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Kapitel 3

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Am nächsten Morgen standen wir etwa um acht Uhr auf, duschten und wuschen uns und gingen so gegen halb neun zum Frühstück in das Kantinengebäude. Das Frühstück war gut, es gab „Bread rolls“, Weißbrot, alle möglichen Sorten Aufschnitt und Käse, Marmelade, Pancakes mit Maple Sirup, verschiedene Cerealien, Kaffee, Kakao oder Tee…

Nach dem Frühstück gingen wir hinüber ins Hauptgebäude, wo um neun Uhr in einem Schulungsraum das „Staff-Training“, die sogenannten „Classes“, begannen. Jeder von uns saß – wie in der High School – auf einem Stuhl mit Armlehnen und einem kleinen Klapptisch, den man von der rechten Armlehne aus in die Mitte klappen konnte. Vorne im Raum waren eine Tafel, ein Overhead-Projektor und ein Stehpult aufgebaut. Unterrichtet wurden wir überwiegend von Bob, der mich aufgrund seiner großen, kräftigen Statur, seinen Gesichtszügen, der Frisur und seinem Schnauzer, an den Darsteller der in den 1980er Jahren populären Krimi-Serie „Magnum“, Tom Selleck, erinnerte.

Hauptinhalt der Schulungen war der richtige Umgang mit Kindern im Camp. Es wurden beispielsweise Texte verteilt, in denen das richtige Verhalten im Umgang mit schwierigen Kindern erläutert und in denen grundlegende kindliche Verhaltensweisen und psychologische Muster kurz beschrieben wurden. Auch in den folgenden Tagen saßen wir täglich ab neun Uhr im Schulungsraum. Gegen zwölf Uhr gingen wir immer zum Mittagessen, von dreizehn bis fünfzehn Uhr folgten dann noch einmal Schulungen, anschließend gab es sportliche Aktivitäten - und zwar solche, die wir auch später mit den Kindern durchführen sollten: Bogenschießen, Schwimmen, Fußball, Basketball sowie Lauf- und Fangspiele, Baseball, Klettern oder River-Rafting. Abends gab es regelmäßig ein gemütliches Beisammensein - mal am Lagerfeuer, mal im Hauptgebäude des Camps - mit anregenden Unterhaltungen und Diskussionen, Singen und Beten. Chris und ich waren verwundert, dass wir in den „Classes“ zunehmend über den Umgang mit schwierigen Kindern geschult wurden. Zunächst dachten wir uns aber noch nichts weiter dabei, sondern gingen davon aus, dass immer mal ein schwieriges Kind unter den Campern sein könnte. Am dritten Tag stand dann allerdings – zur großen Verwunderung der meisten Teilnehmer an den Schulungen - ein Selbstverteidigungskurs auf dem Plan. In dem Kurs wurden uns sogenannte „Restraining Techniques“, also Techniken zur Fixierung von Personen, erläutert und mit uns die entsprechenden Handgriffe eingeübt. Dadurch sollten wir vorbereitet sein, mögliche Angriffe abzuwehren und den Angreifer am Boden „dingfest“ zu machen. Bob teilte uns in Zweiergruppen ein. Abwechselnd sollten wir dann gegenüber dem jeweiligen Partner einen körperlichen Angriff simulieren. Dieser sollte die Attacke dann abwehren, indem er möglichst rasch nach einem Arm des Angreifers griff und diesen sehr schnell nach hinten auf seinen Rücken drehte. Durch einen festen Griff mit der anderen Hand in den Nacken des Angreifers sollte dieser schließlich auf den Boden gedrückt werden. Chris und ich spielten die Handgriffe wieder und wieder durch. Bob beobachtete uns aufmerksam und trichterte uns derweil immer wieder ein:

»Achtet immer darauf, niemals nur „eins zu eins“ mit einem Kind zu sein! Das ist ganz wichtig! Vergesst das nie!«

Es sollte also nie ein Camp Counselor nur mit einem einzelnen Kind beziehungsweise Jugendlichen alleine sein.

