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KAPITEL ZWEI DER KILLERKEILER
ОглавлениеIm Dorf gab es eine, die einen kannte, dessen Cousin mit einem Kriminalkommissar verwandt war. Das war weit genug weg von der Polizei, um Folgen zu haben, wie etwa eine offizielle Ermittlung, aber auch nah genug dran, dass vielleicht noch ein wenig Expertise hängen geblieben war, was in einem solchen Fall zu tun war. Den Mann brauchte das Dorf jetzt.
Vorher musste Fred Kühne noch die mobile Klimaanlage aus dem Hotel holen und in die alte Kneipe bringen. Eva Scharf, die resolute Witwe von Alfons Scharf, holte sie aus einem der oberen Räume, in denen es im Sommer immer besonders heiß war. Es waren zwar alle Zimmer vermietet oder vorbestellt, aber sie erwartete noch einen Gast aus Afrika. Der würde wohl auch ohne Klimaanlage auskommen, dachte sie. Außerdem war ja erst Mai und noch nicht Sommer, auch wenn es schon genauso heiß war.
Fred schleppte das Ding mit ihr zusammen über die Straße. Sie stellten es neben der hohen Theke im alten Gastraum ab. Zwar waren alle Fenster mit Brettern vernagelt, aber sicher war sicher. Eva Scharf, die schon manche Gans von innen gesehen hatte, staunte kaum über den schönen Toten. »Wenn den einer umgelegt hat, war das aber nicht sehr fachmännisch«, fachsimpelte sie. »Kuck dir mal den Schnitt da am Bein an. Das ist doch nicht sauber. So macht man das nicht. Ich zum Beispiel hätte den eher am Hals abgestochen. Aus unserem Dorf war das bestimmt keiner, die schlachten doch alle selbst und wissen, wie das geht.«
Die beiden schleppten den Verblichenen vom alten Saal in die Kneipe und legten ihn an den zweitschönsten Platz. Hinter die Theke.
»Ich muss wieder rüber«, Eva Scharf wischte sich die leicht blutigen Hände an der Schürze ab. »Da wollen noch einige Frühstück.«
»Ich eigentlich auch, höchste Eisenbahn sogar«, antwortete Fred Kühne. »Erst habe ich aber noch was zu erledigen.«
Er wollte natürlich den Mann mit der Teilexpertise als Kriminalist finden. Er hatte nur keine Ahnung, wo der Kerl stecken konnte. Andererseits kannte Fred seine Tatort-Sendungen aus dem Fernsehen. Ein Arzt musste auch her. Natürlich kein offizieller, kein Amtsarzt, der hätten so einen Todesfall ja melden müssen. Das war schon arg blöd, so ein Toter auf einem so großen Fest!
Ihm fiel Soraya Lustig ein. Die blonde, von Lachfalten übersäte Tierarztassistentin, deren Mutter früher Fan vom Schah von Persien gewesen war. Hatte die nicht auch Medizin oder zumindest Anatomie gelernt? Er sah die hübsche Frau noch vor sich, wie sie einen Arm bis zur Schulter in seiner notleidenden Kuh stecken hatte, die nicht kalben wollte. Soraya hatte das hinbekommen, das Kalb lief jetzt ein paar Weiden weiter seiner Mutter hinterher, zum Wohlgefallen aller Kinder, deren Eltern den Töpfermarkt besuchten und in der Feldmark spazieren gingen. Wer Ahnung vom Leben hatte, dachte Fred, den konnte der Tod nicht schrecken.
Es waren auch nur ein paar Meter. Soraya war aber nicht zu Haus, nur ihr Hund bellte ihn an, als ob er, Fred, den Toten auf dem Gewissen hätte. Roch er etwa nach Leiche? Dann musste er noch mal duschen und sich die Hände abschrubben, bevor es ans Backen ging.
