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Liebe Mutter

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Dies ist der Brief, den ich dir niemals schicken werde.

Du hast mich stets gut behandelt. Deine Liebe und Fürsorge suchte ihresgleichen. Die Macht deiner Wärme war so stark, dass ich stets wusste, wohin ich kommen konnte, wenn ich mir in dieser kalten, grausamen Welt verloren vorkam.

Was ich in dir suchte, fand ich in einem Augenaufschlag, in einem Händedruck. Der Regen, der an das Fenster meines Kinderzimmers prasselte, blieb mir damals ein ewiges Rätsel, wohingegen du dich wie ein offenes Buch lesen lassen konntest.

Das ist zumindest die Wahrheit, die du mit in dein Grab nehmen wirst. Die Wahrheit, die mich als deinen Sohn ausschließt. In dieser Wahrheit bin ich nie geboren worden. In dieser Wahrheit, deiner Wahrheit, hast du einen Jungen zur Welt gebracht, der dein verbittertes Gedankengut verbreiten sollte. Einen Jungen, der aufgrund schlechter Recherchen deinerseits zu einem Bastard verkam, als klar wurde, dass er nicht jenes Blut in sich trug, welches du erhalten wissen mochtest. Der Regen des Lebens hatte das Blut deiner Träume verwaschen und es stinknormal gemacht. Dennoch hast du nicht aufgegeben. Hast diesen Jungen zu erziehen versucht. Doch was dich irgendwann verließ, war nicht mehr dein Sohn.

Ich erinnere mich an die Bratpfanne, die meinen Kopf traf, als ich noch keine zehn war. Doch obwohl mir vieles widerfahren ist, das meinen Kopf stark hätte beschädigen müssen, ziehen noch immer glasklare Silhouetten einer Vergangenheit vor meinen Augen vorbei, als wären sie Teil meiner Gegenwart.

Eine Friseurschere und ein männliches, junges Geschlechtsteil. Feuer in der Küche. Ein Kinderkopf, der zwischen Tür und Türrahmen steckt. Fäuste. Füße. Rauchschwaden und Alkoholgelächter. Fremde Gesichter von fremden Männern. Zahlreich auftauchende Umzugslaster, wieder und immer wieder.

Diese kalte, grausame Welt, in die du mich schicktest, war ein Segen. Ich lernte die natürliche Kälte des Schnees unter meinen nackten, zerschundenen Füßen zu schätzen. Der beißende Wind in meinem Gesicht streichelte mich allemal sanfter als deine gelben Finger, die beinahe selbst schon zu Zigaretten geworden waren.

Im Kindergarten hatte ich einen Erzfeind. Ich malte kreative Bilder mit meinen Fingern. Doch während andere Kinder - selbst mein Erzfeind - Bilder von ihren Eltern malten, kannte ich schönere Motive. Eltern, was war das, hatte ich mich oft gefragt. Deine Antwort spiegelte sich in vielfachen Erklärungsversuchen. Mein Vater sei verstorben, mein Vater sei verreist, mein Vater sei ein dummes Arschloch, mein Vater werde landesweit gesucht, mein Vater sei dieses oder jenes. Und obwohl er stets abwesend war, schwang er in deinen abschätzigen Blicken, die mich musterten, jedes Mal mit. Die Väter, die ich kannte, waren seltsame Fremde, die bei uns zuhause ein und aus gingen. Es gab anfangs viel Lärm aus eurem Zimmer, aber mit den Jahren ließ das nach. Solange einer dieser Väter kam, schenkten sie mir Spielzeug, ließen Geld für Essen da und gingen mit dir schick aus. Das Geld gabst du meist für noch mehr Zigaretten und einige dieser scheußlichen Kleider aus, die nach einem Abend oder einer Nacht in deinem Kleiderschrank vergammelten und zu Mottennestern mutierten.

In der Grundschule bekam ich meinen zweiten Erzfeind. Wir hatten beide die gleiche beste Freundin und waren so eifersüchtig, wie man als Grundschüler nur sein kann. Zudem las ich in der Pause viel. Während des Unterrichts war ich der typische, pummelige Junge, der strunznaiv durch die Welt stolperte und sich von vorne bis hinten ausnutzen ließ. Während der Pausen war ich der zurückgezogene Bücherwurm, der für Gruppenspiele wie Völkerball nur ab und zu mal aufzurappeln war. Für Lene, meine beste Freundin, war ich vermutlich ein schwierg zu ertragender, aber höflicher Klassenkamerad, den sie unglaublich mochte. Anders kann ich es mir nicht erklären, dass sie zu mir hielt, als ich eines Tages für jeden lebensbedrohlich wurde.

