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Halbwahrheit und Ideologiekritik

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Woran liegt es, dass Halbwahrheiten – einmal abgesehen von dem »postfaktischen« politischen Diskurs, in dem sie sich bewegen – gegenwärtig Konjunktur haben?23 Halbwahrheiten gab und gibt es schließlich schon immer und überall. Sind sie also in letzter Zeit vielleicht nur sichtbarer geworden, etwa weil sie durch die neuen (sozialen) Medien ungefilterter verbreitet werden können? Oder weil das Web 2.0 der Struktur von Halbwahrheiten entgegenkommt, insofern es als eine »digitale, zwischen Oralität und Schrift oszillierende Form des Hörensagens« funktioniert, in der diejenige Nachricht, die sich am schnellsten und weiträumigsten verbreitet, am ehesten als wahr empfunden wird?24

Doch sind die sozialen Medien und ihre Nutzer:innen keineswegs gänzlich von Halbwahrheiten und anderen Falschnachrichten bestimmt. Der virtuelle Raum ist ein hybrider Ort öffentlicher Meinungsbildung, in ihm finden sich Falschinformationen neben fundierten Analysen und sorgfältig recherchiertem Hintergrundwissen. Er ist ein Ort der Wahrheit und Unwahrheit zugleich. Ihn in Gänze als Ursache einer Zunahme von Halbwahrheiten zu verstehen, greift daher zu kurz.25 Vielmehr fungieren in den sozialen Medien vor allem einzelne und häufig rechtspopulistische Seiten oder Akteure, wie zum Beispiel Donald Trump, als deren twitternde Superspreader.26 Liegt der Grund für die Konjunktur der Halbwahrheiten also vielleicht, mit Arendt gesprochen, in einem drohenden Verlust der Integrität der Politik am rechten Rand? Gleichzeitig wird das Erstarken des Rechtspopulismus aber auch oft mit einem schon länger wahrgenommenen Verlust der Integrität der Politik der Mitte beziehungsweise einer damit einhergehenden Vertrauenskrise der Bevölkerung gegenüber Politik als solcher erklärt.27 Nur deshalb können sich Trump und andere Rechtspopulistinnen und -populisten als Volkstribune gerieren, die vorgeblich mit den Lügen einer korrupten Politik aufräumen wollen.

Um sich der Funktion von Halbwahrheiten bewusst zu werden, ist es daher vielleicht zunächst sinnvoller, diese nicht als Gegenstück zu einer wie auch immer gearteten »Wahrheit« anzusehen, sondern auf Theodor W. Adornos Begriffe von Ideologie und Ideologiekritik zu rekurrieren. Interessanterweise kommt eine der treffendsten Analysen des Rechtsrucks unserer Zeit nämlich aus der Vergangenheit: Wie in vielen Rezensionen betont wurde, ist mit der posthumen Herausgabe von Adornos Vortrag »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« von 1967 »dem Verlag ein Coup gelungen«, insofern der Text »noch heute von schlagender Evidenz« sei und sich »wie ein Kommentar zum Aufstieg der AfD« lese.28 In Bezug auf die Frage nach der Konjunktur von Halbwahrheiten in einem postfaktischen politischen Diskurs lohnt es sich also vielleicht, einen weiteren Text Adornos heranzuziehen, den »Beitrag zur Ideologienlehre« (1954).29

Bis zum discursive turn der 1970/80er-Jahre war Ideologiekritik das Kernelement sich als gesellschaftskritisch verstehender Theorie; man wollte subtile Herrschaftsmechanismen offenlegen und so »verblendete« Bürger:innen aufklären. Wegen seines starken elitären Sendungsbewusstseins und seiner fundamentalen Orientierung an den Kategorien wahr und falsch geriet der Ideologiebegriff jedoch unter Beschuss und schließlich in Vergessenheit.30 Ist heute, wo sich die Frage von Wahrheit und Falschheit neu stellt, seine Renaissance notwendig?31