Dann sah er die Tierkundige ein paar Meter weiter auf einem Hof stehen, auf dem gerade der Sonntagsgottesdienst lief. Erstaunlich viele Kinder nahmen daran teil. Wie Fred wusste, waren die nicht der frohen Botschaft wegen dort, sondern weil danach der Kinderzirkus auf demselben Hof beginnen würde. Viele waren aus dem Ort selbst. Anders als in vielen anderen Dörfer wurden hier noch regelmäßig welche geboren und blieben später weiterhin im Dorf. Fred fragte sich, woran das wohl lag. Waren die Leute hier fruchtbarer? Gut genährt sahen sie auch alle aus. Kein Wunder, bei seinen Puffern. Das musste es sein.
Fred war es wurst, was sich im Zirkus tat. Er marschierte hinüber und tippte Soraya auf die Schulter. »Ich brauch dich mal ganz dringend. Komm einfach mit, frag nicht«, empfahl er ihr.
»Luna?«, fragte sie und sah ihn mit ihren hellen blauen Augen an. »Oder Marina?« So hieß das Kalb, dem sie ins Leben verholfen hatte. Und das die Landkarte des Landkreises auf dem Fell hatte. Ungefähr jedenfalls.
Fred Kühne schüttelte nur den Kopf. »Komm einfach. Du wirst schon sehen.«
Als die Tierarztassistentin hinter die alte Theke blickte und des im Luftstrom abkühlenden Leichnams ansichtig wurde, legte sie ihre ansonsten glatte Stirn in Falten. »Das ist ja ein Mensch«, beobachtete sie. »Und dem kann ich wohl kaum noch helfen. Der sieht irgendwie so tot aus?«
»Du bist die Einzige, die das hier beurteilen kann«, fand Fred. »Die Polizei oder einen Arzt dürfen wir nicht rufen, wenn der Markt weitergehen soll, das verstehst du doch, oder?«
Soraya nickte so bedächtig wie ihr königliches Namensvorbild. »Aber einen Totenschein kriegst du nicht von mir, damit das gleich mal klar ist, Fred.«
»Vielleicht lebt er ja noch«, machte der einen letzten Versuch, sie zu einer Art Leichenschau zu bewegen.
Die junge Frau trat näher und kniete vor dem Toten nieder. »Schöner Mann«, fand sie. »Schade drum, nicht?« Sie sah Fred strahlend an. Der verzog keine Miene, er stand nicht auf Männer, und so wandte Soraya sich dem Corpus wieder zu und hielt Händchen mit dem schönen Toten. Eine ganze Weile lang. »Also, einen Puls fühle ich da nicht«, stellte sie fest.
Bei ihren Tieren hätte sie jetzt die Schnauze aufgeklappt und hineingesehen. Das schickte sich bei einem, der wie Brad Pitt aussah, irgendwie nicht. Stattdessen zog sie ein Augenlid hoch. »Tut sich nichts«, beobachtete sie. »Die Pupille ist total entspannt und zieht sich nicht zusammen. Ich glaube, der ist tot.«
»Und woran?« Fred wollte es jetzt genau wissen.
»Hm. Wohl nicht an einer Kolik oder Staupe.« Sie sah sich die Bisse an Arm und Bein und den Hals an. »Irgendwas scheint ihn gebissen zu haben. Oder gestochen. Oder beides. Tollwut dauert aber drei Wochen, bevor man tot ist. An dem Biss ist er jedenfalls nicht verblutet.«
Sie hatte sich inzwischen bis zum Kopf hochgearbeitet. »Hat wohl ordentlich eins übergezogen bekommen. Gab es gestern nicht spät abends noch ein Handgemenge?«
Davon wusste Fred nichts. Er war früh ins Bett gegangen, um eins, um morgens alles zum Backen vorzubereiten und zu sehen, ob im Café Kühne, das nur zu Feierlichkeiten geöffnet hatte, alles in Ordnung war.