»Das Kind könnte sonst behaupten, es sei von dem Counselor angegriffen beziehungsweise geschlagen worden. Die Gerichte in den USA sind sehr sensibel und streng bei Vorwürfen von Gewalt, Misshandlung und Missbrauch von Kindern«, wurde uns von Bob erläutert. »Eine solche Anschuldigung kann für einen Camp Counselor sehr gravierende strafrechtliche Konsequenzen zur Folge haben. Deshalb ist immer sicherzustellen, dass eine weitere Person bezeugen kann, dass gegebenenfalls erhobene Anschuldigungen grund- und haltlos erfolgen«, führte Bob weiter aus. Das alles fanden Chris und ich – wie auch andere Teilnehmer - dann doch sehr befremdlich. Sollte es normal sein, dass sich solche Risiken im Umgang mit Kindern in den USA stellten oder war es eher ein „camp-spezifisches“ Problem? Jedenfalls war es kein gutes Gefühl, befürchten zu müssen, - im schlimmsten Fall grundlos - möglicherweise mit einem Bein im Gefängnis zu stehen. In der Schulung am vierten Tag, in der alle Teilnehmer die „Restraining Techniques“ noch einmal wiederholen und verinnerlichen sollten, platzte dann auch dem sonst eher ruhigen und besonnenen Chris der Kragen. Mit lauter, aufgebrachter Stimme fragte er Bob:

»Was zum Teufel geht hier vor? Warum erhalten wir eine „Nahkampfausbildung“, um im Camp mit Kindern zu arbeiten? Das ist doch nicht normal, da stimmt doch was nicht!«

Bob schaute erst etwas verlegen, erläuterte uns dann nach kurzem Zögern aber, dass es sich bei Camp Osprey Valley um ein „besonderes Camp“ handele.

»War oder ist euch das nicht bekannt?«, fragte er uns.

»Was soll das heißen „besonderes Camp“?« erwiderte ich.

Bob schaute nachdenklich in die Runde, bevor er erläuterte: »Osprey Valley ist ein Camp für schwer erziehbare und auf- oder straffällig gewordene Jugendliche! Wusstet ihr das nicht, als ihr euch beworben habt?«, fragte er ungläubig.

»Nein, das war uns nicht bekannt. Wir haben uns über eine Organisation beworben, nicht direkt beim Camp. Die Bewerbungen wurden von der Organisation an das Camp weitergeleitet, wo dann die Auswahl erfolgte«, berichtete ich.

»Was bedeutet die „spezielle Ausrichtung“ des Camps konkret und welchen Einfluss wird das auf unseren Arbeit hier im Camp haben?«, fragte Chris besorgt.

Bob versuchte uns zu beruhigen: »Macht euch keine Sorgen! Es sind eigentlich ganz „normale Kids“, nur ab und zu kann eben auch mal ein schwieriges Kind dabei sein, nur für solche Ausnahmefälle wollen wir, dass ihr gerüstet seid! Etwaige Probleme werdet ihr mit dem Erlernten sowie den „Restraining-Techniken“ gut in den Griff bekommen!«

Christine, die Betreuerin belgischer Herkunft war sehr aufgebracht und fauchte Bob wütend an:

»Mir war auch nicht bekannt, dass es sich um ein spezielles Camp für schwer erziehbare und kriminelle Jugendliche handelt. Das hätte man mir doch vorher sagen müssen! Dann hätte ich mich niemals beworben! Ich weigere mich, in einem solchen Camp als Betreuerin zu arbeiten. Deshalb werde ich das Camp morgen verlassen und abreisen!«

Chris und ich schauten uns nachdenklich und etwas ratlos an, bevor wir uns ebenfalls lautstark bei Bob beschwerten:

»Warum hat man uns die spezielle Ausrichtung des Camps verschwiegen? Wir sind auf solche Problemfälle überhaupt nicht vorbereitet, da uns der notwendige psychologische und pädagogische Hintergrund fehlt. Der kann wohl auch kaum durch ein einwöchiges Training vermittelt, geschweige denn ersetzt werden!«

Bob versuchte alle Anwesenden erneut zu beschwichtigen: »Ich sage euch noch einmal: bitte macht euch keine Sorgen! Es sind ganz normale Kinder und es gibt nichts zu befürchten, wir – die Leitung des Camps - werden euch bei eurer Arbeit unterstützen, in schwierigen Situationen für euch da sein und euch helfen!« kündigte er an. »Wirkliche Problemfälle gibt es regelmäßig nur unter den „Residentials“ des Camps, dort werden die meisten von euch aber gar nicht eingesetzt, sondern nur speziell psychologisch ausgebildetes Personal«, erläuterte er weiter.

