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Kapitel 1 - Einleitung

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Blicke ich aus einem Fenster in den Sonnenaufgang, dann wird mir ganz anders. So seltsam, als stünde mir die Welt offen.

Gehe ich in der Innenstadt spazieren und sehe ein buntes Sommerkleid, dessen Saum im Wind weht, denke ich an die Siebziger und muss lächeln.

Höre ich das Lied Himbeereis zum Frühstück, sehe ich es als freundliche Aufforderung des Schicksals, mir dieses leckere Eis mit Himbeer-Panna Cotta wieder mal zu besorgen.

Wenn die Leute, die ich durchs Fenster sehe, die Passanten in der Innenstadt oder die anderen Kunden im Supermarkt lachen, streiten und plaudern, höre ich nur Worthülsen. Die mein Kopf irgendwie mit Emotionen, Assoziationen und möglichen Weiterführungen der Dialoge verbinden möchte. Was nicht immer gelingt.


So gehe ich oft durch die aktuelle Welt


Mein Tag endet so einseitig, wie er begonnen hat, und das ist wichtig. Denn einseitig heisst in meinem Fall: Strukturiert, geplant, hilfreich, aber immer auf dieselbe Weise. Zumindest versuche ich, dass es täglich dieselbe Weise bleibt.

Morgens lege ich meine Kopfhörer unter mein Kissen.

Wenn ich mich abends ins Bett lege, hole ich sie wieder darunter hervor und stöpsele sie mir in die Ohren, um wie an normalerweise jedem Abend mit selbst gewählter Berieselung einzuschlafen.

Dass das gleich bleibt, ist für mich sehr wichtig. Wie so vieles.

Wenn ich heute, mit Mitte 30, auf mein bisheriges Leben zurück blicke, kommt es mir nicht mehr rätselhaft vor, wie sich alles entwickelt hat. Niemand hatte es einfach mit mir. Ich selbst am wenigsten. Ich bin Rebell, Freiheitsdenker, Multikultibefürworter, Frauenfreund, Exraucher, Exfreund, Exstudent, Fleischesser, Teilzeitvegetarier, Jobhopper und seit Sommer 2018 nun auch psychologisch diagnostizierter Autist.

Seit meiner Diagnose scheint alles noch logischer und normaler zu werden. Davor bestand mein Leben aus einem ungeordneten Haufen, aus vielen verschiedenen Fäden, die alle für sich selbst existierten, ohne einen Sinn zu ergeben. Mit dem Fundament "Hej, ich bin Autist" fügten sich viele dieser Fäden zu einem sinnvollen Netzwerk zusammen, in dem ich mich relativ ungezwungen bewegen kann. Ein neuer, nicht endender Lernprozess hat begonnen. Ich habe bereits erfahren, dass kein Autist wie der andere ist. Jeder ist einzigartig. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Irgendwann, ich weiss die Quelle nicht mehr, habe ich mir folgende Beschreibung notiert und finde sie in aller Kürze recht passend:

''Autismus ist nicht trennbar von der Persönlichkeit eines autistischen Menschen. Autismus färbt jede Wahrnehmung. Autismus beeinflusst, wie jemand denkt, fühlt, versteht, reagiert und interagiert. Zu wünschen, der Autismus würde verschwinden, bedeutet, zu wünschen, die Person wäre jemand anderes.''


Selbstbewusst durch Haarfarbe und Bartwuchs


Ich stütze mich bei dem, was ich aufschreiben werde, auf das, was ich bereits weiss, und vor allem auf das, was ich über mich selbst weiss. Ich bin Autist, laut Diagnose nach früherer Einstufung ein so genannter Asperger, aber das sagt sowohl alles als auch gar nichts. Man könnte googeln, aber es gibt nicht die eine, starre Definition davon, außer auf Wikipedia, aber auch diese sehr gute Webseite ist nicht allwissend. Ich kann nur berichten, wie es in mir aussieht, wie ich mein Leben empfinde und wie ich die Welt wahrnehme. Vielleicht versteht jemand dort draußen anhand meiner Berichte etwas besser, was Autismus ist, oder Angehörige finden anhand meiner Ausführungen etwas mehr Zugang zu den Autisten in ihrem Umfeld.