Es war wieder einer dieser Grundschultage, in denen mich der Hauptteil meiner Mitschüler im Unterricht und während der Pause hänselte und ärgerte. Mich machte es innerlich rasend, dass sie es in ihrem jungen Alter schon so gut verstanden, ihre Bosheiten an mir auszulassen, ohne dass auch nur ein einziger Lehrer etwas davon bemerkte. Wann immer ich mich zu wehren versuchte, fiel das natürlich direkt dermaßen auf, dass ich es war, der den Tadel bekam. An diesem Tag kochte ich über. Schon als kleiner Junge war ich größer als die anderen Schüler, aber auch schüchterner.

Die Hänselei ging so weit, dass ich plötzlich von meinem Platz aufsprang, dabei meinen Tisch umwarf und meinen Stuhl packte. Bereits in diesem Augenblick suchten einige meiner in direkter Nähe sitzenden Mitschüler ihr Heil in der Flucht, riefen feige nach dem Lehrer, der sich prompt umdrehte und in mir eindeutig wieder den Unruhestifter erkannte, ganz gleich, was wirklich Ursache gewesen war.

Ich hob meinen Stuhl hoch und schleuderte ihn durch eines der Klassenfenster. Vereinzelt kreischten die anderen Kinder auf und rannten zur Tür unseres Klassenzimmers. Ich ergriff einen anderen Stuhl, der in hohem Bogen quer bis vor die Tafel flog, von wo sich unser Lehrer längst entfernt hatte und die anderen Kinder an der Klassentür beschützen wollte. Beschützen vor mir, dem bösen Monsterkind.

Es flogen weitere Stühle und ein paar Tische um oder durch den Raum, meine Stimme steigerte sich von einem wütenden Kampfgeschrei in ein verzweifeltes, krächzendes Kreischen; meinen Unmut über die Tatsache, dass ich mich tadeln lassen musste für meine Reaktion auf versteckte Hänselei und geheimen Spott, wollte ich die ganze Schule wissen lassen. Doch stattdessen wurde ich durch diesen Vorfall erst recht zum Klassenclown.

Als ich dort so stand, inmitten der Unordnung, die ich geschaffen hatte, wagte sich ein einziges Kind von der Tür fort und bahnte sich den Weg zu mir. Es war Lene, meine beste Freundin.

Ich war außer mir vor Zorn, hasste alle, die Lehrer, die Schüler, Lene, absolut jeden. Die Lehrer dafür, dass sie so blind waren, nichts zu bemerken und so dumm, nur das falsche zu bemerken. Die Schüler dafür, dass sie nicht von mir ablassen konnten, sondern mich permanent piesacken mussten. Und Lene dafür, dass sie von all dem wusste, aber mir nie half und auch nie den Mut hatte, zu einem Lehrer zu gehen und die ganze Sachlage aufzuklären.

Aber für diesen Moment, als sie zu mir kam, obwohl ich bereits meine Hand am nächsten Stuhl hatte, muss ich Lene einfach dankbar sein. Denn sie half mir, etwas Wichtiges zu erkennen.

Lene kam auf mich zu, Stück für Stück, sagte meinen Namen in ihrer sanften, weichen Stimme. Sie bat mich, aufzuhören. Sie forderte mich auf, mich zu beruhigen. Immer näher kam sie mir, bis sie schließlich direkt vor mir stand. Sie hatte Angst vor mir, panische Angst, denn das zeigten ihre Augen, die mir bis heute in Erinnerung geblieben sind. Ihre Stimme, die sonst so ruhig und verständnisvoll zu mir sprach, bebte, und ihre Schultern zitterten. Sie flehte mich an, ich solle doch bitte damit aufhören, und sagte mir, dass alles wieder gut werde.

Sie hatte leicht reden! Ihr selbst fehlte der Mut, den Mund gegenüber einem Lehrer aufzumachen, sie war der Liebling in vielen Klassen und wurde von vielen Schülern gemocht. Aber ich sollte mich beruhigen?

Dennoch – wie sie so vor mir stand, da wurde mir eines bewusst: Wir hatten uns sehr gern und sie würde mir niemals wehtun. Im Gegenteil, sie war das Risiko eingegangen, dass ich ihr wehtue, nur um mit mir zu sprechen. Um mich zu beruhigen. Ich merkte, wie gut mir ihr Vertrauen in diesem Moment tat. Hätte ich sie enttäuscht und weitergemacht, hätte ich sie womöglich verletzt oder selbst falls nicht, dann zumindest trotzdem als Freundin verloren.

Ich setzte mich auf den Stuhl, an dem noch immer meine Hand lag, und atmete durch. Die Wut war vorbei.