In seinem »Beitrag zur Ideologienlehre« schreibt Adorno 1954 über die bürgerlich-liberale Ideologie, die für seinen Ideologiebegriff maßgeblich ist und zu der man zum Beispiel die Ideen der Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zählen kann:

Als objektiv notwendiges und zugleich falsches Bewußtsein, als Verschränkung des Wahren und Unwahren, die sich von der vollen Wahrheit ebenso scheidet wie von der bloßen Lüge, gehört Ideologie […] einer entfalteten städtischen Marktwirtschaft an. Denn Ideologie ist Rechtfertigung. Sie erheischt ebenso die Erfahrung eines bereits problematischen gesellschaftlichen Zustandes, den es zu verteidigen gilt, wie andererseits die Idee der Gerechtigkeit selbst, ohne die eine solche apologetische Notwendigkeit nicht bestünde und die ihr Modell am Tausch von Vergleichbarem hat.32

Adorno spricht hier die Sprache einer marxistisch orientierten Gesellschaftskritik. »Wahr« (das heißt hier: realisiert) ist demnach die Idee der Gerechtigkeit im bürgerlich-liberalen Zeitalter, insofern sie einer auf dem Tausch basierenden Ökonomie adäquat ist. »Unwahr« bzw. »notwendig falsch« ist diese Wahrheit aber zugleich, insofern der Äquivalententausch eine Realität erzeugt, die sich durch Ungleichbehandlungen auszeichnet. Falsch ist es zudem für Adorno nicht nur, diese soziale Realität als eine gerechte misszuverstehen, sondern falsch ist auch die Ungerechtigkeit als solche – und zwar gemessen an der Idee von Gerechtigkeit als einem der Ideologie innewohnenden Anspruch oder auch »Wahrheitsgehalt«, den sie verfehlt.

Die »Wahrheit« der Gerechtigkeit ist also ideologisch, doch lässt sich diese Ideologie kritisieren, indem der erfahrbare Widerspruch zwischen der Idee von Gerechtigkeit und der sozialen Realität herausgestellt wird. Dabei wird die Warte, von der aus die ideologische Wahrheit als »unwahr« oder »falsch« kritisiert wird, erst im Prozess der immanenten Kritik gewonnen. Zugleich wahr und falsch zu sein, meint im Fall der Ideologiekritik also (anders als im Fall der Halbwahrheit) gerade keine Suspendierung der Unterscheidung, sondern setzt einen sowohl epistemisch wie normativ begründeten und letztlich »emphatischen« Wahrheitsbegriff voraus,33 der erst in der Methode der immanenten Kritik gewonnen wird und bei Adorno nur negativ, das heißt als Negation des falschen Bestehenden zu haben ist.34 Insofern ist Adornos Ideologiekritik, wie die Philosophin Rahel Jaeggi schreibt, zugleich »nichtnormativ und dennoch normativ bedeutsam«: »sie generiert […] aus den Selbstwidersprüchen der gegebenen Normen und der gegebenen Realität die Maßstäbe zu deren Überwindung«.35

Für die spätkapitalistische Gesellschaft konstatiert Adorno jedoch, dass die Ideologie in ihr nicht mehr »zum Seienden […] als Rechtfertigendes oder Komplementäres hinzugefügt« werde, sondern »in den Schein übergeht, was ist, sei unausweichlich und damit legitimiert«.36 Darum lässt sich für diese eigentlich nicht mehr von einer Ideologie im obigen Sinne sprechen und auch keine herkömmliche Ideologiekritik mehr betreiben, die die soziale Realität mit den in ihr nur ungenügend realisierten Ideen ins Verhältnis setzen müsste. Außerdem wird dadurch auch die ideologiekritische Unterscheidung von wahr und falsch zum Problem, wie sich anhand von drei für Adornos Nachdenken über die Aushöhlung der bürgerlich-liberalen Ideologie zentralen Stichworten – Kulturindustrie, Relativismus, Faschismus – nachvollziehen lässt.

