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Des andern Leid

Komische Zeiten, wo man die Freundin erst desinfizieren muss, bevor man sie umarmen darf. Komische Zeiten, wo man erst einen Maulkorb anlegen muss, bevor man einkaufen darf – obschon man kein Hund ist. Wahrlich komische Zeiten. Gar nicht komisch fand das Harry, im Gegenteil: Eine Freundin hatte er zwar nicht, doch für ihn war das alles großartig: Endlich hatte er einmal Recht gehabt! Recht mit dem, was er seit Jahrzehnten gepredigt hatte, sehr zum Leidwesen seiner Nachbarn, Kollegen und Freunde, die sich nach und nach verdünnisiert hatten. „Das Ende ist nah“, hatte Harry tagein, tagaus gewarnt. Doch niemand wollte auf ihn hören, man hielt den 54-jährigen Frührentner für einen Schwätzer, Spinner, Angstmacher oder gleich alles zusammen.

Und nun hatten sie selbst auf einmal Panik, sie alle, die Maskierten – sie fürchteten ein winziges Teilchen, mikroskopisch klein und doch in aller Munde. Corona, für Harry war das die Rettung! Jetzt kam der einen Meter sechzig kleine Mann groß raus, jetzt mussten sie ihm zuhören, wenn er am Morgen extra zeitig aufstand, um vor dem örtlichen Discounter zu kontrollieren, ob die Masken auch korrekt aufgesetzt waren. Für 450 Euro im Monat hatte sich Harry als Sicherheitskraft rekrutieren lassen, in jenen komischen Zeiten war das ein gefragter Beruf, so wie Krankenpfleger, Kassierer, Bestatter oder Virologe.

„Ohne Mundschutz kein Zutritt!“, herrschte Harry die ältere Dame an, die geschickt versuchte, sich an ihm vorbeizuschieben und ungeschützt ihren täglichen Einkauf zu erledigen. Erst nach längerer Debatte, wenngleich ohne Einsehen, legte die Seniorin ihren Maulkorb, wie die Kritiker ihn zu nennen pflegten, an und streifte missmutig durch den Laden, in dem sich immer nur 80 Personen gleichzeitig aufhalten durften.

Harry fühlte sich großartig. Endlich zeigen, wo es langgeht, und dabei noch etwas Gutes tun, oh ja! Für die Gesundheit, für das Wohlergehen von uns allen. Solche Menschen braucht das Land, Menschen wie ihn, da war er sich sicher. Früher war das noch anders, als Harry Falschparker aufgeschrieben und beim Ordnungsamt gemeldet hat. Da war man genervt. Noch etwas freute den hygienebewussten Vorstädter, den sie alle nur „Masken-Harry“ nannten: Das war die Sache mit den Vorräten. Er hatte schon gehamstert, da hatten die anderen noch nicht einmal eine Ahnung von ihrem Faible für Toilettenpapier! Harry hingegen hatte schon immer alles: Nudeln, Reis, Milch, lang haltbares Brot, Backmischungen, Wasser – und Hakle feucht. Für ihn nichts Neues! Und damit ihm niemand etwas wegnimmt, lag die geladene Waffe stets daneben. Harry war seiner Zeit einfach voraus, und genau diese Erkenntnis rieb er seinen Mitmenschen nun unaufhörlich unter die Nase. Zunehmend böse wurden die Blicke, als sich die Regale dann tatsächlich leerten. Aber Harry hatte Recht behalten, und darauf kam es jetzt an. Endlich gab es nichts mehr zu kaufen – und er hatte vorgesorgt. Wunderbar!

Während Harry wieder einmal die Einhaltung der Maskenpflicht penibel überwachte und so seinen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie leistete, reifte in ihm ein Gedanke: Was jetzt noch fehlt, ist der Finanzkollaps! Das hat er auch schon immer gewusst! Erst wenn die anderen völlig am Ende sind, würde Harry sich groß fühlen! Und wahrlich groß war auch das, was er im Falle eines Falles vorhatte. Wenn die Vermögenswerte erst einmal futsch wären, dann würde er seinen größten Trumpf ziehen: Mit seinem kleinen, aber feinen Goldschatz würde Harry einen ganzen Straßenzug aufkaufen, seinen eigenen – und die frechen Mieter würde er vor die Tür setzen. Jawohl. Und die Nachbarn müssten dann auch weg. Da sind noch Rechnungen offen. Sie haben ihn doch immer schlecht behandelt. So war das! Genau diesen Moment sehnte Harry geradezu herbei, und als die Wirtschaftsweisen ihre Prognose abermals nach unten korrigierten, kam in ihm eine mehr als nur klammheimliche Freude auf. Mit jedem neu gemeldeten Arbeitslosen, mit jeder Insolvenz, mit jeder Steigerung der Inflationsrate fühlte sich Harry in seinem Denken und Handeln bestätigt.

Als der DAX und der Dow Jones im Spätherbst dann tatsächlich um 50 Prozent einbrachen, feierte Harry spontan eine Party – die Beschränkung auf zwei Personen war mittlerweile aufgehoben, und den edlen Tropfen hatte er sich für genau solche Festtage aufgespart. Und als das Land aufgrund lang anhaltender Dürre schließlich am Rande einer Hungersnot ankam, vertilgte Harry genüsslich, Scheibe für Scheibe, seinen Pumpernickel und genehmigte sich zum Nachtisch einen Pfirsich aus der Konservendose, die noch drei Jahre hält. Was jetzt noch fehlt, ist ein Krieg, dachte sich Harry, gar nicht mehr klammheimlich, sondern laut und deutlich. Aber auch das kommt ganz bestimmt. Sollen die anderen doch sehen, wie sie dann klarkommen. Doch vorher muss noch Merkel weg. Das schrie Harry lautstark heraus, so wie früher, denn Demonstrieren war zwischenzeitlich wieder erlaubt.

Harry ist überall. Harry kommt schneller, als du denkst. Also pass auf, dass nicht auch du zum Harry wirst, wenn du das nächste Mal deine Maske aufsetzt! Denn komische Zeiten produzieren mitunter komische Menschen. Oder vielleicht waren wir auch schon immer so.


Komische Zeiten waren es auch deswegen, weil der Sprit immer günstiger wurde… während man nirgendwo hindurfte!


Neben dem Abstandsgebot existierten noch weitere Regeln, viele weitere Regeln:


Bilder einer Pandemie

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