Ich schließe nicht aus, dass dieses Buch auch von Autisten gelesen werden könnte, aber verspreche mir vor allem für Nichtautisten, die man im Fachjargon Neurotypische nennt, einen hohen Aufklärungswert.

Zunächst vorab: Das Bild des Autisten, wie Hollywood es zeichnet, ist nur ein pauschales Abbild. Wer bei Autisten an Filme wie "Rain Man" denkt und glaubt, so wären wir alle, der liegt falsch. Es gibt einen Spruch, den ich mir seit der Diagnose eingeprägt habe, und der trifft es wohl am besten: Wenn man einen Autisten kennt, dann kennt man wie viele Autisten? Genau. Diesen einen.

In "Rain Man" werden quasi die typischen Klischees eines Autisten in eine einzige Person projiziert. Er ist mathematisch hochbegabt, lässt sich nicht gerne anfassen, redet grundsätzlich wie ein Mensch mit geistigem Handicap, hat seine ganz bestimmten Abläufe und unumstößlichen Regeln und ist in mehreren Bereichen des Alltags betreuungsbedürftig.

Nun muss man wissen, dass längst nicht jeder Autist ein Genie in Mathe ist. Ich ebenfalls nicht. Auch gibt es solche, die mit Berührungen zurecht kommen oder diese sogar intensiver benötigen als andere. Manche können sich klar und deutlich artikulieren, können Smalltalk praktizieren oder Reden vor Publikum halten. Und einige bestreiten ihren Lebensunterhalt völlig alleine.



Bewerbung, toller Job, raus gemobbt


Die ASS, die Autismus-Spektrum-Störung, ist zum jetzigen Zeitpunkt (2019) der aktuelle Stand der Erforschung. Es gab vorher diverse Einstufungen wie meinen Asperger, der auch gerne als milde Form von Autismus bezeichnet wird, aber da die Grenzen der einzelnen Diagnosen des Öfteren fließend ineinander laufen, ist die ASS eine modernere Methode, die Wesensart Autismus zu umfassen.

Ich spreche bewusst von einer Wesensart, denn anders, als landläufige Meinungen es uns vorgaukeln, ist Autismus weder eine Erkrankung noch eine Behinderung, zumindest nach meinem persönlichen jetzigen Kenntnisstand. Das ist noch nicht in alle Köpfe vorgedrungen, aber es entwickelt sich. Viele benutzen auch jetzt noch die bisher gültigen Einstufungen wie frühkindlicher Autismus, atypischer Autismus oder Asperger-Syndrom, aber grundsätzlich beginnt man zu erkennen, dass die Stufen teilweise zu uneindeutig zu erkennen sind, weshalb die Klassifizierung als ASS mehr an Gewicht gewinnt.

Homosexualität wurde auch lange Zeit als Fehlentwicklung betrachtet, bis modernere Denkweisen hervor brachten, dass es eine ebensolche natürliche sexuelle Neigung ist wie die Heterosexualität. Dass Männer Männer lieben und Frauen Frauen, muss nicht geheilt werden, es muss anerkannt und toleriert, akzeptiert und verstanden werden. Mit Wesensarten bzw. Entwicklungsstörungen wie Autismus verhält es sich genau so. Wir müssen uns nicht in alten Denkmustern einschließen lassen, bloß weil diese einfacher zu denken sind. Die Welt entwickelt sich weiter, Wissenschaft und Forschung entdecken mehr, die Aufklärung sorgt für erweitertes Wissen. Ein Autist muss kein unnahbares Wesen bleiben, das angeblich der Heilung bedarf (im Übrigen kann Autismus nicht geheilt werden, da es eben - auch nach der Auffassung vieler Fachleute - keine Erkrankung ist). Wir müssen nur verstanden und akzeptiert werden.

Das IT-Unternehmen Auticon, das ausschließlich Autisten als IT-Consultants beschäftigt, formuliert es, wie ich finde, sehr schön:

''Autismus ist kein Systemfehler, sondern ein anderes Betriebssystem.''