»Was genau sind denn „Residentials“?«, wollte ich nun wissen. »Wo sind sie untergebracht, wie viele gibt es und auf welche Weise wird sichergestellt, dass wir bei ihnen nicht zum Einsatz kommen werden?«

»Es gibt ein größeres Gebäude etwa ein bis zweihundert Meter hinter dem Hauptgebäude, in dem bis zu fünfzig jugendliche Delinquenten in Einzelzellen untergebracht werden können. Tagsüber haben sie Ausgang und dürfen an Aktivitäten des Camps teilnehmen, nachts werden ihre Zellen verschlossen und überwacht. Es gibt speziell geschultes Personal zur fachgerechten Betreuung der „Residentials“«, beschrieb Bob.

Wir schauten uns entsetzt an und waren sprachlos. Das mussten wir nun erst einmal „verdauen“, zusammen mit jugendlichen Kriminellen in einem Camp – was für ein Albtraum, dachte ich.

Am Abend diskutierten Chris, Nolan und ich wie wir mit der Situation und den neuen Erkenntnissen umgehen sollten.

Nolan meinte: »Ach, es wird schon nicht so schlimm werden. Ich vertraue der Leitung des Camps, die betont, dass nur im Ausnahmefall schwierige Kinder unter den Teilnehmern sind. Die werden uns schon unterstützen, schließlich wissen sie, dass wir nicht über eine fundierte pädagogische und psychologische Ausbildung verfügen.«

»Ja, die Campleitung wird wahrscheinlich wieder sagen: macht euch keine Sorgen, der „Herr“ wird euch helfen!«, spottete Chris.

»Vielleicht hat Christine die richtige Entscheidung getroffen und wir sollten es ihr gleichtun?«, fragte ich in die Runde.

Nach längerer Diskussion beschlossen wir, uns erst einmal den Herausforderungen zu stellen. Sollten wir nach Ankunft der Kinder feststellen, dass wir auf die sich stellenden Situationen nicht ausreichend vorbereitet oder zur Wahrnehmung der Aufgaben nicht hinreichend qualifiziert sein sollten, könnten wir uns immer noch an die Organisation wenden, die uns vermittelt hat und um einen Wechsel in ein anderes Camp bitten.

Am nächsten Morgen reiste Christine ab. Chris und ich gingen nach dem Frühstück hinüber zum Parkplatz vor dem Hauptgebäude, um uns von ihr zu verabschieden. Als sie gerade in ihr Auto einsteigen wollte, sah sie uns, kam noch einmal zu uns herüber und sagte:

»Ich wünsche euch alles Gute Jungs und vor allem, dass es für euch nicht so schlimm werden wird, wie ich befürchte. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass ich für mich die richtige Entscheidung getroffen habe. Wenn ich im Camp bleiben würde, um als Betreuerin zu arbeiten, würde ich um Leib und Leben fürchten!« Sie umarmte uns kurz und ergänzte: »Es war schön, euch hier zu treffen. Haltet die Ohren steif!«

»Machen wir!« antworteten Chris und ich.

Wir verabschiedeten uns von Christine und wünschten ihr alles Gute. Mich erfasste ein mulmiges Gefühl, als ich sie mit ihrem Wagen davonfahren sah. Hatten wir die richtige Entscheidung getroffen oder war sie es, die richtig entschieden hatte?

Es war ein wunderbarer Morgen mit strahlendem Sonnenschein und klarem blauen Himmel. Das Gras war noch mit einer sanften Tauschicht bedeckt und in der Entfernung war über dem Boden ein leichter Nebelschleier erkennbar, der sich, vom hellen Sonnenlicht erwärmt, langsam aufzulösen begann. Die Morgenluft war angenehm kühl und erfrischend auf der Haut. Ich genoss die friedvolle, sanfte Stimmung. Über dem Camp lag eine wohltuende Stille. »Sollte es nur die Ruhe vor dem Sturm sein?«, fragte ich mich…

An diesem und an den folgenden Tagen gingen wir brav zu den Schulungen und harrten der Dinge, die da kommen mögen.

Summer Camp Amerika

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