Die jüngere Frau besah sich den Kopf genauer. Die Tonscherbe steckte trotz des Transportes durch Fred Kühne immer noch fest im Kopf des Opfers. Sie trat auf die andere Seite, zog ein Tempotaschentuch aus ihrer Handtasche und griff damit zu. Die Scherbe saß fest. Sie ruckelte ein wenig hin und her, bis die Scherbe auseinanderbrach und sie das größere Bruchstück in der Hand hielt. Aus der Wunde trat jetzt Blut aus, in einem kleinen Rinnsal. Es musste sich hinter dem Tonstück gestaut haben, dachte sie.
»Was soll ich jetzt hiermit machen?«, fragte sie Fred Kühne.
Der sah sich das Teil aus der Distanz an. »Gib es Hermann oder seinem Sohn Lars, die kennen sich mit so etwas aus«, schlug er vor.
Soraya trat zurück von der Leiche.
»Also, der ist tot, damit du’s weißt«, bemerkte sie. »Ich muss jetzt wieder, die Kirche ist gleich aus, mein Kleiner will in den Zirkus.« Das sorgsam eingewickelte Bruchstück stopfte sie in ihre Handtasche.
Ihr Kleiner war etwas über zwanzig und zwei Köpfe größer als sie und hatte selbst bereits ein Söhnchen. Das verstand zwar im Zirkus nichts, gab dem jungen Vater aber einen guten Anlass, mal wieder Zirkusluft schnuppern zu dürfen. Der jungen Oma war das von Anfang an klar gewesen.
Fred Kühne schloss die Tür zur alten Flüsterecke. Jetzt musste jemand rausfinden, was passiert war. Ob es ein Unfall war oder ob tatsächlich jemand Brad Pitt eins mit einer teuren Vase übergezogen hatte. Was sehr schlimm gewesen wäre. Denn die Vasen auf dem Markt waren ziemlich einmalig und immer ein großer Verlust, wenn sie kaputtgingen. Es war zwar mal ein Japaner da gewesen, der kaputte Vasen mit einer Goldpaste wieder geklebt hatte und sie dann für fünfstellige Beträge verkauft hatte. Allerdings war das nicht hier im Dorf gewesen, sondern außerhalb, fiel Fred Kühne ein. In Japan oder so. Das Dorf brauchte dringend einen, der das auch konnte.
Wo steckte das Mädel mit den Kontakten bloß? Er suchte nach einer jungen Studentin aus Nörten-Hardenberg, die ein paarmal die Woche in den Ort war, um bei einem Biobauern einzukaufen. Zita de Havilland, nicht verwandt oder verschwägert mit dem Flugzeug oder der Schauspielerin. Sie hatte einen Freund aus dem Nachbardorf Behrensen, das praktisch zum Ort Großenrode dazugehörte wie die Gallenblase zur Leber.
In den Fehden nach der Reformation hatte der Ort nur einen Steinwurf entfernt gelegen. Großenrode war protestantisch gewesen. Als die verschiedenen katholischen Heerscharen gekommen waren, aus Einbeck, Braunschweig oder Mainz, um in Großenrode ordentlich zu plündern und zu brandschatzen, was damals groß in Mode gewesen war, hatten sie Behrensen aus praktischen Gründen immer gleich mit abgefackelt. Wenn es doch schon einmal so schön brannte, man wollte ja nicht umsonst gekommen sein. Bis die Behrenser die Nase voll und ihren Ort verlegt hatten.
Wiedergefunden hatten sie ihn anschließend immerhin, dachte Fred. All das tat jetzt aber nichts zur Sache. Er brauchte entweder Zita oder ihren Freund, Maximilian Schuster. Soweit er wusste, kannte der einen Polizeischüler namens Alexander Jansen aus Hannoversch Münden. Und der hatte einen Kommissar als Cousin. Oder Alexander war sein Cousin und der kannte einen Polizeischüler. Jedenfalls kannte einer einen, der Bescheid wusste.