Ich liebe Winter sogar dann


Es wird viele überraschen, die dieses Buch lesen, aber tatsächlich bin ich verlobt. Als Autist, noch dazu mit meinen individuellen Eigenarten und Bedürfnissen, ist es mir dennoch möglich, soziale Interaktionen zu unternehmen. Ich nehme alles intensiver wahr, mit allen Sinnen. Berührungen sind für mich ein Muss. Das ist gut und erfreulich für meine Partnerin, teilweise aber auch anstrengend, wie so vieles an mir anstrengend sein kann. Geht man nach der Einstufung Asperger, die auf mich zutreffen würde, dann ist dieser Mix aus Komplikationen und "normalem" Leben nicht ungewöhnlich, da ein Asperger sich in manchen Dingen signifikant von anderen Autismusformen unterscheiden kann. Aber wie bereits erwähnt, gibt es eben nicht DEN Menschen, DEN Autisten oder DEN Asperger, sondern die Grenzen sind fließend und so neblig, dass die allgemeine Klassifizierung ASS deutlich besser passt.

Bevor ich aber zu meinem jetzigen Alltag und meinen ersten Schritten als diagnostizierter Autist komme, gehe ich auf Fragen ein, die manchem Leser durch den Kopf gehen dürften: Wie haben denn die Eltern des Autors auf die Diagnose reagiert? Haben sie gesagt, dass sie es immer gewusst haben? Oder waren sie etwa geschockt?

Nun, um ehrlich zu sein, sie wissen nichts davon. Sie erfahren es frühestens mit der Lektüre dieses Buches. Denn für mein Verständnis habe ich keine Eltern. Ich habe einen Erzeuger und eine Erzeugerin. Aber den Begriff Eltern kann ich leider nicht im wahrheitsgemäßen Kontext nutzen.

Aufgezogen hat mich nur sie, und auch wenn ich anhand meiner Diagnose glauben will, dass es für sie nicht immer einfach mit mir war, so war ihr Umgang mit mir alles andere als kindgerecht oder pädagogisch zu bezeichnen.

Sie hat gerne Puzzles zusammengesetzt. Das ist eines der harmloseren Details im Leben mit meiner Erzeugerin, an das ich mich wertfrei erinnere.

Ich nenne sie meine Erzeugerin, weil nach meinen faktischen Weltvorstellungen nur Frauen die Bezeichnung Mutter verdient haben, die sich ausreichend und angemessen um ihr Kind kümmern, sogar dann, wenn sie es nicht selbst zur Welt gebracht haben. (Oder, wenn sie merken, dass sie sich nicht angemessen kümmern können, sollten sie es lieber zur Adoption frei geben.) Gemessen an dem, was mich das Leben gelehrt hat, hat meine Erzeugerin das definitiv nicht ansatzweise geschafft. Darum bin ich zwar begrifflich nicht ohne Mutter aufgewachsen, aber als Erwachsener muss ich reflektieren und sagen, dass die Momente, in denen sie so etwas wie meine Mutter war, nicht ausreichen, um ihr diesen Namen in vollem Umfang zu gewähren. Als meine Mutter bezeichne ich sie nur im Small Talk, meist mit unbekannten Menschen, und auch nur dann, wenn ich gerade ein sozusagen vereinfachtes Gespräch führen möchte. Wie Sie noch erfahren werden, gibt es mit mir kein einfaches Gespräch.

Ich bin davon überzeugt, dass sie sich ehrlich bemüht hat. Ihre Motivation mag nicht konform mit meinen heutigen Weltvorstellungen sein, aber sie hat auf ihre Weise versucht, mir eine Mutter zu sein. Nur, dass sie es nie geschafft hat. Das lag rückblickend betrachtet nicht allein an ihr, denn ein autistisches Kind zu haben, ohne zu wissen, dass es autistisch ist, ist unglaublich anstrengend. In meinem Diagnosegespräch wurde festgestellt, dass man zwar nicht sicher sagen kann, ob ich frühkindlichen Autismus hatte, aber dass die Vermutung sehr nahe läge, basierend darauf, mit welchen auffälligen Problemen ich bereits als Kind zu kämpfen hatte.