Über die spätkapitalistische Kulturindustrie schreibt Adorno: »Wollte man in einem Satz zusammendrängen, worauf eigentlich die Ideologie der Massenkultur hinausläuft, man müßte sie als Parodie des Satzes: ›Werde was du bist‹ darstellen.«37 Sie beschränke sich nun darauf, »den Menschen nur noch einmal das vor Augen zu stellen, was ohnehin die Bedingung ihrer Existenz ausmacht«38, und dieses Dasein zugleich »als seine eigene Norm«39 zu proklamieren: »Nichts bleibt als Ideologie zurück denn die Anerkennung des Bestehenden selber, Modelle eines Verhaltens, das der Übermacht der Verhältnisse sich fügt.«40 Heute lässt sich das vielleicht am besten anhand des auf den Thatcherismus zurückgehenden TINA-Prinzips (»There Is No Alternative«) veranschaulichen, nach dem es schlicht keine Alternative zur bestehenden, allein auf den Markt beziehungsweise auf die Wettbewerbsfähigkeit ausgerichteten Politik und ihren Maßnahmen gebe, denen sich die Bürger:innen zu fügen haben. Wo es keine Alternative zum Bestehenden gibt, kann dieses aber weder falsch noch im emphatischen Sinne wahr sein; die Ausrichtung daran geht verloren zugunsten der Postulierung von Wahrheit als schlichter Alternativlosigkeit. Diesem unipolaren Prinzip lässt sich dann auch schwerlich mit Ideologiekritik als einer Form der immanenten Kritik begegnen, sondern allenfalls, so Adorno schon vor gut 65 Jahren, mit einer »Analyse des cui bono«41: Wer hat ein Interesse daran, das Bestehende als »einzige Wahrheit« bzw. alternativlos zu postulieren?

So kritisch und notwendig diese Frage ist, so leicht schlägt sie jedoch Adorno zufolge in einen Relativismus um, den er als philosophische Entsprechung des »Niedergang[s] der Möglichkeit von Freiheit«42 kritisiert. Dem Prinzip der Alternativlosigkeit entspreche eine relativistische Position, die nicht nur die massenkulturelle Wahrheit des Spätkapitalismus, sondern Wahrheit überhaupt nur noch als Machteffekt denken könne und so die »Gültigkeit der Kausalität« insgesamt infrage stelle.43 Adorno versteht den erkenntniskritischen Relativismus mithin nicht nur als notwendige Kritik an, sondern zugleich auch als Konsequenz aus einem technokratischen Positivismus, dem mit der bürgerlich-liberalen Ideologie die Perspektive auf jede das bloße Bestehende transzendierende Wahrheit abhandengekommen sei.44

Adorno beschreibt in seinem Resümee der spätkapitalistischen Gesellschaft also einen Gesellschaftszustand, in dem das Faktische zur neuen Norm geworden ist. Ideologie bedeutet nun nicht mehr Rechtfertigung der sozialen Realität durch die in ihr vorgeblich realisierten Ideen von Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Humanität, sondern sie ist insofern total geworden, als sie sich auf die bestätigende Widerspiegelung des Bestehenden beschränkt.

Dadurch schwindet aber auch die Basis jeder Kritik, nämlich der erfahrbare Widerspruch zwischen der sozialen Realität und dem »Element der Wahrheit in den Ideologien«45. Der Kritik fehlt ihr Koordinatensystem, sodass wer über die Alternativlosigkeit der bestehenden Verhältnisse irgendwann doch noch ins Grübeln gerät, gar nicht mehr sagen kann, was genau eigentlich an ihnen falsch und was richtig ist beziehungsweise warum sich etwas Richtiges in Falsches verkehrt hat oder wie aus dem Unwahren etwas Wahres zu gewinnen wäre. Was als Option übrigbleibt, ist dann nur noch alles in Bausch und Bogen abzulehnen, alles für lügenhaften Schein und das Streben nach Wahrhaftigkeit für ebenso naiv zu erklären wie die Orientierung an anderen regulativen Ideen – eine Haltung, die man als zynisches Pendant des von Adorno kritisierten intellektuellen Relativismus betrachten kann. Der Konjunktur der Halbwahrheiten arbeitet beides zu oder stellt ihr jedenfalls nicht viel entgegen, beziehen Halbwahrheiten ihre suggestive Wirkkraft doch ebenfalls aus der Suspendierung jeder Unterscheidung.

