Читать книгу Wild leben! - Nick Baker - Страница 10
2 Klein anfangen
ОглавлениеWie ein tief fliegender Komet, eine rote Rakete, ein Irrlicht raste das Eichhörnchen durch den schottischen Kiefernwald. In einem Augenblick war es da, im nächsten verschwunden, rauf und runter, zwischen die graumelierten Kiefernsäulen und wieder heraus. Es war nie länger sichtbar als den Bruchteil einer Sekunde, aber es war mir egal, dass ich seine lebhafte Gestalt nicht ganz zu sehen bekam, diese unverwechselbar puscheligen Ohren und die funkelnden, misstrauischen Augen. Schon ein flüchtiger Blick auf unser einheimisches britisches Eichhörnchen reichte, um mich zufrieden zu stimmen. Aber das sollte es nicht. Zunächst einmal hatte ich über tausend Kilometer weit fahren müssen, um eins zu sehen, und dabei ging es schließlich um unser Eichhörnchen. Wenn man heute in Großbritannien von Eichhörnchen redet, haben die Menschen genau dasselbe Bild im Kopf wie die Bewohner von North Carolina. Was wir heute Eichhörnchen nennen, ist grau und nicht rot.
Das ist ein Beispiel für das sogenannte „Shifting-Baseline-Syndrom“ und tritt ziemlich häufig zutage, wenn man versucht, die wahre Funktionsweise eines britischen Ökosystems zu verstehen. Das Problem ist, dass wir schnell vergessen. Womit eine Generation aufwächst, wird zur Norm, zum Ziel, das wir anstreben. Hätten meine Eltern eher die Kurve gekriegt und mich ein paar Jahre früher bekommen hätten, hätte ich vielleicht auch noch mehr Farbe im Wald vor unserer Tür gesehen. So nahe dran waren sie, so schnell fand der Wandel statt und so kurz ist unser kollektives kulturelles Gedächtnis.
Dieser heimtückische, langsame, schleichende Wandel ist nur ein Beispiel dafür, wie unsere eigene Wahrnehmung der Wildnis sich mit der Zeit verändert. Wie das Land funktioniert und was hineingehört, gerät durcheinander und bildet einen steinigen Untergrund für die Samen der Renaturierung.
Eine hilfreiche Frage, die wir uns stellen können: Welchen Punkt auf einem Zeitstrahl von den ersten Schritten der Cro-Magnon-Menschen auf britischem Boden vor rund 800.000 Jahren bis 1988, als wir die Erdbauhummel verloren, peilen wir überhaupt an?
Es gibt zahllose weitere Beispiele für dieses Phänomen des Shifting-Baseline-Syndroms. Je weiter wir uns vom Land entfernen, desto weniger reden wir darüber, desto unwissender werden wir als Art und dann verirren wir uns. Getrennt von der Mutter, die uns letztendlich alle ernährt, haben wir Schwierigkeiten zu verstehen, weil wir aus den Augen verloren haben, was echt ist und was nicht; wir lösen die Verbindung und entwickeln ein Natur-Defizit-Syndrom. Wir laufen blind durch ein Land voller Schatten.
Ich habe schon häufig Leute die „Tatsache“ zitieren hören, dass es inzwischen zu viele Sperber, Bussarde, Seeadler, Füchse oder Dachse gebe. Tatsächlich gibt es offenbar einen Club, in dem man garantiert aufgenommen wird, sobald man im Besitz eines krummen Schnabels, scharfer Zähne, Krallen oder Klauen ist.
Darüber hinaus pflegt unsere Art eine ökologische Fremdenfeindlichkeit, die sich auf so ziemlich alles erstreckt, das einen eigenen Willen zu haben scheint. Viele Menschen scheinen die Natur „unter Kontrolle halten“ und aus ihrem Garten verbannen, Herrschaft über alle Lebewesen ausüben zu wollen, die großen und selbst die winzigen. Ich habe einmal von einer Frau gehört, die die Sandbienen in ihren Blumenrabatten ausrotten wollte aus dem einzigen Grund, dass sie sie unordentlich aussehen ließen. Dieses kurzlebige, harmlose Tierchen würde mir in meinem Garten viel Freude machen und wäre auch von großem Nutzen durch seine Bestäubungsaktivitäten. Falls Sie die Sandbiene nicht kennen: Sie ist ein kleiner, fuchsroter, geflügelter Flauschball, nicht größer als der Nagel Ihres kleinen Fingers. Sie ist eine Einzelgängerin, die Gesellschaft mag; das scheinbare Oxymoron bedeutet nichts weiter, als dass sie allein nistet, aber gerne Nachbarn in der Nähe hat. Das Nest selbst ist ein kurzer, bienenbreiter Tunnel, und das vom emsigen Insekt ausgehobene Erdmaterial bildet einen kleinen, lockeren Kegel aus feiner Erde, nicht höher als etwa einen Zentimeter. Die Art ist nur im Frühling aktiv und fliegt in der Regel in einem kurzen Zeitraum zwischen März und Mai. Die empfundene Notwendigkeit, ein solches Insekt zu beseitigen, ist für mich ein weiterer Beweis dafür, wie wir als Nation völlig abgedreht und ökologisch intolerant geworden sind.
