner Arbeit bei diesem Radio und außerdem bist du ein ganz hübscher Kerl und weißt sogar, wie man sich ordentlich anzieht. Was ist denn das Problem?“
Jörn wollte ganz sicher nicht seine Beziehungsunfähigkeit und die gescheiterten Liebschaften der Vergangenheit mit seiner Oma diskutieren. „Oma, das weiß ich nicht. Wahrscheinlich war einfach noch nicht die Richtige dabei. Das ist doch in meinem Alter nun auch oft so, dass die tollen Mädchen schon verheiratet sind und Kinder haben, oder so sehr auf ihre Karriere konzentriert sind, dass da kein Mann reinpasst, da kann er noch so viel Geld haben. Ich bin doch auch noch jung und gesund. Das kommt schon alles noch. Aber nun erzähl du doch mal von deiner Reise mit dem Kegelclub. In diesem Jahr fliegt ihr an den Gardasee, stimmt doch, oder bringe ich da etwas durcheinander?“
Er wusste, wie er Oma Annie auf andere Gedanken bringen konnte. Sie fing an von Rentnerfreunden zu berichten, die in diesem Jahr das erste Mal auf die Reise mitkamen, von der Aufregung, die der Flug ihr verursachte, und von der Angst, dass das Essen im Hotel wieder so fürchterlich sein würde wie im vergangenen Jahr in Griechenland. Jörn ließ sich von dem Geplapper einlullen und war froh, einmal nicht über sein eigenes Leben nachdenken zu müssen.