Für Adorno ebnet der Relativismus letztlich den Weg in den Totalitarismus oder macht mindestens hilflos gegenüber seinen Positionen.46 Denn diejenige »Ideologienlehre«, für die Wahrheit nur noch Funktion einer sich durchsetzenden Macht sei und die also dem »in Beziehung auf die objektiven Verhältnisse faßbaren Element der Wahrheit der Ideologien« nicht mehr nachforsche, tauge »trefflich selber zur Ideologie des totalitären Machtstaates. Indem sie vorweg alles Geistige dem Propaganda- und Herrschaftszweck subsumiert, bereitet sie dem Zynismus das wissenschaftlich gute Gewissen.«47 Dasselbe Problem habe auch der Spätliberalismus – eine Beobachtung, die für die heutige und schon von Arendt erkannte Tendenz zur Verkehrung von Tatsachen in Meinungen (und umgekehrt) vielleicht besonders relevant ist:

Der politische Spätliberalismus, der im Begriff der Meinungsfreiheit ohnehin eine gewisse Affinität zum Relativismus besaß, insofern jedem erlaubt sei, zu denken was er will, gleichgültig ob es wahr ist, weil ja doch jeder nur denke, was für seinen Vorteil und seine Selbstbehauptung am günstigsten sei, – dieser Liberalismus war keineswegs gefeit gegen solche Perversionen des Ideologiebegriffs. Auch darin bestätigt sich, daß […] inmitten der Kultur die Kräfte von deren Zerstörung heranreiften.48

Was auf dem Boden des Relativismus gedeiht, lässt sich also bestens vom Faschismus instrumentalisieren: ein zynisches Verhältnis zur Wahrheit, das sich ebenfalls nicht mehr mit dem herkömmlichen Ideologiebegriff verträgt. Und zwar erstens, weil der Faschismus, so Adorno, das Falsche ins Wahre und das Wahre ins Falsche verkehre, insofern er den Wahrheitsgehalt der bürgerlich-liberalen Ideologie infrage stelle, indem er auf ihre mangelnde Entsprechung in der sozialen Realität hinweise, und insofern er die Falschheit der realen Situation affirmiere beziehungsweise zur eigentlichen Wahrheit im Sinne einer Gleichsetzung von Wahrheit und Herrschaft erkläre, wie Adorno in »Pseudomenos« herausarbeitet:

[D]er Faschismus ist in der Tat weniger »ideologisch«, insoweit er das Prinzip der Herrschaft unmittelbar proklamiert, das anderswo sich versteckt. Was immer die Demokratien an Humanem ihm entgegenzustellen haben, kann er spielend widerlegen mit dem Hinweis darauf, daß es ja doch nicht die ganze Humanität, sondern bloß ihr Trugbild sei, dessen er mannhaft sich entäußerte.49

Und zweitens instrumentalisiere der Faschismus das zynische Verhältnis zur Wahrheit, indem er an die Stelle der Ideologie die Propaganda setze:

Ihre [Hitlers und Rosenbergs, Anm. N. G.] Niveaulosigkeit […] ist Symptom eines Zustandes, den der Begriff von Ideologie […] gar nicht mehr unmittelbar trifft. In solchem Gedankengut spiegelt kein objektiver Geist sich wider, sondern es ist manipulativ ausgedacht, bloßes Herrschaftsmittel.50