Nur dass er keinen Einzigen von dieser Truppe finden konnte. Das störte ihn.
Fred ging zurück zu seinem Hof. Puffer waren jetzt wichtiger als Leichen, solange die gut gekühlt blieben. Wie der Pufferteig, der durfte jetzt auch nicht zu warm werden. Sein Sohn lief gerade zu einem Stand, an dem es bereits kühles Bier gab. Fred nahm ihn beiseite.
»Finn, du suchst jetzt mal nach Zita, Max oder Alex. Du kennst die doch, oder?« Finn grinste. Auf Zita war er schon immer scharf gewesen, hatte aber nie einen Stich gekriegt. »Klar. Herholen?«
»So sicher wie das Amen vor dem Zirkus«, grinste Fred. »So was von.«
* * *
Alexander Jansen hatte sich nur ein paar Meter von Fred Kühne entfernt an einem Stand aufgehalten, auf dem Hof der Brenneckes, dem Epizentrum des keramischen Bebens, das an diesem Wochenende durchs Leinetal lief. Max und Zita hatte er noch nicht gefunden, sah sie dann aber vor einem Trafohäuschen stehen, wo ein Stand eines Naturschutzverbandes friedlich neben einem der Jägerschaft stand. Sie sprachen mit einem Falkner und versuchten ihn zu überreden, seinen Jagdfalken auf die Hühner des Biobauern loszulassen. Jedenfalls las Alex ihre Gesten von Weitem so.
Als er näherkam, ging es doch um etwas anderes. Hinter den Ständen erhob sich ein Schwalbenturm, den die lokale Initiative gebaut hatte, und die Traube vor den Ständen stritt sich gerade darum, ob ein Wanderfalke eine Mehlschwalbe im Flug erbeuten konnte oder nicht. Und ob er das überhaupt wollte, wo ihm doch Tauben lieber waren.
Zita verleibte sich gerade Kekse in Schwalbenform ein, die am Stand der Naturschützer verkauft wurden, zur Finanzierung der Nester dahinter.
Die drei begrüßten sich mit High Fives und einem komplizierten Ritual mit den Fingerknöcheln, Ellenbogen und Ohren. »Ist das etwa ein Balztanz?«, fragte der knittrige NABU-Mensch und Vogelfreund hinter dem Tisch. Nico Bernstein, der erst seit einem Jahr mit seiner Frau im Ort lebte und eigentlich noch überhaupt nicht dazugehörte. Die drei ignorierten ihn.
Der Falkner packte seinen Falken wieder weg, die Traube löste sich auf.
»Mann, das ist ja der Brüller!«, rief Maximilian Schuster, der ein interessantes Buch auf dem Tisch vor sich entdeckt hatte.
»Psssst!«, flüsterte Zita, die gerade einem stämmigen Mann nachsah und nicht kapiert hatte, dass Max etwas anderes gemeint hatte. »Das ist doch Stefan die Stimme. Lass ihn das bloß nicht hören!«
Max folgte ihrem Blick und sah dem kräftigen Mann hinterher, der gerade in Richtung Thie marschierte, dem Dorfplatz. Vor sich hin grinsend, als ob er einen Plan hätte.
»Ich meinte das Buch hier«, entschuldigte sich Max. »Schaut mal. ›Der Tote vom Töpfermarkt‹. Sieht ganz so aus, als ob das genau hier spielen würde.«
Er nahm den dünnen Band in die Hand und blätterte darin herum. »Kuck mal«, er zeigte Alex eine aufgeschlagene Seite. »Hier kommt sogar einer namens Jansen vor. Der heißt sogar wie du, Alex.«
Der nahm ihm das Buch aus der Hand. »Tatsächlich. Was es nicht alles gibt!«
Er gab das Buch zurück und telefonierte. Max blätterte weiter. »Hier kommt ja das halbe Dorf drin vor.« Er klemmte sich das Buch unter den Arm. »Was kostet das?«
Ist ja spottbillig, dachte er, als er den Preis hörte. Hätte ich an seiner Stelle viel teurer verkauft. »Okay. Dann nehme ich zwei«, kündigte er an und bezahlte. »Eins für deinen Cousin, der liest doch auch Krimis, oder? Ist der nicht sogar bei der Kripo?«
Alex hörte kaum zu, nickte aber. Ja, ja. Stimmt schon.