Man braucht nur das Wort „Biene“ zu sagen, und schon greifen alle entweder nach der Fliegenklatsche oder dem EpiPen. Fakt ist, dass die meisten unserer 230 Bienenarten Solitärbienen, also Einzelgänger sind, und weil sie keinen Honig lagern, der verteidigt werden muss, sind sie nicht aggressiv und führen keine Giftangriffe durch. Man müsste sich schon sehr anstrengen, um von einer gestochen zu werden, und damit meine ich, man müsste sie aufnehmen und drücken und selbst dann können die meisten gar nichts dagegen unternehmen, weil ihr Stachel nicht einmal unsere Haut durchbohren kann.
Mir scheint, wenn wir nicht mal ein kleines, passives, eindeutig hilfreiches bestäubendes Insekt in unseren Blumenbeeten dulden können, dann sind wir vermutlich noch nicht bereit dafür, die Wiedereinführung von supercharismatischen, lange verschollenen Schlüsselarten wie Biber, Wolf und Luchs zu begrüßen.
Verfolgt man diesen Gedanken weiter, stellt sich die Frage: Warum nicht? Die Renaturierung ist inzwischen verknüpft mit solchen besonders zahnreichen, charismatischen Arten, aber wenn man sie auf ihre grundlegendste, entscheidende Komponente zurückführt, dann kann Renaturierung auch einfach bedeuten, die eine Ecke des Rasens etwas länger wachsen zu lassen als üblich. Eine Toleranz für das Gänseblümchen oder die Pusteblume zu entwickeln, die durch den Asphalt bricht, oder ein bisschen Moos in den Spalten im Gehweg wachsen zu lassen, ist im Grunde genommen der Beginn des Renaturierungsprozesses. Oder?
Zumindest erlaubt man so ansatzweise der Wildnis, sich in ihrem eigenen Raum zu zeigen, und es verschafft einem die Gelegenheit, in die Poesie der Natur einzutauchen. Dieser Prozess steht im Zentrum der Instandsetzung von Landschaft und Lebensräumen; man schafft den Lebensraum und die Tiere, die ihn finden können, werden irgendwann auch einziehen. Es ist eine Art passiver Renaturierung, wenn man die Hand von Rasenmäher, Spaten und Pflanzkelle nimmt und die Natur einfach von selbst wieder einsickern lässt – in all ihrer berankten, stelzbeinigen, durchsichtig beflügelten, samtigen, fedrigen, kriechenden, knospenden, blühenden Fruchtbarkeit. Ein Renaturierungspurist würde sagen, Renaturierung bedeutet einfach in Ruhe lassen.
Wenn Sie einen Teich ausgehoben, ein Vogelhäuschen aufgestellt oder einen Nistkasten aufgehängt haben, betreiben sie unterstützte Renaturierung, indem Sie einen Lebensraum begehrenswerter für andere Arten machen. Manche würden argumentieren, das habe wenig mit der Wildnis zu tun und sei eine Form von Gärtnern. Aber während ich das hier schreibe, hat die Blaumeise an der Futterröhre vor meinem Fenster Gesellschaft von einer weiteren bekommen. Gerade hat sie ihre Flügel vor einer anderen, scheinbar identischen Blaumeise am Erdnussspender gespreizt (die Vogelversion des Anknurrens) und jetzt ist nur noch eine da. Dieser Vogel ist so wild wie jeder Tiger und er (oder sie, das lässt sich schwer bestimmen, wenn man selbst keine Blaumeise ist) bewegte sich durch den Garten und zeigte dasselbe Wildtierverhalten, wie er es auch im alten Wald auf der anderen Seite des Tals tun würde.