Dabei sei entscheidend, dass »kein Mensch, auch die Wortführer nicht, erwartet hat, daß es geglaubt oder als solches ernst genommen werde«51 – daher der Zynismus, den man heute beispielsweise auch in Trumps postfaktischer Rhetorik und der bedingungslosen Gefolgschaft seiner Anhänger:innen wiedererkennen kann. Ohne hier eine Gleichsetzung vornehmen zu wollen, bedient sich der Rechtspopulismus also durchaus bewährter Mittel. Denn die als solche durchschaubare Propaganda dient letztlich nur dazu, Macht zu demonstrieren.52 Es geht hier nicht nur um die Verkehrung von Wahrheit und Lüge in der Propaganda, sondern letztlich um die vollständige Irrelevanz dieser Unterscheidung in einem totalitären System, das seine Wahrheit gewaltsam setzt: »Die Umsetzung aller Fragen der Wahrheit in solche der Macht […] unterdrückt sie nicht bloß, wie in früheren Despotien, sondern hat bis ins Innerste die Disjunktion von Wahr und Falsch ergriffen.«53

Adorno stellt diese Überlegungen vor einem halben Jahrhundert an, und es wäre unangemessen, sie einfach auf die heutige Situation übertragen zu wollen. Gleichwohl sind viele seiner Beobachtungen von erstaunlicher Aktualität; so beispielsweise seine Ausführung über den Umschlag eines kritischen in einen relativistischen bis zynischen Wahrheitsbegriff, der die derzeitige Inflation von Halbwahrheiten, wo nicht vollständig zu erklären, so doch zu verstehen ermöglicht. Hilft also die ideologiegeschichtliche Erzählung Adornos, die von der Kritik der bürgerlich-liberalen Ideologie über die einer »pervertierte[n] Ideologie«54 der Massenkultur und des spätliberalistischen Relativismus bis zu derjenigen der faschistischen Propaganda führt, um die gegenwärtige Situation – das heißt sowohl den postfaktischen politischen Diskurs wie den ihn prägenden Rechtspopulismus – besser einordnen zu können?

Nehmen wir beispielsweise die rechtspopulistische Medienkritik, auf die in den Kapiteln über Jebsen und Tellkamp noch ausführlicher zurückzukommen sein wird. Mit Adorno ließe sich argumentieren, dass die Behauptung, die Leitmedien reproduzierten nur das technokratische Weltbild, und dessen Dogma der Alternativlosigkeit diene vor allem der Aufrechterhaltung gegenwärtiger Machtverhältnisse, durchaus triftig sei, dass diese Kritik aber in einen falschen Relativismus kippt. Und zwar dann, wenn sie zum Anlass genommen wird, Wahrheit generell nur noch als Machteffekt oder Machtinstrument zu behandeln und sich insofern berechtigt zu sehen, gegen die vermeintliche Alternativlosigkeit »alternative facts« (so Kellyanne Conway im Januar 2017 in Bezug auf Äußerungen des US-Pressesprechers Sean Spicer55) in die Welt zu setzen, die sich unabhängig von rationalen Begründungen oder empirischer Evidenz schlicht nach den eigenen Meinungen, Selbstbildern und Zielen richten und auf eine entsprechende Manipulation von Wirklichkeit zielen.

Hierher gehören dann auch alternative Narrative, wie zum Beispiel das populistische Grundnarrativ von Volk versus Elite, auf das unter anderem im Kapitel über Jebsen noch zurückzukommen sein wird, oder auch das von Inklusion (der autochthonen Bevölkerung) versus Exklusion (alles Fremden), das mit Stichworten wie Heimat und nationaler Identität, Bedrohung und Überfremdung aufgerufen wird. Diese Narrative wären dann weniger als »Re-Ideologisierung des politischen Feldes« zu verstehen56 denn als Instrumente der Selbst- und Fremdmanipulation.