Max blätterte weiter und zupfte den immer noch telefonierenden Alex mit der freien Hand am Ärmel. »Das sieht spannend aus. Werde ich mir morgen gleich reinziehen, Alter.«
»Schade, dass bei uns hier nicht wirklich solche Sachen passieren«, meinte Zita. »Klar, der Markt ist klasse, so was gibt es doch in Deutschland nicht zweimal, aber Mord und Totschlag gibt es bei uns dann Gott sei Dank doch nicht.«
»Na, ich finde das eher gut«, sagte Max. »Also, wenn hier ein Mörder frei rumlaufen würde – nee! Nix für mich!«
»Komm, du kannst das auch später noch lesen«, sagte Alex. »Lass uns erst mal zu dem Haus da hinten gehen, okay? Das hat irgendwas mit Novalis zu tun.«
Er hatte das vor dem Marktbesuch auf einer Internet-Seite gefunden. Der Ort hatte zu einem Zweig der Hardenberger Grafen gehört und hatte eine Zeit lang sogar Novalis geheißen, was so etwas wie das neue Dorf bedeutet hatte. Es war eine Rodung der riesigen Wälder gewesen, die damals das Leinetal bedeckt hatten. Der Dichter, Friedrich von Hardenberg, war ein Nachfolger der Besitzer des Ortes gewesen, auch wenn er woanders geboren worden war und auch nie mehr hergekommen war. Dennoch wurde er immer wieder mit diesem Ort in Verbindung gebracht. Alex hatte ihn vorher nur als Dichter gekannt, der auf der Suche nach der blauen Blume der Romantik gewesen war. Jetzt wollte er sich das Gutshaus ansehen, das die Vorfahren des Dichters beherbergt hatte. Auf diese Weise waren Alex, Zita und Max der Suche von Finn und Sophia nach ihnen entgangen.
Den Weg an die Theke der alten Kneipe hatte inzwischen Auguste das Auge gefunden. Die ältere Dame, die ihren Spitznamen ihrer Fähigkeit verdankte, sich nichts im Dorfe entgehen zu lassen und alles zu wissen, was streng geheim, wichtig, unwichtig oder völlig uninteressant war. Auguste das Auge wusste alles. Insgeheim hoffte sie immer, dass der Ort oder zumindest der Landkreis einmal ein Thema bei »Wer wird Millionär?« werden würde. Dann würde sie dort antreten. Die Hälfte ihres Gewinnes würde sie dann in weitere Häuser stecken, obwohl ihr im Dorf schon einige gehörten. Die Million wäre ihr auf jeden Fall sicher gewesen.
Das Auge hatte gesehen, dass sich in der alten »Flüsterecke« etwas tat. Das Haus grenzte Rücken an Rücken an eines, das auch ihr gehörte und das sie gerade schön herausputzte. Kein Blatt, kein ungezogenes Hälmchen hatte Anrecht auf Platz in ihrem Besitz. Ihre Akkuratesse kam gleich nach ihren Adleraugen. Während des Töpfermarktes sollten ihre Häuser und Garten makellos strahlen und glänzen.
Außerdem kannte Auguste natürlich den Hintereingang zur alten Kneipe.
Schon war sie drin und stand sie neben Sophia und Finn, die zurück waren und nun ratlos vor der inzwischen mit leichtem Raureif überzogenen mobilen Klimaanlage standen. Ihr Blick fiel auf den schönen Toten.