Wie lässt sich Autismus überhaupt diagnostizieren? Zu oft wurde und wird bei einem auffälligen Kind die Diagnose ADHS gestellt, also Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität. Diese Kinder erhalten dann jedoch eine völlig andere Behandlung, die ihrem Wesen als Autist möglicherweise widerspricht und alles nur schlimmer machen könnte. Das liegt unter anderem auch daran, dass sich diverse Symptome von ADHS oder auch ADS mit denen einer ASS vergleichen lassen. Aber es gibt heutzutage ein paar Möglichkeiten, Autismus feststellen zu lassen.


Sonnenschein und Musik und überhaupt


Diese Möglichkeiten ergeben sich danach, aus welchem Grund man sich eine Diagnose wünscht.

Benötigt man finanzielle Unterstützung, fachliche Betreuung oder hat generell extreme Probleme damit, alltägliche und berufliche Situationen selbstständig zu meistern, dann wird eine ärztliche Diagnose empfohlen, die schriftlich festgehalten und bei diversen Behörden und sogar Arbeitgebern vorgelegt werden kann, um Hilfe und eventuelle Leistungen zu erhalten.

Ist man aber in der Lage, grundsätzliche Aufgaben im Alltags-, Haushalts- und Berufsleben alleine zu bewältigen, und man möchte einfach nur Gewissheit haben, für sich und für Angehörige, um anhand der gängigen Methoden einfacher leben zu können und mehr Verständnis für das eigene Handeln aufzubauen, dann kann es ausreichen, ein Gespräch mit einem auf Autismus spezialisierten Therapeuten und/oder Psychologen zu führen. In diesem Gespräch werden dann Fragen über die eigene Vergangenheit näher erörtert, über das Alltagsleben und wie man es empfindet, über die Wahrnehmung des Umfeldes und welche Probleme man mit sich und dem Rest der Welt hat. Entweder ergibt sich durch das Gespräch, dass man keinen Autismus hat, sondern wird zu einem anderen Fachmann geschickt, oder man kommt zu dem Schluss, dass es sich halbwegs oder sogar relativ eindeutig um Autismus handelt, und erhält dann erste Tipps für das weitere Umgehen mit der Diagnose.

Was ist mein aktueller Stand? Ich befinde mich nicht in Therapie. Damit ich diese Leistung erhalte, wäre die ärztliche Diagnose nötig und nicht nur, wie bei mir, die psychologische. Stattdessen leben meine Verlobte und ich unser Leben weitestgehend selbstständig, was mal besser und mal schlechter klappt. Ich fühle mich wohl in der Routine. Jede Abweichung innerhalb meiner Routine oder meiner Pläne kann mich schwer beeinflussen. Änderungen in letzter Sekunde können für mich manchmal die härteste Herausforderung sein.

Sollten Sie das Bild erhalten haben, dass die Diagnose unser Leben sehr erleichtert hat, dann irren Sie sich. Insgesamt und in Einzelfällen auf jeden Fall, wenn man die nackten Fakten betrachtet. Aber in einer Einzelsituation ist es manchmal umso schwerer, solange sie besteht, da zwar ich für meinen Teil mehr von mir zu verstehen beginne, aber das trotzdem nur selten an meine Partnerin so weiterleiten kann, dass es für sie ebenso verständlich ist wie für mich. Man könnte also beinahe sagen, mein Wesen entgleitet ihr immer ein Stück mehr. Aber gleichzeitig stimmt das nicht, da sie sich mit der Zeit auch immer mal etwas mehr an einen Teil von meinem Wesen gewöhnt. Nie so ganz, aber eben doch so, dass es zur Gesamtharmonie etwas beiträgt. Für die einzelne Situation trübt es den Frieden zwischen uns, wenn es zum Beispiel zum Streit kommt. Einzeln und für sich bewertet gibt es noch oft Streit. Aber wenn man unsere Allgemeinstimmung vorher kannte und sie jetzt beobachtet, kann man eine deutliche Verbesserung feststellen. Unsere Liebe hat sich verbessert, unser Umgang miteinander, unsere Streitkultur. Insofern hat sich auch die Lebensqualität verbessert, alles dank dieser einen Diagnose.