Heute habe ich zu Lene keinen Kontakt mehr; der endete, als ich die Grundschule verließ, in der ich sie kennengelernt hatte. Doch diese mutige Tat eines Grundschulmädchens hat dazu beigetragen, dass ich nicht zu dem Monster wurde, das du in mir heranzüchten wolltest.

Ein anderer Vorfall in derselben Grundschule ereignete sich mitten in einem kalten Winter. Dieses Ereignis führte kurzfristig zu einer Angst vor mir seitens der Lehrer und langfristig zu einem Rausschmiss aus der Grundschule und dem Wechsel zu einer anderen.

Die Straßen waren spiegelglatt, die Gehwege zumindest weiß. Der Eingang zum Pausenhof meiner Grundschule lag direkt an einer stark befahrenen Straße und ich machte mich gerade auf den Weg nach Hause. Wie damals für viele Schulkinder üblich, trug auch ich einen kantigen, großen und von Büchern schweren Ranzen auf dem Rücken. Kaum hatte ich das Tor nach draußen passiert und den Gehweg betreten, kamen mir sechs oder sieben andere Schüler hinterher und hielten mich auf. Umzingelten mich. Sie schubsten mich zwischen sich hin und her, immer näher an die Straße. Kontinuierlich fuhren dort Autos vorbei; es hätte der richtige Schubser zum richtigen Zeitpunkt gereicht, damit ich auf die Fahrbahn stolperte, ein Auto aufgrund des glatten Asphalts nicht rechtzeitig genug bremsen konnte und ich ein paar Etagen höher meine Hausaufgaben hätte machen können.

Mir dieser Gefahr schnell bewusst werdend, zog ich meinen Ranzen vom Rücken und packte ihn am Tragegriff. Als nächstes drehte ich mich mehrere Male schwungvoll im Kreis und erwischte alle Umstehenden, sodass sie es waren, die zu Boden gingen.

So weit, so gut. Das Dumme war nur, dass ich nicht mitbekommen hatte, wie plötzlich eine Lehrerin vom Pausenhof der Quelle des Lärmes vor dem Tor nachgehen wollte und zu uns gestoßen war, als ich mich gerade zu drehen begann …

Fortan hieß es, der dicke Florian greife sogar Lehrer an. Darum wurde ich letzten Endes auf eine andere Grundschule verlegt. In dieser Schule kam ich tatsächlich eine kurze Zeit lang klar, bis die Sache mit den Steinen passierte und mich beinahe meiner Männlichkeit beraubt hätte.

Weißt du, ich habe in meinem Leben schon viele Eltern kennenlernen dürfen und müssen. Gute und weniger gute, schlechte und richtig schlechte, böswillige und grauenvolle. Doch in keinem dieser Fälle ist mir eine Bestrafungsmethode wie deine begegnet. Ist dir eigentlich bewusst, dass selbst Bösewichter so etwas wie ein Gewissen haben, oder zumindest einen Ehrenkodex? Was entbindet dich also davon, dich ab und zu wie ein Mensch aufzuführen?

Ich habe als kleiner Junge dabei zusehen müssen, wie du deine Patienten gequält hast und dafür "Schwester Brutalia" genannt wurdest. Du hast mir unter Androhung von Schlägen immer den Mund verboten und ich nahm es stillschweigend hin. Was sollte ich auch machen? Wo hätte ich hingehen sollen? Es gab keinen Ort, an dem ich sicher gewesen wäre. Wann immer ich den Versuch unternahm, von zuhause fort zu laufen, weil ich spürte, dass ich weg musste, wusste ich irgendwann nicht mehr weiter und kehrte zu dir zurück, oder du hast mich finden lassen.

Aber wenn ich heute den Vorfall mit den Steinen erzähle, dann schütteln die Menschen fassungslos ihre Köpfe und fragen sich, wie eine Mutter so etwas ihrem eigenen Fleisch und Blut antun konnte.

Es begann damit, dass ich mutig wurde. Damit, dass ich intuitiv das Richtige tun wollte. Damit, dass es in der neuen Grundschule zur Pause geläutet hatte.

Ich lungerte auf dem Pausenhof herum und versuchte mich abzulenken. Ich hatte mir kein Buch von zuhause mitgenommen und hatte darum keine Beschäftigung, und mit den anderen Kindern wollte ich nicht spielen. Also lief ich ziellos umher und gelangte dabei hinter das Gebäude. Bereits aus einiger Entfernung hörte ich das Klackern von Stein auf Stein und das Wimmern, das sich mit hässlichem Lachen vermischte. Als ich um die Ecke trat, sah ich dort vier Jungs stehen, die kleine und größere Steine in Richtung Schulgebäude warfen. Doch sie wollten nicht die Mauer treffen.