»Hab ich mir’s doch gedacht,« bestätigte sie den Verdacht, der sich in ihr Denken gestohlen hatte. Den plötzlichen und ungewöhnlichen Verkehr zu dem Vorgängerlokal der heutigen »Flüsterecke« hatte sie sofort wahrgenommen. »Den hat’s aber erwischt. Gut, dass ihr ihn versteckt habt. Wer ist das denn?«
»Brad Pitt«, hätte Finn beinahe geantwortet, konnte sich die Worte aber gerade noch verkneifen. Das war so gut wie unmöglich, dass der berühmte Schauspieler hin in der alten Kneipe lag. Nur wer war es dann?
Das festzustellen, hatte sich noch niemand wirklich die Mühe gemacht, von der Gesichtserkennungssoftware abgesehen. Finn und Sophia sahen sich erstaunt und auch ein wenig verliebt an. Dies war ihr erstes gemeinsames Abenteuer. »Ich kucke mal in seine Taschen«, gab sich Finn schließlich einen Ruck. Er kniete vor der Leiche nieder und fasst vorsichtig in die vorderen Hosentaschen. Aus der einen förderte er sieben Euro zweiundzwanzig in Münzen und eine angebrochene Packung Präservative zutage, aus der zwei von drei Überziehern fehlten. »Lelo Luxuriös«, las er vor. »Gute Marke!«
Sophia sah ihn stirnrunzelnd an. »Woher weißt du das denn?«
Finn wandte sich schnell ab und der zweiten Hosentasche zu. Dort steckte ein kleines Tütchen aus Papier mit der Aufschrift Herbstzeitlose. In der Tüte konnte er ein paar harte Samenkörner fühlen.
»Komisch, keine Schlüssel«, stellte er fest. »Vielleicht hat er ja kein Auto. Ich muss den mal etwas drehen, um hinten dran zu kommen. Sophia, hilf mir mal.«
»Iih, nee!« Seine Freundin weigerte sich.
»Ich mach das«, hörte er Auguste sagen, und schon kniete die alte Dame neben ihm und zog den Toten am Hosenbund zur Seite. Finn kam an die linke Gesäßtasche, in der eine Art Visitenkarte steckte. »Die ist vom Kaffeelino«, erklärte er. »Der Kaffeerösterei aus unserem Nachbarort Fredelsloh. Wichtiger Hinweis. Vielleicht war er vorher dort.«
»Da waren wir alle schon mal«, motzte Auguste. »Andere Seite, Finn!«
In der anderen Gesäßtasche fand sich nichts außer ein paar Grashalmen und einem kurzen, abgeknickten Zweig. Finn stopfte den Fund zurück in die Tasche.
Auguste das Auge war wieder aufgestanden und besah sich Brad Pitt von oben. »Vielleicht sollten wir ihn ganz ausziehen«, schlug sie vor und schluckte. »Vielleicht trägt er seinen Ausweis aus Sicherheitsgründen in der Unterhose?«
»Ich fühle einfach mal«, schlug Finn vor, der seiner Freundin den Anblick des Wettbewerbs gern ersparen wollte. Obwohl Brad Pitt ja schon aus dem Rennen war. Also eher aus statistischen Gründen. »Ausziehen muss ihn irgendwann ein richtiger Arzt, wenn der Markt vorbei ist, denke ich.«
»Dieser Schnitt da im Bein, dieser tiefe Riss«, sinnierte Auguste das Auge. »Das habe ich als Kind schon mal gesehen. Eine ganz furchtbare Wunde. So etwas macht kein Messer und kein Beil. Das ist vom wilden Jäger, vom Hackelberg! Seine Verletzungen sind immer tödlich.«
Sophia und Finn sahen sich entsetzt an. Wer war das, der wilde Jäger Hackelberg? Von dem hatten sie noch nie gehört. Im Dorf wohnte der jedenfalls nicht.