Der nächste logische Schritt entspräche der Wiedereinführung von etwas, das verloren gegangen ist, ausgelöscht aus dem Lebensraum, in den es einmal gehörte; besonders wichtig, wenn diese Art eine Schlüsselart ist oder die Atmosphäre, den Charakter eines bestimmten Lebensraums einfängt.
Wenn Sie einheimische Baumsorten pflanzen oder Wildblumen, die einst in Ihrer Nachbarschaft zu finden waren, oder Froschlaich in den Teich setzen, weil früher Frösche durch Ihren Garten hüpften, jetzt aber nicht mehr, dann tun Sie so ziemlich dasselbe wie diejenigen, die vorschlagen, eine Handvoll Biber in einem Strath in Schottland auszusetzen, oder Luchse oder Wölfe. Sie tun es nur auf Ihrem eigenen Grundstück auf Ihre Weise.
Eine gute Denkübung ist es, sich vorzustellen, wie die Welt in Ihrer Straße aussehen würde, wenn jemand etwas relativ Einfaches tun und einen einheimischen Baum pflanzen würde. Stellen Sie sich vor, jeder in Croydon würde eine Eiche in seinen Garten pflanzen (ignorieren Sie dabei vorerst die praktischen Aspekte von Wurzeln und Abwassersystemen, mit Blättern verstopfte Regenrinnen und Abflüsse etc.) und die Eiche und den Garten einfach dem überlassen, worauf sie genetisch programmiert sind: In hundert Jahren hätte man einen urbanen Eichenwald und all die Freuden, die damit einhergehen – vielleicht würden ein paar Rehe einziehen, Nachtigallen könnten in jeder Straße singen und wenn Sie Glück haben, würde vielleicht sogar ein Luchs den Weg in Ihren Garten finden. Natürlich wünscht sich nicht jeder all diese Dinge, aber stellen Sie sich einmal eine Welt vor, in der es keins dieser Experimente irgendwo geben kann, denn das ist es wahrscheinlich, worauf wir zusteuern.
Natürlich würde eine Weiterführung dieses Szenarios bis zum Ende beinhalten, dass jeder seinen Garten aufgibt, und natürlich hätte jemand diesen Luchs erst einmal wieder einführen müssen (und den Rest der fehlenden Flora und Fauna, die sich dazu entwickelt haben, gemeinsam zu funktionieren). Wir hätten dem Drang widerstehen müssen, an Dingen herumzubasteln, die wir nicht nützlich finden oder die wir für schädlich oder einfach unnütz halten, oder sie zu entfernen. Schließlich ist das das Wesen der menschlichen Natur, das tun wir und haben es immer getan, seit wir selbst aus den Bäumen gestiegen sind. Das bringt einen anderen Faktor ins Spiel: uns. Mit Sicherheit sind auch wir ein Teil dieses Systems. Die menschliche Natur? Der natürliche Mensch wäre ein Teil dieser Ökologie gewesen. An welchem Punkt in unserer Geschichte ist unsere Beziehung mit der Natur gescheitert zum Nachteil von allem anderen?
Wie Sie sehen, ist die Renaturierung eine Skala. Sie können eine einheimische Baumart pflanzen, die in der Gegend vorkommt, und schon haben Sie den Ort etwas wilder gemacht, als er vorher war. Wenn Sie noch ein paar einheimische Wildblumen und etwas Gebüsch hinzufügen und es jeder Art das Einziehen ermöglichen, die in unserem Garten existierte, bevor unser anthropogener Einfluss sich im ganzen Land verbreitet hat, dem Drang zur Einmischung standhalten und zusehen, was passiert, wenn man der Natur einfach ihren Lauf lässt, dann sind Sie am anderen Ende der Skala angekommen – Renaturierung in Reinform.
Wo auch immer Sie auf dieser Skala liegen, die Renaturierung ist ein Annehmen der Natur und der Tatsache, dass die Natur es am besten weiß, eine grüne Weisheit, der wahre Wert des Lebens. Sicherlich fällt es etwas schwer, sich ein Großbritannien vorzustellen, in dem wilde Wölfe durch die Landschaft streifen; leichter ist es, an ein Großbritannien mit ein paar mehr Lachsen in unseren Flüssen oder auch mehr Fröschen in unseren Teichen zu denken.
Es ist wahr, dass wir in Großbritannien lange Zeit ohne Raubtiere ausgekommen sind, die größer als ein Fuchs oder ein Dachs sind, aber wenn wir als Nation in die richtige Gemütsverfassung gelangen können, und mir ist klar, dass ich damit viel verlange, dann ist auf dieser Renaturierungsskala theoretisch alles möglich.