Einfach mal wandern ohne Ziel



Licht, Lachen und lauter Liebe



Süße Abiturzeit


Da es sich eben um keine Erkrankung im klassischen Sinne handelt, kann bei einem Autisten, der z.B. kein offensichtlicher "Rain Man" ist, auch keine 100% eindeutige Diagnose gestellt werden. Das ist aber weitläufig anerkannt und legitim. Während manche Ärzte sich genügend auf dem Gebiet auskennen und die Diagnose Autismus klar stellen können, gibt es auch solche Ärzte, die die eigentliche Diagnose verpassen und eine falsche Richtung einschlagen, womit sie das künftige Leben ihres Patienten fatal beeinflussen. Eine ärztliche Diagnose kann also negativ prägender sein, wenn man tatsächlich Autist ist und entsprechende Handlungen nötig wären, aber aufgrund einer falschen Diagnose andere Handlungen plant, die möglicherweise kontraproduktiv für den eigenen Autismus sind.

In meinem Fall kam nach drei Stunden psychologischem Gespräch die erlösende Aussage, mein Autismus sei relativ eindeutig. Relativ im Sinne: In Relation zu den Auffälligkeiten und wie diese miteinander im selben Menschen existieren und sich auf mich und mein Umfeld auswirken. Oder kurz gesagt: Ich bin Autist.

Meine Verlobte und ich hatten beschlossen, gemeinsam zu dem Gesprächstermin zu gehen, denn aufgrund ihrer Vorbildung hatte sie ein gewisses psychologisches Auge für meine Auffälligkeiten. Die Spekulation, ich könnte zumindest autistische Züge haben (manche Experten leugnen, dass diese überhaupt bei irgendwem klar nachweisbar sind), war immer mal wieder angesprochen worden, doch irgendwann wagten wir den Schritt.

Ich hatte im Gespräch viel zu erzählen, aber auch meine Liebste konnte aus ihren Erfahrungen mit mir berichten. Manche Schilderungen, die ich über meine Vergangenheit zu erzählen hatte, durchlebte ich so intensiv, dass ich einen kurzzeitigen Heulkrampf erlitt. Ich weinte, aber es tat gut.

Nach drei ewigen Stunden, in denen wir uns viele Notizen gemacht hatten, um erstes Rüstzeug im Umgang mit meinem Autismus zur Verfügung zu haben, stellte meine Verlobte dann die eine Frage: "Kann man jetzt also sagen, dass es Autismus ist?" Und die Antwort "Es ist relativ eindeutig, ja." sowie einige Tipps und Ratschläge öffneten mir und damit uns ungeahnte Türen zu meinem Selbst. Wir wissen seitdem, womit wir es zu tun haben, was das Verständnis grundsätzlich einfacher macht, aber die Probleme haben nicht schlagartig aufgehört. Das werden sie nie. Es wird mit der Zeit nur einfacher werden, routinierter. Privat, im Familien- und Beziehungsleben, aber auch im Schul- und später im Arbeitsalltag gab es wiederholt Probleme, die auf den Autismus zurück zu führen sind, aber nichts davon war bisher so gravierend, dass eine ärztliche Diagnose von Nöten gewesen wäre.

Um weiteren Problemen im Alltag möglicherweise vorbeugen zu können, wurde mir mittlerweile empfohlen, eine ärztliche Diagnose folgen zu lassen, mit der ich weitere Angebote für Autisten in Anspruch nehmen könnte. Tatsächlich zögere ich aber noch mit der Umsetzung, nicht nur, weil die Fahrt zu dem betreffenden Arzt Geld kosten wird, sondern auch, weil die Fahrt sich als nutzlos erweisen könnte, falls der Arzt die richtige Diagnose nicht stellen sollte. Denn es gibt wie gesagt Ärzte, die trotz offensichtlicher Merkmale eine falsche Diagnose stellen, weil sie nicht über genügend Erfahrung auf dem Gebiet verfügen. Bei Erscheinen dieses Buches werde ich noch keine Entscheidung getroffen haben, aber es eilt auch nicht, denn ich bin nicht sterbenskrank.

Auf die Frage "Ist Autismus heilbar?" gibt es zum jetzigen Zeitpunkt, wenn dieses Buch erscheint, noch keine eindeutige Antwort. Zwar haben sich diverse Leute daran versucht, eine mögliche Heilung zu finden, und man findet bestimmt auch Fachliteratur zum Thema, aber es stellt sich ohnehin die Frage, wie etwas geheilt werden soll, das nicht einstimmig als Krankheit klassifiziert werden konnte.