An der Wand zusammengekauert bangte ein mir bekannter jüdischer Junge um sein Leben. Er hatte bereits einige blutende Wunden und zu seinen Füßen lagen zahlreiche Steine.

Einer der Jungs schickte mich fort, nannte mich "Specki“, und sie setzten ihre Werferei fort. Plötzlich wurde ich laut, schrie sie an und stellte mich zwischen den Judenjungen und die Werfer, sammelte blitzschnell die Steine auf und schmiss sie den entsetzten Jungs entgegen. Ich traf nicht besonders häufig, aber ich traf. Natürlich rannten sie davon wie der Blitz, und der Judenjunge stand mit meiner Hilfe auf, dankte mir und begann zu weinen.

Dem Schulrektor sagten wir nicht, wer die Werfer waren, denn der Judenjunge hatte furchtbare Angst, dass sie sich an ihm rächen würden. Doch solange ich auf dieser Schule blieb, kam es zu keinem Vorfall dieser Art mehr.

Stolz darauf, mich so heldenhaft eingesetzt zu haben, wollte ich meine Tat natürlich umgehend zuhause erzählen. Doch wie sollte ich damals, als kleiner Junge, denn wissen, was genau es bedeutet, wenn die eigene Mutter die NPD wählt? Wie konnte ich denn auch nur im entferntesten ahnen, wie du auf meine Heldentat reagieren würdest?

Ich werde wohl bis zu meinem Tod deine wütenden Augen nicht vergessen, als du nachfragtest, ob ich das ernst meine. Deinen harten Griff, als du mich ins Badezimmer zogst. Deine laute Stimme, als du mir befohlen hast, mich ausziehen. Deine hastigen Bewegungen, als du die lange, spitze Friseurschere aus einem Regal nahmst. Das metallische Geräusch, als du die Schere geöffnet hast und sie an meinem Gesicht hinunter bis hin zu meinen Genitalien führtest. Und als meine noch in Kinderschuhen steckende Männlichkeit in der geöffneten Schere lag, erklang deine Stimme erneut wie Donnerhall in meinen Ohren, dass ich mich gefälligst entschuldigen solle für das, was ich getan habe, weil du ihn sonst abschneiden würdest. Wie ich weinte und dich anflehte. Wie du weiter gedroht hast. Wie ich schließlich nachgab und mich entschuldigte. Wie ich dir versprechen musste, so etwas niemals wieder zu tun. Und das erleichternde Gefühl, als du die Schere, dieses lange, glänzende Monstrum, endlich wieder von mir wegnahmst.

Ich habe dir nie davon erzählt, aber ich habe mein Versprechen von damals bereits unzählige Male gebrochen. Freunde und Bekannte kennen und schätzen mich als jemanden, der seine Versprechen auf Gedeih und Verderb hält, und der Versprechen auch nur dann abgibt, wenn er genau weiß, dass er sie halten können wird.

Doch du zählst nicht. Wenn jedes Mal, bei dem ich einem Menschen helfen kann, mein dummes Versprechen von damals ein wenig mehr beseitigt werden kann, dann bin ich zufrieden.

Du warst den Stress mit mir bald leid. Ich wurde von der zweiten Grundschule geholt, weil ich natürlich auch dort bald als angriffslustiger Schüler galt. Dir wurde empfohlen, mich auf eine Sonderschule zu schicken, weil ich zu gefährlich für eine normale Schule sei und du deinen Job als Erziehungsberechtigte wohl auch nicht kompetent genug machen würdest. Wie recht sie damals doch hatten.

Mir kam es vor wie eine Aneinanderreihung zahlloser Jahre, in denen wir – wie schon so oft – umzogen und ich nicht zur Schule ging. Es war zugegeben eine schöne Zeit, in der ich mal nicht von irgendwelchen Mitschülern oder Lehrern unmenschlich behandelt wurde. Letztlich war es bloß ein einziger Sommer gewesen, doch kam er mir vor wie eine selige Ewigkeit.

Ohne es zu wissen, hast du mir mit deiner Faulheit einen Gefallen getan. Nein, wirklich. Die Sonderschule, auf die ich zuerst sollte, war dir zu weit weg von zuhause. Du hättest mich entweder jeden Tag hinfahren müssen oder aber sündhaft teure Fahrtickets bezahlen sollen. Beides war dir nicht recht, also kam nur noch die andere Sonderschule in Frage: Eine Schule, auf der ich so viele Höhen und Tiefen erleben sollte wie nie zuvor.

Liebe Mutter

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