Von hier aus ist es dann nur noch ein kurzer Schritt zu einem zynischen Verhältnis zur Wahrheit, das »alternative Wahrheiten« noch nicht einmal mehr für wahr hält, ihnen aber aus anderen, zum Beispiel emotionalen Gründen trotzdem Glauben schenkt oder mit ihnen schlicht maximale Aufmerksamkeit erreichen oder Setzungsanspruch und -macht demonstrieren will. Das gilt zum Beispiel für die AfD, die die Kritik am Dogma der Alternativlosigkeit und die Sehnsucht nach einer Alternative allein mit ihrem Namen bedient (Alternative für Deutschland), deren Programm aber in ihrem »gemäßigten« Flügel darauf hinausläuft, unter Beibehaltung der neoliberalen Agenda den Frustrierten lediglich ein Ventil in Fremden- und Europafeindlichkeit zu bieten, und in ihrem völkischen Flügel darauf, mit der Kritik an der Scheinhaftigkeit der bürgerlich-liberalen Ideologie deren regulative Ideen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit gleich ganz zu verwerfen und das Zurück in einen offenen Autoritarismus zu propagieren, in dem mithilfe von »Ressentiments und völkischem Einheitsdenken« regiert wird.57

Die Halbwahrheiten, um die es mir im vorliegenden Essay geht, sind, mit Adorno gesprochen, in einem Diskursraum verortet, in dem die Ausrichtung an einer bürgerlich-liberalen Ideologie der Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit, Humanität und nicht zuletzt auch der Wahrheit brüchig geworden zu sein scheint. An ihre Stelle tritt eine normative Macht des Faktischen, dessen Alternativlosigkeit die Frage nach der Wahrheit in Relativismus, Zynismus oder Autoritarismus kippen lässt. Adorno kritisiert diese ideologische »Pervertierung« von Ideologie; die Rhetorik der Halbwahrheiten hingegen macht sie sich zunutze, indem sie die Irrelevanz der Unterscheidung von wahr und falsch performiert und auf diese Weise die Macht des Faktischen letztlich in eine Macht der Spekulation oder sogar der Fiktion umschlagen lässt. Insofern wäre es unangemessen, den Halbwahrheiten des postfaktischen Diskurses mit Ideologiekritik im herkömmlichen Sinne begegnen zu wollen. Vielmehr gilt es zu analysieren, welche Funktion ihnen in einem politischen Diskurs zukommt, der zwischen Relativismus und Zynismus schwankt und für den die Verwandlung von Fakten in bloße Meinungen und umgekehrt ebenso typisch ist wie das Streben nach Aufmerksamkeit als neuer Leitwährung und die Demonstration autoritärer Setzungsmacht.58

Die meisten Halbwahrheiten lassen sich durch einen Faktencheck korrigieren, und auch ich unterziehe jedes einzelne meiner Beispiele einem solchen. So wichtig und notwendig dies ist, reichen Überprüfung und mögliche Richtigstellung jedoch nicht aus. Zum einen geht man den Halbwahrheiten mit einem Faktencheck nämlich insofern auf den Leim, als man ihre Suggestion, es ginge tatsächlich um empirische Evidenz, ernst nimmt und damit zugleich auch die aus dem Diskurs der Alternativlosigkeit übernommene positivistisch dogmatische Geste affirmiert, die Berufung auf die richtigen Fakten entbinde von der Notwendigkeit des Urteilens. Zum anderen erfasst man damit aber auch noch nicht, wie Halbwahrheiten im postfaktischen Diskurs funktionieren und warum sich ihre Anhänger:innen in der Regel als immun gegen jeden Faktencheck erweisen. Denn Halbwahrheiten operieren gerade nicht nach dem binären Schema wahr/falsch, sondern nach Schemata wie glaubwürdig/unglaubwürdig, affektiv/nüchtern, konnektiv/geschlossen und in einem narrativen Rahmen, für den die innere Kohärenz und nicht die Korrespondenz mit externen Sachverhalten entscheidend ist. Die Expertise für diese Schemata und Rahmungen liegt aber nicht beim Faktencheck, sondern bei der Fiktionstheorie und Narratologie, über die im nächsten Kapitel zu sprechen sein wird.

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