Es darf zur Zeit angenommen werden, dass Autismus in etwa so wahrscheinlich heilbar ist wie Homosexualität, nämlich überhaupt nicht, und dass die Allgemeinheit sich schlicht und ergreifend damit zurecht finden muss. Zumindest, und das ist ein höchst ermutigender Gedanke, nimmt Autismus keinen tödlichen Verlauf, weshalb es mit einem Heilmittel auch ganz sicher nicht dringend ist.

Sie werden bei der Lektüre dieses Buches auf manche Wiederholung stoßen. Mündlich bin ich darin noch schlimmer als schriftlich. Doch auch das ist Teil meines Wesens.

Über das Wesen zu sprechen, ist unvermeidbar, denn Autismus ist wie bereits erwähnt nach aktuellen Erkenntnissen weder eine Behinderung noch eine Erkrankung, sondern eine Wesens- bzw. Entwicklungsstörung. Es gilt als typisch, dass wir sowohl mit sozialer Kommunikation als auch mit sozialer Interaktion erhebliche Schwierigkeiten haben, und so ist das auch für mich. Das bedeutet in meinem Fall, dass ich zwar Unterhaltungen führen kann und zum Beispiel auch auf einem Festival tanzen kann, aber mir in jeder denkbaren Situation nicht sicher sein kann, was mein Gegenüber gerade empfindet. Ich bin fast blind für Mimik und Gestik und fast taub für verschiedene Nuancen im Tonfall. Ich kann all das nur erraten und mir allenfalls über bisherige Erfahrungen herleiten. Mein Alltag ist regelmäßig voll von Missverständnissen.



Dark Wave und Electro


Im Handel finden Sie zahlreiche Bücher zum Thema Autismus, häufig über autistische Kinder. Man könnte fast den Eindruck gewinnen, autistische Kinder sterben, ehe sie erwachsen werden können. Aber in Wahrheit finden sich einfach deutlich mehr Bücher über das Schicksal der Kinder. Dennoch nutze ich die Gelegenheit, um es hier und jetzt ganz unmissverständlich zu sagen: Autistische Kinder sind nicht automatisch mit der Volljährigkeit befreit, sondern viele tragen den Autismus ins Erwachsenenalter weiter, und so gibt es unwahrscheinlich viele Erwachsene, die entweder diagnostiziert oder auch nicht diagnostiziert ihren Alltag leben und erleben und sich irgendwie durch ihr ganz spezielles Leben kämpfen.

Wenn Sie selbst Angehöriger eines Autisten sind, werden Sie nicht das eine Buch finden, das Ihnen sämtliche Antworten auf Ihre Fragen gibt. Weil jeder Autist anders ist, bleibt Ihnen wohl kaum etwas anderes übrig, als sich in das Thema einzulesen und von verschiedenen Fällen die Eigenheiten auszusuchen, die in Ihrer Situation ähnlich vorkommen und entsprechend damit umzugehen lernen. Vielleicht gibt es in Ihrem Ort eine Selbsthilfegruppe für Angehörige oder ein Autismus-Therapie-Zentrum. Erkundigen Sie sich danach und unterhalten Sie sich mit anderen Angehörigen, ggf. gibt es online ein entsprechendes Forum. Was auch immer Sie machen, man wird mit dem Thema nicht halb so alleine gelassen, wie es manchmal den Eindruck macht.

In diesem Buch werde ich die Eingrenzungen "viele Autisten", "manche Autisten", "einige Autisten" u.ä. verwenden. Dies dient dazu, die ungefähr geschätzte Menge einer betroffenen Gruppe für Sie etwas anschaulicher zu machen. Bei der Einschätzung beziehe ich mich auf Erfahrungswerte, geführte Gespräche sowie gelesene Artikel zum Thema. Diese Vorgehensweise ist bereits eines der Probleme, mit denen man als Autist zu tun haben kann.



Spaßvogel im Partymodus



Verspielt in Köln – ein durchlebter Tag

Konserviere meine Erinnerungen, Schatz

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