»Wer ist das denn? Ist der noch hier?«, fragte Finn das allwissende Auge.
»Der ist doch schon lange tot«, erklärte die Alte, hob dabei aber einen warnenden Zeigefinger. »Das ist die Rache des Keilers. Einem Jäger war zu alter Zeit prophezeit worden, dass er bei einer Jagd auf einen riesigen Wildschweineber durch diesen umkommen würde. Der würde ihn töten. Da ist der Jäger Hackelberg aus Vorsicht gar nicht erst mit auf die Jagd gegangen.«
»Und?« Sophia wollte mehr wissen.
»Dann kam die Jagdgesellschaft zurück, mit dem Keilerkopf als Trophäe. Den hatten sie ganz normal erlegt.«
»Wie das Wappen der Hardenberger?«, fragte der junge Mann, der ganz gern am Hardenberger Korn nippte. Vor allem, wenn er selbst eine Packung Lelo Luxuriös in der Tasche hatte. Dann brauchte er seinen ganzen Mut für das, was er anschließend geplant hatte.
»So ungefähr«, bestätigte Auguste das Auge. »Nur dass er die Trophäe dann in beide Hände genommen und hochgehalten hat. Hab ich dich, du konntest mir nichts anhaben, soll er gesagt haben. Der schwere Schädel ist ihm dann runtergefallen, ein Hauer hat ihm das Bein tief aufgerissen, so wie bei dem da.« Sie zeigte auf den Toten. »Eine schlimme Wunde. Daran ist er kurz darauf gestorben, an einer Blutvergiftung, wie in der Prophezeiung. Also gestorben wie in der Vorhersage, dass das wegen einer Blutvergiftung sein würde, hatte ja niemand geweissagt. Niemand konnte ihn kurieren. Seitdem geistert der Jäger hier in der Gegend herum und bringt alle sieben Jahre jemanden auf diese Weise um. Als Keiler. Das war der Hackelberg, keine Frage. Armer Kerl.«
Finn schwor sich insgeheim, künftig die Finger vom Hardenberger Schnaps zu lassen. Falls das den Hackelberger Killerkeiler anzog.
»Wir wissen trotzdem immer noch nicht, wer das ist«, kam Sophia aufs Thema zurück.
»So hübsch wie der war, wird ihn schon jemand vermissen«, fand Auguste das Auge. »Ich höre mich mal vorsichtig um. Aber nicht weitersagen. Wir müssen zusammenhalten, Leute.«
Auguste verließ das Haus durch den Hintereingang und sicherte nach allen Seiten, bevor sie nach Haus ging, zwischen all den Besuchern des sich füllenden Marktes hindurch. Auf dem Thie, dem Dorfplatz, wäre sie fast ausgerutscht. Warum fegt denn hier keiner die Lindenblüten weg, dachte sie und ärgerte sich über die Unordnung. Das war ja noch viel schlimmer als eine Leiche. Gestorben wurde schließlich immer. Aber was da alles von den Bäumen herunterfiel, Zweige, Blüten und Blätter, das konnte man doch immerhin wegmachen.
Auf dem Weg stieß sie auf ihren Nachbarn Hermann Brennecke, der gerade eine Vase verschenkte, die ihm nicht mehr gefiel. Er war der Sohn des verstorbenen Dorfarchäologen, der von der Steinzeit bis zur Römerzeit Funde gemacht hatte. Auguste korrigierte sich in Gedanken. Er war natürlich nicht seit der Steinzeit im Dorf gewesen und hatte Funde gemacht. Er hatte zu seinen Lebzeiten nur wichtige Dinge aus all diesen Zeiten gefunden und das Dorf auch damit berühmt gemacht.
Sie nahm ihn beiseite. »Hermann, es ist was passiert«, weihte sie ihn ein. »Geh mal in die alte »Flüsterecke«, aber vorsichtig. Da liegt ein Toter. Der muss weg. Aber pass auf!«